Wochenschau: Ein klaffendes Sommerloch voller Dunkelheit

Das Sommerloch erreicht seine größte Ausdehnung. Während die einen ihren Urlaub beenden, beginnt man anderenorts erst damit, die Koffer zu packen. Auch die Gruftis befinden sich im Konzertfieber oder Festival-Dauerstress, bereisen ferne Länder oder lassen auf andere Weise die schwarze Seele von der Liane baumeln (Gruß an die Nerds in der Wildnis!). Kalkweiß geschminkte Gesichter stehen im Wettkampf mit sonnengebräunter Haut, eine Unachtsamkeit bei der Gesichtsverschönerung um die natürliche Bräune abzudecken und schon sieht man aus wie ein Gothic-Pandabär auf der Suche nach der nächsten Bambusstaude. Sowieso endet die edle und todesähnliche Ästhetik an Hals, Armen und Händen, wenn man nicht im Ganzkörperoutfit schwitzen möchte. Der Sommer ist nicht die richtige Saison für unsere Subkultur, ehrlich nicht. Ein inhaltliches Loch können wir derzeit allerdings nicht vermelden, Planet Gothic ist dank gefülltem Veranstaltungskalender in einer aufgeregten Taumelbewegung und auch viele Beobachter fühlen sich berufen, wieder über die Szene zu berichten.

40 Jahre Gothic-Bewegung: Als die Dunkelheit zum Trend wurde | TAZ

Besondere Beachtung verdient sich einer der Eingangs erwähnten Beobachter, Oliver Tepel von der TAZ, der die Eröffnung des Batcave-Clubs in London am 21. Juli 1982 zum Anlass nimmt, sich über die Gothic-Bewegung zu ergießen. Komprimiert, aber völlig zutreffend, fasst er zusammen, was seit 1982 passiert ist und wo die Szene heute steht. Allerdings wird er der Szene durch ihre simple Degradierung zu einer „aus einem Clubtrend entstandenen Gothic-Bewegung“ aus meiner Sicht nicht gerecht. Völlig falsch ist das zwar nicht, doch Gothic war neben einem immer wiederkehrenden Trend der Popkultur auf den Tanzflächen der Nation auch eine Form von gelebtem Gefühl, abseits von Clubs, Konzerten und aktuellen Selfie-Eskapaden. Die Bewegung hat sich nicht nur musikalisch weiterentwickelt, sondern auch inhaltlich.

Zwangsläufig, will ich meinen, denn nach einer Dekade „Trend“ diesem immer noch hinterherzulaufen ist möglicherweise ein Armutszeugnis der eigenen Auffassungsgabe und der fehlenden Motivation, über den Tellerrand hinaus zu blicken. Am langen Ende bleibe ich mit Oliver Tepel bei einer Ansicht: „Man könnte denken, seine Identifikationskraft habe Gothic als Clubkultur zugunsten einer Lebenseinstellung zerstört, doch vielleicht stimmt genau das Gegenteil: 40 Jahre Lebenswelt voller Stilwandel und immer noch verlästert von den Hütern des feinen Geschmacks, dieser Triumph war keiner anderen Bewegung des Popzeitalters beschert.

Die daraus resultierende Abgrenzung ist ein essentieller Bestandteil der Szene. Früher als Grabschänder gefürchtet, heute als Sexy Gothic-Engel im Gummioutfit „verlästert“.

Die Szene trotzt seit 40 Jahren dem gebetsmühlenartig angedichteten „Tod“. Sie schlägt sich wacker gegen die Vereinnahmungen durch Modedesigner und Gesellschaft, die in schwarzen, mittelalterlichen oder blutverschmierten Klamotten eine Form der Fremd- und Selbstinszenierung feiern. Die Szene trotz einer Berichterstattung, die stets versucht, zu simplifizieren oder skandalisieren, worum es sich im Gothic-Universum drehen kann. Ja, da hat er recht, wir „trotzen“ mit stoischer Gelassenheit, augenscheinlicher Arroganz und feiner Selbstironie dem popkulturellen Streben nach Stil.

Seine Identifikationskraft hat Gothic noch lange nicht verloren, als „dunkle Clubkultur“ bietet es seit 40 Jahren jedem einen äußerlichen Zugang zum einem ausgefallenen Outfit mit dem „verruchten Gefühl der Subkultur“ auf nebelgeschwängerten Tanzflächen bei cooler Musik. Gothic bietet aber auch die Möglichkeit den Wochenendgrufti spannende Flausen in den Kopf zu setzen, um daraus eine Lebenseinstellung wachsen zu lassen. Gründe die Welt traurig, melancholisch oder resigniert zu betrachten, bieten diese Zeiten haufenweise.

Last but not Least: Danke für einen sehr spannenden und anregenden Artikel über die Szene, der – wie man offensichtlich an meinen Ausführungen erkennen kann – zum Nachdenken anregt. Es ist selten geworden, dass differenzierte Sichtweisen und Perspektiven über die Szene das Tageslicht erblicken. Gerne mehr davon.

„Fällt aus“ statt „Sold Out“: Was man über das Konzertjahr 2022 wissen sollte | Musikexpress

Sehr spannender Artikel über das aktuelle Jahr, das zwischen Konzert-Wahnsinn und tief empfundener Skepsis Veranstalter und Künstler vor ganz neue Herausforderungen stellt. „Nein, wenn man genau hinsieht, dann wird schnell klar: Wir erleben hier nicht den Status von vor der Pandemie. Dieses ganze „Volle Hütte überall“-Gefühl, was sicher nicht nur mich beim Aufenthalt in den Sozialen Medien befällt, ist lediglich eine Suggestion, ein Ausschnitt, der nicht wiedergibt, was gerade für ganz viele Künstler*innen eine bittere Pille darstellt. Fakt ist vielmehr: Wer keinen unmittelbaren Hype oder das ganz große Standing hat, geht bei dem (vermeintlichen) Event-Bock des Publikums leer aus. Viele Venues bleiben dieser Tage leer, den allermeisten Acts dürften bei den Ticketverkäufen mitunter die Hälfte, wenn nicht mehr, fehlen. Auch diverse gut besetzte Festivals, die nicht gerade „Rock Am Ring“ sind, werden abgesagt.“ Ein schwindender Markt, befeuert durch Corona, gestiegene Preise und ein Überangebot an Bands, Festivals und Veranstaltungen tun sich gegenseitig nicht gut.

12.500 Gothics feiern auf Amphi-Festival: So mischen Promis in der „Schwarzen Szene“ mit | RTL

Das Amphi-Festival ist zurück! Auch in Köln hat man sich wieder schwarze Farbe in den Tanzbrunnen geschüttet und ein aufregendes Line-Up zusammengestellt! Ich hoffe, jetzt haben einige schwarze Seelen gezuckt, denn bis auf die üblichen Verdächtigen, die gefühlt auf jedem schwarzen Festival auftreten, war nur vereinzelt gesät spannende Bands zu finden. Dafür hat sich RTL den „Promis in der schwarzen“ Szene gewidmet – Nino de Angelo, Joachim Witt und Alexander Wesselsky und kommt zu dem Ergebnis: „Schlagersänger, Auto-Checker, Mittelalter-Fans, Cybergothics. Die „Schwarze Szene“ ist eine große Gemeinschaft, bestehend aus unterschiedlichen Charakteren mit vielen Interessen. Das repräsentieren nicht nur die drei erwähnten Promis, sondern auch die Fans, die am Wochenende beim Amphi Festival feiern. Alle miteinander, ohne Vorurteile.“ Verdammt, ich will meine Vorurteile zurück!

Black Friday: A Return to the World’s Biggest Goth Festival | It’s Black Friday

Frau Freitag war nach Pandemie und der Geburt ihres ersten Kindes wieder einmal auf dem Wave-Gotik-Treffen zu Gast und bringt einen persönlichen Rückblick mit. Der ist logischerweise geprägt von Baby-Content, denn die kleine Freitag ist wirklich überall dabei und dürfte maßgeblich den Tagesablauf bestimmt haben. Bei so einer frühkindlichen Prägung gibt es nur zwei Möglichkeiten für ihre spätere Entwicklung. Entweder, sie tritt als „Born-Goth“ in Mutters spitze Fußstapfen oder rebelliert als Jugendliche und ärgert Black Friday dann mit dem genauen Gegenteil. Wobei wir noch definieren müssten, was das genaue Gegenteil ist.

Dr. Martens jetzt im Style von „Goonies“, „Lost Boys“ und „Beetlejuice“ | Dr. Martens

Wieder einmal eine Verwurstung von Film zu Schuh-Designs, so wie es Vans bereits vor einer Weile gemacht haben. Diesmal widmen sich die ehrwürdigen Dr. Martens dem Thema 80er und greifen die Filme „Goonies“, „Lost Boys“ und „Beetlejuice“ in Form von Schuhen auf. Offensichtlich hat man beim Rechteinhaber „Warner Bros.“ Gefallen daran gefunden, alte Kult-Filme auf Schuhe drucken zu lassen. Ich bin gespannt, wann H&M mit T-Shirts glänzen aus der Reihe glänzen wird. Die Schuhe, die es als Halbschuh und als Stiefel gibt, liegen zwischen 169 und 199 €. Und ja, ich steh auf so einen Kram :)

Sommerloch-Gothic-Hitzetipps!

Kommen wir zurück zum Sommer und verteilen ein paar „Tipps“ für ein pfiffigeres schwarzes Leben bei brütender Hitze und stechender Sonne. Anothermag schiebt es auf die richtige Klamottenwahl und rät, auf Ärmel zu verzichten und sich Löcher in die Kleidung zu schnippeln. „How to Survive the Heatwave as Goth“ dürft ihr auch gerne nicht anklicken. Viel spannender macht es Neutrogena, die bringen einfach eine Sonnecreme mit Lichtschutzfaktor 250 heraus: „We want our customer base to know that no matter what skin tone or subculture you are we view you as worthy of being safe from the sun’s harmful UV rays. After many failed attempts we were able to perfect our newest formula which is an SPF 250 and able to withstand the harsh demands of goths,” stated Neutrogena scientist Leif Forstfodd.“ Den ganzen – nicht ganz ernst gemeinten Artikel findet ihr bei The Hard Times. Aber eigentlich wollte ich nur zu diesem Video überleiten:

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Norma Normal
Norma Normal(@normanormal)
Vor 2 Jahre

Wochenschautechnisch kann man sich in der Tat nicht über ein Sommerloch beklagen, mal wieder sehr ansprechende Artikel und Links ausgesucht.
Goth Beach gefällt mir musikalisch zwar nicht so, aber das Video macht mir echt gute Laune. Ich bekenne mich zum Beach Goth, natürlich nur mit Lichtschutzfaktor 666, schwarzer Luftmatratze und schwarzem Sonnenschirm.
Ein sommerlicher Kulturtipp wäre noch der gestern im Kino gestartete Film „die Magnetischen“. Ein französischer Film der Anfang der Achtzigerjahren spielt, mit waviger Musik…trifft bei mir voll ins „Schwarze“. Hoffe er läuft in einem Open Air Kino in meiner Nähe.

Durante
Durante(@durante)
Antwort an  Norma Normal
Vor 2 Jahre

Hatte die taz auch besprochen, klang sehr interessant. :)
https://taz.de/Vincent-Cardonas-Film-Die-Magnetischen/!5867552/

Durante
Durante(@durante)
Vor 2 Jahre

Der taz-Artikel war wirklich gut, wollte dich eigentlich nach dem Lesen auf selbigen hinweisen Robert… aber hab es dann vergessen. :(
Gut dass auf dich Verlass ist und du mich nicht brauchst um sowas zu finden! ;)

Markus
Markus (@guest_61444)
Vor 2 Jahre

Im Zusammenhang mit Goth-Urlaubskultur würde mich mal mehr Wissen interessieren über die in den USA angebotenen Gothic-Cruises, also Klientel-spezifische Hochsee-Kreuzfahrten, die es auch für viele andere Subkulturen, z.B. Metaller, geben soll?

In meiner jugendichen Albernheit stelle ich mir ein großes Frachtschiff vor, in dessen Laderaum statt Kabinen unzählige Särge ordentlich aneinandergereiht stehen, während sich die Fahrgäste tagsüber bevorzugt unter Deck aufhalten, um einer grotesk gesund wirkenden Bahama-Beach-Bräune zu entgehen?

https://gothiccruise.com

Letzte Bearbeitung Vor 2 Jahre von Markus
Orphi
Orphi(@orphi)
Editor
Antwort an  Markus
Vor 2 Jahre

Da hatte Robert vor langer Zeit mal was drüber geschrieben: https://www.spontis.de/schwarze-szene/auch-die-brauchen-mal-urlaub-goth-cruise/

Gruftfrosch
Gruftfrosch(@gruftfrosch)
Vor 2 Jahre

Über den TAZ-Artikel war ich auch gestolpert, aber ich sehe, du warst schneller.

„…ärgert Black Friday dann mit dem genauen Gegenteil. Wobei wir noch definieren müssten, was das genaue Gegenteil ist.“

Na was wohl…HipHop und dazu quietschbunte Oversize-Klamotten. ;-)

Graphiel
Graphiel(@michael)
Antwort an  Gruftfrosch
Vor 2 Jahre

Oh my Goth. jetzt habe ich Bilder im Kopf, wo ihr Knirps in schlabberigen Jogginganzug und mit umgedrehter Baseballkappe vor ihr steht und sie mit den Worten: „Ey jo alde, Wat geht ab ey?“begrüßt. xD

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