Liebes Tagebuch, ein merkwürdiges Jahr neigt sich dem Ende zu. Allerdings ist das ein rein formeller Akt, denn im Grunde genommen ändert sich ja nicht wirklich etwas. Wenn der Kalender in ein paar Stunden auf die 2021 springt, haben wir immer noch diese doofe Pandemie mit allen seinen Einschränkungen und Unwägbarkeiten, obwohl mit dem Impfstoff ja immerhin der Eindruck entsteht: „Licht am Ende Tunnels wird heller„, das sagte auch unser Bundespräsident in seiner Weihnachtsansprache. Bitte frag mich nicht, warum ich das geguckt habe.
Ich schwanke rückblickend irgendwo zwischen „Fuck You 2020“ und dem Mensch-Ärger-Dicht-Nicht-Gefühl, das ich in meinem Elfenbeinturm durchaus habe. Tatsächlich fühlt man sich doch schon ein bisschen komisch, wenn man dem Jahr 2020 auch etwas Gutes abgewinnt. Ich wollte Dir, liebes Tagebuch, einmal die Gedanken mitteilen, die ich so zum Jahr gesammelt habe, ganz fernab von den „Bildern des Jahres“, die ich allerdings der Vollständigkeit halber zum Ende des Artikels als Video einfüge. Beginnen möchte ich allerdings mit dem kürzeren Teil. Und ja, ich habe absichtlich ein englisches Video gewählt, weil „Fuck you“ irgendwie geläufiger klingt als „Fick Dich“ und weil es einfach kein ernst zu nehmendes deutsche Video gibt, das diesem Gefühl Ausdruck verleiht.
Fuck you 2020
Wollen wir also zunächst das Gefühl verarbeiten, wie scheiße dieses Jahr war. Oder sagen wir es anders, wie beschissen ich es fand, dass sich ein Corona-Virus ohne zu fragen in den Mittelpunkt gedrängt hat. Keine Festivals und Veranstaltungen, kein WGT, kein Urlaub in England, kein Mittelaltermarkt in Köln, kein Weihnachtsessen mit meiner Familie und auch keine Rückenfit-Kurse im Fitness-Studio. Echt jetzt. Die haben mir wirklich gefehlt.
Fertig. Allerdings sind meine Gedanken noch da, die ich jetzt unsortiert zum Besten gebe, einfach, um sie auch mal aufgeschrieben zu wissen. Zusammenhanglos, ungeordnet und chaotisch. Herzlich willkommen in meinem Kopf.
Meinungshygiene 2020
Es ist ein Jahr der Einsicht, liebes Tagebuch, denn nicht alles, was die Menschen öffentlich von sich geben, ist eine Meinung, die man im Sinne der Meinungsfreiheit ertragen muss. Es war schon teilweise schwer zu ertragen, die Bilder der Verschwörungstheoretiker immer und immer wieder in den Nachrichten zu sehen. Es war erschreckend, wie viele Menschen in sozialen Netzwerke auf Züge aufgesprungen die in Richtung gequirlte Kacke unterwegs waren oder absurde Theorien als Endstation hatten.
Ich habe da gnadenlos Meinungshygiene betrieben. 164 „Freundschaften“ habe ich 2020 bei Facebook beendet. Einfach so. Ohne Ankündigung, ohne Auseinandersetzung. Die, die es gemerkt haben: Tut mir leid, dass ich nicht Bescheid gesagt habe. Ich habe mich einer Diskussion mit Euch entzogen, weil ich keinen Bock hatte zu argumentieren, wenn behauptet wird, dass irgendwo Kinderblut für eine industrielle Elite gesammelt wird, das Bill Gates die Absicht hat, Nanosonden in unsere Körper zu pumpen oder das die Regierung einer Diktatur gleichkommt. Echt jetzt. Das ist keine Meinung, das ist einfach nur Bullshit.
Tatsächlich sehe ich es mit Sorge, wie öffentliche Meinungsäußerung einen Graben zwischen die Menschen treibt. Es gehört für mich zu den Nachteilen des Internets, dass jede Meinung solange geteilt werden kann, bis sie für manche Menschen zu Fakten oder Wahrheiten werden. Ich weiß nicht, ob es ohne das Internet möglich gewesen wäre, tausende „Querdenker“ zu versammeln, die dann im geistigen Delirium durch die Innenstädte ziehen. Hilft ja nichts, liebes Tagebuch, damit müssen wir umgehen. Auch mit der Ambivalenz, dass ich hier meine Meinung in die Öffentlichkeit posaune und mich damit auf eine Seite des Grabens stelle.
Danke Merkel!
Nein, keine Ironie. Es gab 2020 weltweit kaum einen Regierungschef, der ein besseres öffentliches Bild abgegeben hat, wie unsere Bundeskanzlerin. Mutti, wie ich sie liebevoll nenne, hat stets einen souveränen Eindruck vermittelt. Und das meine ich völlig ernst. Allerdings mag ich die Partei nicht, für die sie steht. Sicher, mich regen auch manchen Maßnahmen auf, viele waren schlecht dosiert, ungünstig platziert und nicht durchdacht. Auch das Füllhorn der Finanzhilfen hat nicht immer ins Ziel getroffen. Aber ehrlich, hätte es eine andere Regierung besser gemacht? Grüße gehen an dieser Stelle an die AfD, die sich mit ihren Vorschlägen und ihrer lächerlichen Opposition (Kuss auch an die FDP) ganz von allein in die Ecke der nicht-regierungsfähigen Parteien gestellt hat.
Die Pandemie hat den Takt vorgegeben, nicht unsere Politiker. Und dann muss ich mir die geistigen Dünnbrettbohrer angucken, die bei Demonstration skandieren, sie würden in einer Diktatur leben. Häufig sogar von Menschen, die tatsächlich mal in einer Diktatur gelebt habe. Das will mir nicht in die Birne.
Mutti hat einen kühlen Kopf bewahrt und Deutschland auf gute Weise repräsentiert. Danke Merkel! Ich bin fast ein bisschen traurig, wenn sie das Ruder bald abgibt, denn es gibt in ihrem Fahrwasser niemanden, den ich mir in ihrer Position vorstellen könnte.
Ja, es fühlt sich komisch an, in meiner Hostentaschen-Rebellion als Gothic, als Skeptiker und Systemkritiker und als Liebhaber des Gefühls „ich habe eine andere Meinung“ etwas in dieser Richtung gut zu finden, aber tatsächlich sollte man auch einfach mal zugegeben, dass Rebellion 2020 ein teilweise überflüssiges Gefühl war. Aber ihr kennt das ja, irgendjemand muss ja schuldig sein.
Streaming ist keine Alternative
Streaming ist 2020 eines der wichtigsten Möglichkeiten geworden, uns zu unterhalten. Man hat versucht, ausgefallene Festivals und Diskotheken-Besuche in Form von Streams zu kompensieren, leider häufig erfolglos, wie ich finde. Denn trotz intensivster Bemühungen mancher Organisatoren, ist es eben völlig sinnbefreit zu streamen, wenn irgendwo jemand stumpf Platten auflegt. Als Hintergrundbeschallung kann das durchaus schon mal den Abend vertreiben, das habe ich mehrfach ausprobiert, allerdings ist der Rest überflüssig, weil er einfach nicht genutzt wird. Die Möglichkeiten mit den Hörern in Kontakt zu treten werden häufig sträflich vernachlässigt. Ich glaube, wenn da mehr Interaktion stattfinden würde, wäre das sicherlich auch ein Konzept, was sich über die Pandemie hinaus halten könnte.
Sicher, es ist einfach toll wie aufopfernd manche Leute Streams organisieren und umsetzen, da fällt es mir fast ein bisschen schwer, eine abwertende Meinung zu vertreten, liebes Tagebuch. Aber weniger ist manchmal mehr. Als Alternative für ausgefallene Events taugen Streams allerdings nicht wirklich. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es Künstlern wirklich hilft, wenn sie streamen, dass doch die meisten Einnahmen in den letzten Jahren über Live-Auftritte generiert wurden und nicht über Streaming-Angebote. Der Zuschauer im Netz ist es einfach gewohnt, sich kostenlos berieseln zu lassen. Wenn da ein Künstler wie beispielsweise IamX versuchen, kostenpflichtige Exklusiv-Konzerte zu etablieren, wird das eben kaum genutzt.
Konturloses Dasein im eigenen, inspirationslosen Saft
2020 war ein konturloses Jahr, liebes Tagebuch. Die Monate konnte man nur durch den Kalender unterscheiden, die Jahreszeiten nur durch das Wetter. Das Jahr hatte keine Form, keinen Geschmack und keinen Geruch. Für manchen waren das deshalb die schnellsten 12 Monate und für anderen die langsamsten 12 Monate. Auch für diese Szene war das ein komisches Jahr, denn ohne Gemeinschaftlichkeit auf Festivals, ohne Selbstdarstellung auf Treffen sah sich einige ihren wichtigen Identifikationsgrundlagen beraubt. Ich glaube, für viele war das ein ungotisches Jahr.
Auch hier im Blog gab es weniger zu diskutieren, denn es gab ja deutlich weniger, worüber man reden konnte. Jedenfalls rund um die Szene.
Und offenbar ging es vielen Menschen so. Ursprünglich bin ich davon ausgegangen, dass die Leute nun ihre viele Zeit nutzen, um Projekte umzusetzen und lang aufgeschobenes in die Tat umzusetzen. Doch leider war das Gegenteil der Fall. Ich glaube, liebes Tagebuch, ich habe unterschätzt, wie wichtig Sozialkontakte zwischen Gleichgesinnten manchmal sind. Und da alle irgendwie in der eigenen Suppe köchelten, sitze ich auch im selben Sud. Sachen, die einen interessieren, sind nicht passiert – währende Dinge, von denen ich eigentlich nichts wissen will, mein Hirn verkleistern. So wie diese hier:
Mensch ärgere Dich nicht!
Es war aber auch ein schönes Jahr. Ich war nicht shoppen, musste nicht einkaufen gehen und auch keine Getränke holen. Dafür haben wir jetzt größere Altpapier-Tonnen. Ich konnte die Anzahl unangenehmer Sozialkontakte auf ein Minimum reduzieren und wenn, dann musste ich nur die Hälfte der Gesichter ertragen. Das war schön. Ich hatte viel Zeit für ein lange vernachlässigtes Hobby, das Nerd-Sein. Ich habe 12 Spiele, die ich irgendwann mal angefangen habe, endlich durchgespielt, bin bei Assassins Creed Valhalla auf Level 400 und bei Cyberpunk 2077 im Besitz von 4 epischen, alles zerstörenden Waffen. Darüber hinaus habe ich rund 20 Liter Tränen bei voll traurigen Filme vergossen, bei denen ich bereits x-mal geheult hatte und kam in den Genuss, dass man Kino-Filme jetzt auch zu Hause genießen konnte. Eine tolle Entwicklung!
Und: Ich hatte 2020 die tollsten Leser der Welt! Vielen kamen in den Genuss eines kleinen Dankeschön-Spontis-Magazins 2020, das ich trotz des ausgefallenen Treffens veröffentlichen konnte, weil ihr so fleißig gespendet habt und weil ich auf die Hilfe von Sabrina & Sabrina zählen konnte, ihr seid toll! Ich hoffe, ich konnte Euch damit entschädigen und zumindest eine kleine Freude bereiten.
Ihr habt fleißig kommentiert und E-Mails geschrieben. 904 Mails und 1098 Kommentare sind es geworden. Ich habe versucht, alle zu beantworten. Insgesamt ein tolles Feedback. Dankeschön! Bei mir bleibt ihr von guten Vorsätzen verschont. Bleibt so, wie ihr seid.