Wochenschau #3/2019: Die eigene Meinung vor dem virtuellen Abgrund

Der Fall Rammstein hat die Empörungskultur im Netz eindrucksvoll entlarvt. Wenn sich das Internet erst mal empört hat, gibt es keine Diskussion mehr. Ein winziger Schnipsel aus Rammsteins Video „Deutschland“, über das Spontis ausführlich berichtet hat, löste, noch bevor das ganze Video überhaupt zu sehen war, eine Welle der Empörung aus. Die Mitglieder der Band als KZ-Gefangene am Galgen? Geht gar nicht! Dem Impuls der FB-Lemminge, möglichst direkt mit einer Meinung zu allem zu glänzen, folgten auch recht schnell die Medien, die umgehend Statements und Stimmen von denen einholten, die dazu einfach etwas sagen müssen. Als dann das Video in seinem gesamten Kontext zu sehen war und klar wurde, dass die recht eindimensionale Betrachtung dem Werk nicht gerecht wurde, suchten die Meinungsmacher schnell nach untermauernden Argumenten für die bereits in die Tastatur gehämmerte Meinung, seien sie auch noch so absurd. Die eigene Meinung ändern? Niemals! Zugeben, vorschnell geurteilt zu haben? Hab ich doch gar nicht! Manchmal wünschte ich, die Meinungs-Lemminge würden die Geduld besitzen, einen Schritt aus der Reihe zu machen und zu schauen, wo der virtuelle Abgrund, in den die anderen alle springen, hinführt. Was mich die letzten Wochen sonst noch beschäftigt hat, lest ihr jetzt in der aktuellen Wochenschau:

Eine schwarze Sängerin steht auf Nazikram, findet das aber nicht politisch. Ist das okay? | Bento

Noch bevor Rammstein eine schwarze Schauspielerin zur Galionsfigur ihres neuen Songs „Deutschland“ machten, interviewt das Format Bento Jadu, eine schwarze Sängerin mit einer Vorliebe für Nazi-Uniformen. „Jadu kommt in Uniform. Natürlich. Eigentlich wollten wir sie am nachgebauten Führerbunker in Berlin treffen, ihr Management legte das Treffen aber lieber in ein Kreuzberger Café namens „Tante Emma“. Sonst ist die Sängerin eigentlich nicht so zurückhaltend mit Anspielungen auf die Nazizeit: Jadu, 30, trägt in ihren Videos gern eine SS-Uniform und singt auf ihrem Debütalbum „Nachricht vom Feind“ eine liebevolle Ode an Adolf Hitler – aus der Perspektive von Eva Braun. Und deswegen sollte dieser Text hier zu Ende sein. Wäre die Künstlerin nicht: schwarz.“ Leider hinkt das Werk der Sängerin deutlich hinter den Erwartungen zurück. Eine paar Ohren in einige ihrer Songs offenbaren viel Provokation, wenig Inhalt. Plumpe ästhetische Polemik würde ich sagen.

H&M und Nine Inch Nails: NIN-Klamotten for the masses | Volt Magazin

Offenbar geht Trent Reznor die Kohle aus, denn bei H&M gibt es die ersten Kleidungsstücke mit dem Logo der Nine Inch Nails. Das Volt Magazin schreibt dazu: „Im Regal neben dem weißen Hoodie mit „Unknown Pleasures“-Radiowellen liegt aktuell ein schwarzer Kapuzenpullover mit NIN-Logo auf der Brust und dem Nine-Inch-Nails-Schriftzug auf dem Ärmel. Bootlegs sind dies natürlich nicht, sondern 1A lizensierte Produkte. Abgesehen davon, dass Trent Reznor in den Neunzigern nicht im Traum eingefallen wäre, einem Deal mit H&M zuzustimmen…

‘Punk’: Johnny Rotten, Marky Ramone Spar at ‘Off the F–king Rails’ Documentary Event | Rolling Stone

Johnny Rotten, der schwer gealterte Sänger der Sex Pistols, macht seinem Ruf als Punk alle Ehre. In einem Panel, das man anlässlich einer neuen Punk-Doku veranstaltete, wetterte der offenbar beschwipste Rotten gegen die anwesenden Star-Gäste: „At the SIR Studio in West Hollywood Monday night, a panel discussion of punk-rock icons devolved into filth and fury — what better way to  honor the Epix network’s new docuseries, Punk, which premieres on March 11th? At the heart of the disruption was John Lydon (a.k.a. Johnny Rotten). The Sex Pistol sparred with Marky Ramone and Henry Rollins while the genre’s other icons watched with smirks and wide eyes.

Chinesische Goths solidarisieren sich durch massenhaften Selfies im Gothic-Look | Deutschlandfunk

In China solidarisieren sich offenbar gerade viele junge Leute mit einer Frau, die in der U-Bahn von Sicherheitskräften dazu aufgefordert wurde, ihr „Goth-Makeup“ zu entfernen. „Die Begründung: Ihr Look sei „fürchterlich“ und „problematisch“. So könne sie nicht mit der Bahn fahren.“ In chinesischen Netzwerk Weibo – sowas wie eine Mischung aus Twitter und Facebook – solidarisiert man sich: „Durch das chinesische Netzwerk Weibo geht gerade ein Hashtag: #为广州地铁发自拍 – das bedeutet so viel wie: „Macht Selfies für die Guangzhou Metro“, bei uns heißt der Hashtag #ASelfieForTheGuangzhouMetro. Unter dem Hashtag finden sich Bilder von Menschen in Gothic-Montur. Sie protestieren damit gegen Diskriminierung – und solidarisieren sich mit einer Frau aus der chinesischen Hafenstadt Guangzhou, einer Großstadt mit rund 15 Millionen Einwohnern.“ Die Metro-Gesellschaft hat sich inzwischen öffentlich entschuldigt, doch die systematische Beobachtung und Gefährdungsbeurteilung dortiger Jugendkulturen bleibt. (Vielen Dank an Wiener Blut)

Nightclubbing: Planet X and Liverpool’s Post-Punk Era | Red Bull Music Academy

Die Discothek Planet X war in den Frühzeiten der Goth-Bewegung einer der wichtigsten Schmelztiegel außerhalb von London. In Liverpool eröffnete die heute 70-jährige Doreen Allen 1983 den legendären Club, den sie bis 1993 führte. Andi Harriman erzählt ihre Geschichte in einem sehr schönen Artikel: „Doreen Allen has lived in the same flat for nearly four decades. It’s a place where Morrissey once stopped for tea, and where Andrew Eldritch called to offer Wayne Hussey an audition to join the Sisters of Mercy. For most people, her hometown of Liverpool, a northern English port city beside the River Mersey, will always be associated with the globe-conquering rock & roll of the Beatles. Allen, however, nurtured an altogether different movement there – one characterized by elaborate backcombed hair, ripped fishnet and the do-it-yourself mentality of the post-punk era.

Irokese und Sicherheitsnadel – Punks im Visier der Stasi. Eine Diskussion in Chemnitz | BstU

Die meisten Jugendkulturen, die sich in der DDR vor allem durch ich Äußeres vom Rest der Masse abhoben, standen unter Beobachtung der Stasi, eben weil sie aussahen, wie sie aussahen. In einigen sah man sogar eine Gefahr für den Sozialismus, so wie in den Punks. „Punkerin Kim Pickenhain konnte sich in den gesellschaftlichen Verhältnissen der DDR nicht verwirklichen. Obwohl sie und ihre Freunde nur auffallen, anders und eigen sein wollten, wurde die Punk-Szene durch das MfS politisiert. Daher stellte sie einen Antrag auf Übersiedlung nach West-Berlin. Doch jenes Anliegen wurde ihr zunächst verwehrt. Bis sie im Juni 1985 plötzlich die DDR verlassen musste. Ihre Abschiebung in den Westen war aus Sicht der Herrschenden „die beste Lösung“ gewesen, erinnert sich Kim während des Gesprächs mit dem Chemnitzer Publikum: „Die Stasi dachte ja, wenn sie mich los wird, dann ist sie das Punk-Problem los„.

Negativ-Dekadente Jugendliche in der DDR
Die Beschreibung der Grufties: „…aus Heavy-Szene hervorgegangen, in Feindschaft zu diesen, Verherrl. von Gruseleffekten, Satans- u. Todeskult, Anhänger der Gruppe „The Cure“. Schwarz oder weiß gefärbtes, nach allen Seiten stehendes Haar, weiß gepudertes Gesicht, schwarze Kleidung. Tragen von Symbolen wie Kreuzen verkehrt herum getragen. Totales polit. und gesellschaftliches Desinteresse. Kaum op. Anfall. öffentl.-wirksamk. durch Sammeln von Grabutensilien, z.T. Grabschändungen, ruhig, von anderen Jgdl. abgekapselt.
Quelle: Erscheinungsformen „negativ-dekadenter“ Jugendlicher
Signatur: BStU, MfS, BV Erfurt, KD Weimar, Nr. 1362, Bl. 30

Gothicband konzertierte in Gelsenkirchener Trauerhalle | WAZ

Man sollte ja nicht meinen, dass man 2019 ungestraft und unbeachtet als Gothic durch das Ruhrgebiet laufen könnte. Bei einem Konzert von Persephone in einer Gelsenkirchener Trauerhalle sahen das jedoch einige Gäste gegenüber der Zeitung anders: „‚Der Friedhof ist natürlich die perfekte Location‘, erklärt ein Gast, der gemeinsam mit einer Gruppe von Freunden aus dem gesamten Ruhrgebiet angereist ist. Namentlich genannt werden will allerdings keiner von ihnen. Zwar kleiden sich Anhänger der Gothic-Szene teilweise sehr auffällig (düstere Gewänder, silberner Schmuck, Schminke oder auch Kontaktlinsen), jedoch sehen sie sich aufgrund ihres extravaganten Kleidungsstils häufig Vorurteilen ausgesetzt und wollen lieber anonym bleiben.

Ausstellung „BEYOND“ im Berliner Collectors Room zeigt Kunst über das Jenseitige | ME-Berlin

Praktikantin Maxi Kling vom eben genannten Ausstellungsort schickte mir neulich eine Nachricht. „Das Nachdenken darüber, was nach dem Leben kommt und die eigene Endlichkeit ist ein universales und zeitloses Thema. Die Ausstellung „BEYOND“ zeigt vom 10. April bis 18. August 2019 sieben internationale künstlerische Positionen aus der Olbricht Collection zum Thema Jenseits. In den separat inszenierten KünstlerInnenräumen werden die einzelnen künstlerischen Ausdrucksformen Malerei, Skulptur, Video, Installation und Grafik deutlich. Während die Darstellung von Qual und Tod ganz konkret die Vergänglichkeit irdischen Lebens verbildlicht, bewegen sich mythische Scheinwelten zwischen Hier und Dort, Katastrophe und geträumter Schönheit, zwischen Diesseits und Jenseits. Dabei ist das Jenseitige immer auch ein Darüber-Hinaus, der Verweis auf ein Mehr, das es zu erreichen, zu verstehen oder zu entdecken gilt.“ Nette Praktikantin! Der Eintritt kostet kleine 8€ und ermäßigt sogar nur 4€ – Für Berliner Verhältnisse ein Schnapper.

Adams Family Halloween | MGM

Erster Trailer zum neuen Film der Addams Family, diesmal vollständig aus dem Computer.

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Durante
Durante(@durante)
Vor 5 Jahre

@“Der Fall Rammstein“: Früher, als halbstarkes „Computerkind“*, dachte ich mal naiv das Internet würde die Welt besser machen. Menschen bilden, Grenzen und Vorurteile abbauen, die Welt demokratischer und „horizontaler“ machen…
Heute denke ich mir die Menschheit ist im Großen und Ganzen für dieses Medium noch gar nicht bereit – nicht mal ansatzweise. Viel zu geringe Medienkompetenz, zuviel Aggressionspotential & Hass, …
(*War irgendwie auch schön damals: Fast nur „Nerds“ (damals „Computerfreaks“) online, keine Plattform-Zentralisierung, kein Facebook, keine Dauerbespitzelung durch Google, kein twitternder Trump, keine ständigen Shitstorms und seitenweise Hasskommentare überall… Natürlich gab es auch da Idioten, aber das allgemeine Niveau im Netz war imho dennoch ein völlig anderes.)

@“Jadu“ & „Eine schwarze Sängerin steht auf Nazikram, findet das aber nicht politisch. Ist das okay?“ -> Ich weiß nicht ob es Zitat Bento „OK“ ist oder „geschmacklos“ oder nicht… bescheuert, das ist es definitiv. ;)
(Ein Lied an Hitler von Eva Braun wäre aber generell bescheuert, dass die Dame schwarz ist macht das ganze einfach nur noch skuriler.)
„Uniformfetisch“? Die Nummer mal wieder. Klar sowas gibts und das ist an sich ja auch völlig ok, aber das ist jetzt nicht unbedingt ne Erklärung für das oben erwähnte Lied oder ihren Titel „Blitzkrieg“… *facepalm*
Letztendlich will sie wsl. um jeden Preis provozieren um bekannt zu werden, geht wohl wie leider (fast) immer um Geld und/oder „Ruhm“ (dgl. wird Rammstein natürlich auch vorgeworfen, ich weiß – Aber selbst wenn -> machen die ihren Job in jeder Hinsicht besser & niveauvoller als „Jadu“ ;) ).
Und es funktioniert ja auch, ohne den dämlichen Nazi-Quatsch hätte ich von der Dame sicher nie irgendwo irgendeine Notiz genommen.

(btw @Zitat: „Im Regal neben dem weißen Hoodie mit „Unknown Pleasures“-Radiowellen…“ -> Ist mir auch in letzter Zeit häufiger aufgefallen, dass viele aktuell dieses Motiv tragen ohne Joy Division überhaupt zu kennen. Traurig sowas… :( )

Auseklis
Auseklis (@guest_57799)
Vor 5 Jahre

Der NIИ-Pulli geht Hand in Hand mit Captain Marvel. Das kann kein Zufall sein. Als ich vor Wochen den Film sah, ahnte ich schon, dass da irgendwas auf uns zurollt.

Etwas ähnliches hatte ich bei den Smiths erwartet (Bumblebee), aber Morrisseys nüchterne „political incorrectness“ hat einen Trend dieser Art vermutlich verhindert (obwohl man sagen muss, dass die Alben immer noch gut weggehen)..

Schöner Bericht über Punk im Sozialismus. Dasselbe geschieht mit Punks unter dem Banner der Mondsichel, siehe z.B. das mutmaßlich „moderatere“ Indonesien. Ganz im Sinne Gabi Delgado-López‘. Dogmen sind austauschbar (Tanz den Mussolini).

Auseklis
Auseklis (@guest_57800)
Vor 5 Jahre

Nun hab ich halt auch mal reingelauscht. Eines muss man dieser Jadu schon lassen. Diese „Germanness“, die ihre Songs durchdringt, kennt man eigentlich eher von Chanteusen wie Gudrun Gut, Antye Greie-Fuchs oder Meret Becker. Wer da Ghetto-Slang und Kanaksprak erwartet, dürfte hier ziemlich überrascht sein.

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