It’s as simple as that: Ohne queere Menschen würde es die sogenannte Gothic-Szene nicht geben. Wie in so vielen anderen (sub)kulturellen Strömungen waren Menschen aus marginalisierten Communitys auch hier die glitzernden Funken, die das Feuer entfachten. Menschen, deren Gefühl des Nicht-dazu-Gehörens so existenziell und schmerzhaft war, dass es nur in der Überbetonung der eigenen Andersartigkeit Linderung erfahren konnte.
„Transex, transform, transexy baby“ (Sigue Sigue Sputnik)
Der Urknall des Goth lässt sich ziemlich genau datieren – auch wenn andere an dieser Stelle vielleicht widersprechen mögen. Wir reden vom 6. Juli 1972. Der Tag, an dem David Bowie „Starman“ bei Top of the Pops performte und damit einen kulturellen Erdrutsch auslöste. Kaum ein*e Protagonist*in des britischen Post-Punks, New Wave, Synth Wave und Goth, die diesen Fernsehauftritt nicht Jahre später als die Initialzündung des eigenen kreativen Outputs bezeichnete.
Queer Goth: Bowie als Initialzündung einer Subkultur
Doch was machte diesen Auftritt so aufregend und prägend für eine ganze Generation? Die Antwort ist einfach: Seine offensichtliche Queerness. Die Androgynität Bowies, seine in dieser Zeit propagierte, später revidierte Bisexualität und die kleine, aus heutiger Sicht unscheinbare aber damals unerhörte Geste, beim gemeinsam gesungenen Refrain den Arm um seinen Gitarristen Mick Ronson zu legen – all das sorgte für die queere Magie, die die Bildsprache des Pop für immer verändern sollte. Unzählige Teenager vor den Fernsehern im spießigen England der frühen 70er-Jahre sahen zum ersten Mal etwas, dass ihr grundlegendes Gefühl des Nicht-dazu-Gehörens nicht nur reflektierte, sondern zu einer schillernden Superkraft erhob. „I had to call someone, so I picked on you!“
Dennoch dauerte es noch knapp zehn Jahre, bis die Saat aufging, die Bowie an diesem Juliabend im Jahr 1972 sähte. Aus Ziggys Jünger*innen wurden im weiteren Verlauf der 70er-Jahre erst Punks, dann New Romantics und schließlich Goths – oder welchen Begriff man hier auch immer verwenden möchte. Von Robert Smith über Marc Almond und Siouxsie Sioux bis hin zu eher poppigen Epigonen wie Steve Strange, Boy George, Martin Degville oder Pete Burns – sie waren es, die den Look der Goth-Szene gewollt oder ungewollt entscheidend prägten und noch heute als Referenzpunkte dienen, wenn es darum geht, das eigene Äußere zu gestalten.
Ohne Zweifel nicht alle homosexuell – allen voran Robert Smith – aber durch die Bank in ihrer Geschlechterperformance so weit vom heteronormativen Mainstream entfernt, dass sie von der breiten Masse wohl fraglos als queer gelesen wurden. Übrigens ein Phänomen, dass vor allem viele heterosexuelle Goth-cis-Männer kennen, denn bis heute wird deren Äußeres im öffentlichen Raum gerne mal mit Worten wie „Schwuchtel“ bedacht. Auch Weiblichkeiten im Post-Punk und New Wave gaben sich betont queer: Bands wie Malaria!, Künstlerinnen wie Grace Jones, Ronny, Anja Huwe oder Angie Mörth boten ein alternatives Bild von Weiblichkeit: manchmal betont butch, manchmal femme – aber immer selbstbestimmt sexuell, gefährlich, hart, scheinbar unverwundbar.
Queer Goth: Im Batcave waren Netzstrumpfhosen obligatorisch
Im weiteren Verlauf der ersten Hälfte der 80er-Jahre waren es dann schwule Männer wie Rozz Williams, die ganz selbstverständlich im Brautkleid auftraten, oder die Bands aus dem Umfeld des legendären Batcave-Clubs wie Virgin Prunes und Specimen, die in Anlehnung an die New York Dolls mit Netzstrumpfhosen und Marlene-Dietrich-Augenbrauen die queeren Looks der Gothic-Szene auf die Spitze trieben. Legendär in diesem Kontext: Das Cover-Foto der Debüt-EP von Haa Lacka Binttii aka Princess Tinymeat von 1984, das in seiner Nacktheit alle Vorstellungen von Geschlecht über den Haufen warf. Dem gegenüber standen Bands wie DAF, die mit ihrer extrem schwulen Ästhetik den Proto-EBM-Look bestimmten. Selbst betont maskuline Macho-Bands wie die Sisters of Mercy spielten mit sexueller Ambiguität, indem sie Stücke wie „Jolene“ von Dolly Parton oder „Gimme! Gimme! Gimme! (A Man After Midnight)“ von ABBA coverten.
So enterte die „schwarze Szene“ schließlich die 90er-Jahre in wogenden Gewändern aus Samt und Seide und die Geschlechtergrenzen verflogen endgültig im vor und zurück schreitenden Standardtanz der Grufti-Discos jener Zeit. Ungefähr in diesen Jahren machte sich eine neue Gothic-Ikone auf, queere Looks, queere Themen, aber auch ihre queere Identität in den Mainstream der schwarzen Szene zu transportieren: Anna-Varney Cantodea und ihr Projekt Sopor Aeternus and the Ensemle of Shadows. Keine thematisierte so unerschrocken und kompromisslos ihre eigene trans Geschlechtlichkeit, ihr Ringen mit der Gesellschaft als queere Person und ihr nonkonformes Begehren wie sie.
Ab der Jahrtausendwende bildete sich außerdem eine von Synth, Cold und Minimal Wave geprägte, oft politisierte linke Gegenkultur zur klassischen Goth-Bewegung heraus, die vor allem für queere Menschen zum neuen Anknüpfungspunkt wurde. Beides wichtige Kontraste zum immer machomäßiger daherkommenden Style einer bestimmten Seite der Szene, die auf Massen-Festivals wie dem „M’era Luna“ Cock-Rock-Mackern mit Gitarren zujubelt und auch bei Weiblichkeit ein eher heteronormatives Geschlechterbild transportiert. Ausnahmen bestätigen hier natürlich die Regel. No hard feelings.
Die schwarze Szene als Durchlauferhitzer für LGBTIQ*
Aber nicht nur wegen dieses Rollbacks ab den 00er- oder 10er-Jahren, der vor allem durch die zunehmende Vermischung mit Metal und Techno seinen Anfang nahm, ist die sogenannte „schwarze Szene“ oft eine Art Durchlauferhitzer für LGBTIQ*. Für viele queere Menschen ist sie der erste Berührungspunkt mit einer Art von Safer Space. Meist noch vor dem eigentlichen Coming-out ermöglicht sie etlichen jungen Queers, in einem geschützten Rahmen mit der eigenen Geschlechtsidentität zu spielen – vom butchigen EBM- oder Post-Punk-Style über androgyne New-Wave-Looks bis hin zum high femme und dem Drag verwandten klassischen Goth-Look mit wallenden Gewändern und pompösem Make-up. Egal wie man in dieser Szene auftritt, man stößt selten auf Irritation, wenn man nicht den gängigen Geschlechterklischees entspricht.
So ist es kein Zufall, dass man in queeren Szenen oft auf Menschen trifft, die sich in ihrer Jugend der Gothic-Bewegung zurechneten. Und auch, wenn viele LGBTIQ* die klassische Grufti-Szene nach der Festigung der eigenen queeren Identität wieder verlassen, so bleiben sie ihr doch für den Rest ihres Lebens musikalisch und emotional verbunden.
Dies ist ein Gastartikel von Jan Noll, der so bereits im Spontis-Magazin 2023 erschienen ist. Dort haben wir allerdings eine Version abgedruckt, die er später noch einmal überarbeitet hat. Dies ist die aktuelle und richtige Version. Jan Noll ist Journalist, Musiker, DJ und Veranstalter. Er schreibt für das queere Berliner Stadt-Magazin „Siegessäule“ und baut mit seinem Alter Ego „Paura Diamante“ musikalische Brücken zwischen Glamour und der Gothic-Szene.
Die Bilder in diesem Beitrag stammen von „Memphis Zuza“ der die queere Goth-Partyreihe „Dance to the Underground“ in Dublin mit der Kamera begleitet und uns diese Aufnahmen freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.