Da sitzen wir nun. Einschläge Experten der Szene. Musikalisch, inhaltlich, ästhetisch. Draußen ist es dunkel, man hat für gruftige Atmosphäre gesorgt und die Tafel ist mit wohlschmeckenden Kleinigkeiten gedeckt. Erwartungsvoll starten wir die Dokumentation „Gothic“ von der Filmemacherin und Schriftstellerin Mitra Devi, um einen Einblick in die – sonst ziemlich unsichtbare – schweizerische Szene zu erlangen. Nachdem Bettina Böttinger in ihrer Reihe „b.sucht“ die Faszination der schwarzen Szene gefunden hat, sind wir neugierig, wie man die Szene der Schweiz zeigt, was die Protagonisten des Films zu erzählen haben und welches ästhetische Empfinden man in der Schweiz pflegt und ob es überhaupt Unterschiede zu unserer Szene gibt. Während man in der Technik noch mit den Eigenheiten der DVD kämpft , lese ich mir die Beschreibung durch: „Ein bildgewaltiger, temporeicher Film über die Schweizer Gothic Szene. Abrgründig und Humorvoll, morbid und herzerwärmend. […] Gothics erzählen über ihren Alltag, über Licht und Dunkelheit, Sinnsuche, Leben und Tod.“ Mit von der Partie sind ein Fotograf der düstere Bilder schießen soll, ein Liebespaar, das zum WGT reist, eine Autorin, die an einem dunklen Roman schreibt, eine Domina (!) die farbenfrohe Bilder malt und auch der Sänger der zur Zeit einzigen bekannten schweizer Gothic-Band „The Beauty of Gemina“ ist mit von der Partie. Wir sind skeptisch. Zu Recht.
Chris – Der Fotograf

Von den ersten Schnappschüssen auf einer Safari ist er zu „Gothic-Shootings“ gekommen, die er viel faszinierender findet als 08/15 Studiofotografie. Das beweist er uns gleich mit Model Fräulein Kassandra, die auf die Idee kam sich als Marionette darzustellen, während Chris (der Fotograf) eine etwas blutigere Idee hatte. Die Zutaten sind mittlerweile fester Bestandteil der Szene: Viel nackte Haut, Corsagen, kurze Röcke und Perücken, die mit Schminke im Gothic-Lolita-Stil abgerundet werden. Wahlweise dann auch noch mehr nackte Haut, die mit Kunstblut „verziert“ wird und durch ein Messer und ein künstliches Herz (?) abgerundet wird. „Sado-Maso„, so der Fotograf, „sagt mir nicht so zu„. Wer ist eigentlich schuld daran, dass solche ästhetischen Schrecklichkeiten als „Szenebestandteil“ etabliert sind? Chris, der Fotograf, trägt seinen Teil dazu bei. Seine merkwürdige Vorstellungen von Gothic beruhen offensichtlich darauf, Dinge möglichst böse und verrucht darzustellen und alles mögliche in eine Horror-Film Ästhetik zu tauchen.
Schwarzromantikerin Inahea ist dann schon ein kleiner Lichtblick am Horizont: „Ich gehöre dazu, das ist meine Welt. Es ist jedesmal eine Art Heimkommen. Es ist wirklich etwas tief verbundenes. In der Seele.“ Auch das gruftige Liebespaar Carmilla Noctem (Colette) und Dani, der wegen seiner großen Liebe von Deutschland in die Schweiz gegangen ist, sind dann doch irgenwie herzig und authentisch. Gut ausgesucht. Ich frage mich allerdings, wieso man sich gerade bei den Beiden dafür entschieden hat, ihren Alltag und das Berufsleben so ausführlich darzustellen. Was für eine Bedeutung hat das für die Dokumentation „Gothic“? Ich reime es mir mal zusammen: Man will den äußerlichen Unterschied zwischen Freizeit und Berufsleben zeigen, man will darstellen, wie „normal“ man dann doch eigentlich ist, das man nicht herumlungert und anständigen Berufen nachgeht. Patricia Scheurer, die Autorin die an ihrem Roman „Schwarzes Erbe“ arbeitet, ist naturverbunden, arbeitet in einem Antiquitätengeschäft und stellt in ihrem Werk die Frage: „Wie kann man sich selber treu bleiben, ohne an der Gesellschaft zu scheitern?“ Die ist jedenfalls inhaltlich voll auf der Wellenlänge auch wenn die ästhetische Abteilung in unserer illustren Runde auf die Barrikaden geht.
Die Schweizer

Au weia. Der Film ist mit kurzen Einspielern garniert, die Stimmen von Passanten einfangen sollen. Au weia! Das Bild, das hier gemalt wird, ist dann doch schon irgendwie mittelalterlich bis erschreckend. „Ich frage mich, wie die sich mit den ganzen Klammern im Gesicht am Morgen waschen?“ – „Nein, so kann man doch nicht rumlaufen – das ist ja verheerend!“ . Ich wünsche mir innig, dass der Ausschnitt nicht stellvertretend für alle Schweizer ist, immerhin gibt es ein paar die es „interessant“ finden oder sich auch vorstellen könnten „dabei“ zu sein. Die bemühten Lokal-Politiker hätte man sich an dieser Stelle schenken können, denn eine ehrliche Meinung wird man von denen vor einer Kamera sicherlich nicht zu hören bekommen. So wirkt es jedenfalls auf mich. Die lachende Frage, „Wie man mit so einer Frisur überhaupt schlafen kann“ entlarvt den Voreingenommenen.
Michael Sele – Der Sänger von Beauty of Gemina
Das neue Album „Ghost Prayers“ ist erschienen! Also jedenfalls 2014, als die Doku gedreht wurde. Anschließend erfahren wir, dass er Leidenschaft für seine Musik hat und sich in einem nicht-musikalische Elternhaus durchgesetzt hat und Gitarre lernen durfte und später auch Musik-Lehrer war. Entschuldigung, aber ich überspringe den Teil über seine Musik der Band dann doch. Darüber kann jeder Einzelne empfinden ob „Beauty of Gemina“ Gothic ist oder nicht. Auf jeden Fall behauptet Sele, dass die Szene heute viel kleiner ist als früher und dass man heute mehr auffällt als zu „…gewissen Zeiten, als man überall diese typischen Gothics gesehen hat. Heute sind die viel seltener.“ Nö, Michael. Die Szene ist viel größer geworden. Was du meinst, ist der Style wie er zu Zeiten von „The Cure“, die du als musikalisches Vorbild ansiehst, gelebt wurde. Der ist in der Tat nahezu verschwunden – oder sagen wir: untergegangen. Vielleicht auch, weil musikalische Idole nun eine andere Form von Ästhetik streuen. Hauptsächlich sehen wir aber Bandproben, Konzertmitschnitte, Studioaufnahmen und Michael Sele vor dem Klavier.
Anuschka – Die Domina

Anuschka ist Domina und strukturistische Mallehrerin. Was auch immer das eine mit dem anderen und überhaupt mit Gothic zu tun hat. Würde sie dabei bleiben und uns davon erzählen, woher ihre Eltern kommen und was sie über die Szene denkt, wäre es ja noch halbwegs interessant gewesen. Stattdessen sehen wir sie in ihrem Berufsalltag und hören krude Erklärungen, wie sie Domina geworden ist. Entschuldigung Mitra Devi, wieso muss ich mir ansehen, wie Anuschka alternde Männer auspeitscht? Wieso muss ich mir Fesselspiele mit Latexmumien anschauen? Wieso bekomme ich das Bild von ungepflegten gefesselten Füßen nicht mehr aus meinem Kopf? Liebe Frau Devi. „Sexuelle Abgründe“ sind kein Bestandteil der Szene. Waren es nie, werden es nie sein. Sexuelle Präferenzen, Fetische und Interessen basieren nicht auf einer Szene-Zugehörigkeit, sondern völlig individuell. Dieser Teil der Dokumentation „Gothic“ suggeriert, dass „Sado-Maso“ ein Teil oder eine Facette von „Gothic“ ist, was meiner Ansicht nach völlig aus der Luft gegriffen ist und einfach nicht stimmt. Es spielt inhaltlich in der selben Liga wie Fotografen, die mit Blut und nackter Haut Aufmerksamkeit generieren wollen und wie Szene-Zeitschriften, die mit „Gothic-Fetisch-Kalendern“ die Verkaufszahlen steigern wollen. Immerhin, selbst Anuschka weiß nicht, ob SM und Gothic zusammengehören. Ich denke, die SM-Szene ist eigenständig und losgelöst und irgendjemand kam auf die Idee, den schwarzen Kleidungsstil der Gothic-Szene zuzuordnen. Peitscht ihn aus!
Dave – Der Typ mit dem irren Blick
Hach Dave! Du bis mein schwarzer Sonnenschein. Nicht nur weil du so ruhig und introvertiert erscheinst, sondern auf wegen dem, was du sagst. „Psychohygiene“ ist ein wirklich interessanter Vergleich, den ich so unterschreiben kann: „Die Faszination findet bei mir auf mehreren Ebenen statt. Es fängt mit der Musik an und in diesem Zusammenhang kommt auch das Tanzen hinzu, das für mich eine Art Instrument zur Psychohygiene geworden ist. Es ist aber auch die Bildästhetik, die mich anspricht und der Kleidungsstil der Leute. Ich finde es auch schön, dass es in dieser Szene Platz für persönliche Entfaltung gibt, die im Alltag nicht so möglich sind, dass man zum Beispiel die Geschlechterrollen überwinden kann.“ Dave mag den inzwischen verstorbenen Giger, hat klare Ansichten über den Tod und die Vergänglichkeit und kennt sich in der Schweizer Clubszene bestens aus. Es muss doch noch mehr „Daves“ in der Schweiz geben!
Fazit
Fazit des Films: Man kann sein, wer man ist, man bringt sich Respekt entgegen, hinterfragt gesellschaftliche Tabus und hat nicht „den Zwang zur kollektiven verordneten Fröhlichkeit“, man ist friedlich und offen. Patricia: „Ich frage mich manchmal: Gibt es wirklich mehr Depressive, oder wird einfach mehr darüber gesprochen?“ Mein Fazit sieht anders aus. Die Szene in der Schweiz unterscheidet sich nicht von der in Deutschland. Bis auf den Dialekt gibt es keine Merkmale, die die dortige Szene kennzeichnen würden. Entweder verzichtet Devi darauf bewusst, oder sie kann keine finden. Ich hätte es persönlich spannend gefunden, die Entwicklung der dortigen Szene zu skizzieren, beginnend mit Bands wie „Grauzone“ und dem aufblühen der Züricher Szene und dem prophezeiten Sterben der selbigen.
Respekt, so der Tenor der Dokumentation, sei ein wichtiger Bestandteil der Szene. Schade nur, dass Mitra Devi diesen Respekt nicht zurückgibt und die Szene, aus der sie nicht kommt, so merkwürdig verantwortungslos darstellt. Genau solche Dokumentationen sind doch der Grund, warum immer mehr Menschen ihre Merkwürdigkeiten in die Szene mischen. Fotografen mit blutverschmierten Models und lolitahaften Marionetten, Dominas, die alte Männer schlagen, und WGT-Einspieler, die das viktorianische Picknick, das Verkleidungshighlight schlechthin, zum Highlight des Festivals erheben. Es werden Dinge gezeigt, die nichts, aber auch rein gar nichts mit der Szene zu tun haben und in so ein selbstverständliches Licht gerückt werden, dass Außenstehende sie als Bestandteil des Ganzen begreifen müssen. Wir lernen darüber hinaus, dass Schweizer Bürger verklemmt sind und dortige Szene-Gänger sich weder die Haare färben oder zurechtmachen und das „Verkleidung“ zum guten Ton gehört. Heute mal viktorianisch gewandet, dann wieder mal als Steam-Punk aus dem Katalog und weil es so schön ist, auch noch als Cyber. Die Doku zeigt meiner Ansicht nach Szene-Mitläufer ohne eigenen Stil, die ihre gelebte Andersartigkeit mit Zugehörigkeit verwechseln.
Die Protagonisten sind oberflächlich ausgewählt. Der Fokus beschäftigt sich mit Dingen, die diese Dokumentation nicht nur aufblähen, sondern auch irgendwie versauen. Minutenlang gucke ich mir an, wie ein Dach gedeckt wird, dann wie man vom „Gothic“ zur Krankenpflegerin wird, wie man Latex-Mumien fesselt und wie man in der freien Natur ein Feuer macht und Kaffee kocht. Und dann noch die Bootsfahrt! WTF? Hatte da jemand Freikarten gewonnen oder ist das wohlmöglich Sponsoring einer Bootsfahrt-Agentur? Ich hätte mir lieber 90 Minuten den Dave angeguckt, der hatte was zu erzählen. Es gab immer wieder gute Porträt-Szene, in denen die Protagonisten erzählen konnten und tatsächlich etwas zu sagen hatten, doch das ging unter in einer Flut aus unpassendem Drumherum, das Stimmung und Inhalt versaute. „Bildgewaltig und temporeich.“ Keine einfühlsame Herangehensweise an eine introvertierte und eher entschleunigte Szene. Bildgewaltig sind die landschaftlichen Zwischenaufnahmen, wir haben uns immer wieder gefreut, wenn wenigstens der Mond die Stimmung kurzzeitig erhellte.
Die Dokumentation bleibt weit hinter den Erwartungen zurück. Nach einigen Lichtblicken in letzter Zeit wieder mal ein Aufreger, der das Niveau deutlich senkt. Ich habe für das, was meiner Ansicht nach auf manchen Privat-Sender besser gemacht wird, rund 30€ bezahlt. 90 Minuten lang entsteht kein Gefühl für die Szene, keine Faszination und keine Neugier. Alles wirkt wie eine Werbebroschüre für Teilzeit-Andersartige. Sammler und Neugierige, die es trotzdem nicht lassen können, bestellen den Film hier, bitte achtet aber darauf, dass die Schweiz NICHT zur EU gehört und somit mit längeren Wartezeiten zu rechnen ist und die Lieferung schon mal ein paar Wochen auf sich warten lässt.
Nachtrag: Am 22. September 2018 starb die Filmemacherin und Krimiautorin Mitra Devi nach langer Krankheit im Alter von nur 54 Jahren. Unser Mitgefühl gilt allen Angehörigen und Freunden. (Quelle: https://www.tagblatt.ch/kultur/autorin-mitra-devi-gestorben-ld.1058044)