Mein schaurig schönes Tagebuch #25: Irgendwo zwischen „Fuck you 2020“ und „Mensch ärger Dich nicht“

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Liebes Tagebuch, ein merkwürdiges Jahr neigt sich dem Ende zu. Allerdings ist das ein rein formeller Akt, denn im Grunde genommen ändert sich ja nicht wirklich etwas. Wenn der Kalender in ein paar Stunden auf die 2021 springt, haben wir immer noch diese doofe Pandemie mit allen seinen Einschränkungen und Unwägbarkeiten, obwohl mit dem Impfstoff ja immerhin der Eindruck entsteht: „Licht am Ende Tunnels wird heller„, das sagte auch unser Bundespräsident in seiner Weihnachtsansprache. Bitte frag mich nicht, warum ich das geguckt habe.

Ich schwanke rückblickend irgendwo zwischen „Fuck You 2020“ und dem Mensch-Ärger-Dicht-Nicht-Gefühl, das ich in meinem Elfenbeinturm durchaus habe. Tatsächlich fühlt man sich doch schon ein bisschen komisch, wenn man dem Jahr 2020 auch etwas Gutes abgewinnt. Ich wollte Dir, liebes Tagebuch, einmal die Gedanken mitteilen, die ich so zum Jahr gesammelt habe,  ganz fernab von den „Bildern des Jahres“, die ich allerdings der Vollständigkeit halber zum Ende des Artikels als Video einfüge. Beginnen möchte ich allerdings mit dem kürzeren Teil. Und ja, ich habe absichtlich ein englisches Video gewählt, weil „Fuck you“ irgendwie geläufiger klingt als „Fick Dich“ und weil es einfach kein ernst zu nehmendes deutsche Video gibt, das diesem Gefühl Ausdruck verleiht.

Fuck you 2020

Wollen wir also zunächst das Gefühl verarbeiten, wie scheiße dieses Jahr war. Oder sagen wir es anders, wie beschissen ich es fand, dass sich ein Corona-Virus ohne zu fragen in den Mittelpunkt gedrängt hat. Keine Festivals und Veranstaltungen, kein WGT, kein Urlaub in England, kein Mittelaltermarkt in Köln, kein Weihnachtsessen mit meiner Familie und auch keine Rückenfit-Kurse im Fitness-Studio. Echt jetzt. Die haben mir wirklich gefehlt.

Fertig. Allerdings sind meine Gedanken noch da, die ich jetzt unsortiert zum Besten gebe, einfach, um sie auch mal aufgeschrieben zu wissen. Zusammenhanglos, ungeordnet und chaotisch. Herzlich willkommen in meinem Kopf.

Meinungshygiene 2020

Es ist ein Jahr der Einsicht, liebes Tagebuch, denn nicht alles, was die Menschen öffentlich von sich geben, ist eine Meinung, die man im Sinne der Meinungsfreiheit ertragen muss. Es war schon teilweise schwer zu ertragen, die Bilder der Verschwörungstheoretiker immer und immer wieder in den Nachrichten zu sehen. Es war erschreckend, wie viele Menschen in sozialen Netzwerke auf Züge aufgesprungen die in Richtung gequirlte Kacke unterwegs waren oder absurde Theorien als Endstation hatten.

Ich habe da gnadenlos Meinungshygiene betrieben. 164 „Freundschaften“ habe ich 2020 bei Facebook beendet. Einfach so. Ohne Ankündigung, ohne Auseinandersetzung. Die, die es gemerkt haben: Tut mir leid, dass ich nicht Bescheid gesagt habe. Ich habe mich einer Diskussion mit Euch entzogen, weil ich keinen Bock hatte zu argumentieren, wenn behauptet wird, dass irgendwo Kinderblut für eine industrielle Elite gesammelt wird, das Bill Gates die Absicht hat, Nanosonden in unsere Körper zu pumpen oder das die Regierung einer Diktatur gleichkommt. Echt jetzt. Das ist keine Meinung, das ist einfach nur Bullshit.

Tatsächlich sehe ich es mit Sorge, wie öffentliche Meinungsäußerung einen Graben zwischen die Menschen treibt. Es gehört für mich zu den Nachteilen des Internets, dass jede Meinung solange geteilt werden kann, bis sie für manche Menschen zu Fakten oder Wahrheiten werden. Ich weiß nicht, ob es ohne das Internet möglich gewesen wäre, tausende „Querdenker“ zu versammeln, die dann im geistigen Delirium durch die Innenstädte ziehen. Hilft ja nichts, liebes Tagebuch, damit müssen wir umgehen. Auch mit der Ambivalenz, dass ich hier meine Meinung in die Öffentlichkeit posaune und mich damit auf eine Seite des Grabens stelle.

Danke Merkel!

Nein, keine Ironie. Es gab 2020 weltweit kaum einen Regierungschef, der ein besseres öffentliches Bild abgegeben hat, wie unsere Bundeskanzlerin. Mutti, wie ich sie liebevoll nenne, hat stets einen souveränen Eindruck vermittelt. Und das meine ich völlig ernst. Allerdings mag ich die Partei nicht, für die sie steht. Sicher, mich regen auch manchen Maßnahmen auf, viele waren schlecht dosiert, ungünstig platziert und nicht durchdacht. Auch das Füllhorn der Finanzhilfen hat nicht immer ins Ziel getroffen. Aber ehrlich, hätte es eine andere Regierung besser gemacht? Grüße gehen an dieser Stelle an die AfD, die sich mit ihren Vorschlägen und ihrer lächerlichen Opposition (Kuss auch an die FDP) ganz von allein in die Ecke der nicht-regierungsfähigen Parteien gestellt hat.

Die Pandemie hat den Takt vorgegeben, nicht unsere Politiker. Und dann muss ich mir die geistigen Dünnbrettbohrer angucken, die bei Demonstration skandieren, sie würden in einer Diktatur leben. Häufig sogar von Menschen, die tatsächlich mal in einer Diktatur gelebt habe. Das will mir nicht in die Birne.

Mutti hat einen kühlen Kopf bewahrt und Deutschland auf gute Weise repräsentiert. Danke Merkel! Ich bin fast ein bisschen traurig, wenn sie das Ruder bald abgibt, denn es gibt in ihrem Fahrwasser niemanden, den ich mir in ihrer Position vorstellen könnte.

Ja, es fühlt sich komisch an, in meiner Hostentaschen-Rebellion als Gothic, als Skeptiker und Systemkritiker und als Liebhaber des Gefühls „ich habe eine andere Meinung“ etwas in dieser Richtung gut zu finden, aber tatsächlich sollte man auch einfach mal zugegeben, dass Rebellion 2020 ein teilweise überflüssiges Gefühl war. Aber ihr kennt das ja, irgendjemand muss ja schuldig sein.

Streaming ist keine Alternative

Streaming ist 2020 eines der wichtigsten Möglichkeiten geworden, uns zu unterhalten. Man hat versucht, ausgefallene Festivals und Diskotheken-Besuche in Form von Streams zu kompensieren, leider häufig erfolglos, wie ich finde. Denn trotz intensivster Bemühungen mancher Organisatoren, ist es eben völlig sinnbefreit zu streamen, wenn irgendwo jemand stumpf Platten auflegt. Als Hintergrundbeschallung kann das durchaus schon mal den Abend vertreiben, das habe ich mehrfach ausprobiert, allerdings ist der Rest überflüssig, weil er einfach nicht genutzt wird. Die Möglichkeiten mit den Hörern in Kontakt zu treten werden häufig sträflich vernachlässigt. Ich glaube, wenn da mehr Interaktion stattfinden würde, wäre das sicherlich auch ein Konzept, was sich über die Pandemie hinaus halten könnte.

Sicher, es ist einfach toll wie aufopfernd manche Leute Streams organisieren und umsetzen, da fällt es mir fast ein bisschen schwer, eine abwertende Meinung zu vertreten, liebes Tagebuch. Aber weniger ist manchmal mehr. Als Alternative für ausgefallene Events taugen Streams allerdings nicht wirklich. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es Künstlern wirklich hilft, wenn sie streamen, dass doch die meisten Einnahmen in den letzten Jahren über Live-Auftritte generiert wurden und nicht über Streaming-Angebote. Der Zuschauer im Netz ist es einfach gewohnt, sich kostenlos berieseln zu lassen. Wenn da ein Künstler wie beispielsweise IamX versuchen, kostenpflichtige Exklusiv-Konzerte zu etablieren, wird das eben kaum genutzt.

Konturloses Dasein im eigenen, inspirationslosen Saft

2020 war ein konturloses Jahr, liebes Tagebuch. Die Monate konnte man nur durch den Kalender unterscheiden, die Jahreszeiten nur durch das Wetter. Das Jahr hatte keine Form, keinen Geschmack und keinen Geruch. Für manchen waren das deshalb die schnellsten 12 Monate und für anderen die langsamsten 12 Monate. Auch für diese Szene war das ein komisches Jahr, denn ohne Gemeinschaftlichkeit auf Festivals, ohne Selbstdarstellung auf Treffen sah sich einige ihren wichtigen Identifikationsgrundlagen beraubt. Ich glaube, für viele war das ein ungotisches Jahr.

Auch hier im Blog gab es weniger zu diskutieren, denn es gab ja deutlich weniger, worüber man reden konnte. Jedenfalls rund um die Szene.

Und offenbar ging es vielen Menschen so. Ursprünglich bin ich davon ausgegangen, dass die Leute nun ihre viele Zeit nutzen, um Projekte umzusetzen und lang aufgeschobenes in die Tat umzusetzen. Doch leider war das Gegenteil der Fall. Ich glaube, liebes Tagebuch, ich habe unterschätzt, wie wichtig Sozialkontakte zwischen Gleichgesinnten manchmal sind. Und da alle irgendwie in der eigenen Suppe köchelten, sitze ich auch im selben Sud. Sachen, die einen interessieren, sind nicht passiert – währende Dinge, von denen ich eigentlich nichts wissen will, mein Hirn verkleistern. So wie diese hier:

Mensch ärgere Dich nicht!

Es war aber auch ein schönes Jahr. Ich war nicht shoppen, musste nicht einkaufen gehen und auch keine Getränke holen. Dafür haben wir jetzt größere Altpapier-Tonnen. Ich konnte die Anzahl unangenehmer Sozialkontakte auf ein Minimum reduzieren und wenn, dann musste ich nur die Hälfte der Gesichter ertragen. Das war schön. Ich hatte viel Zeit für ein lange vernachlässigtes Hobby, das Nerd-Sein. Ich habe 12 Spiele, die ich irgendwann mal angefangen habe, endlich durchgespielt, bin bei Assassins Creed Valhalla auf Level 400 und bei Cyberpunk 2077 im Besitz von 4 epischen, alles zerstörenden Waffen. Darüber hinaus habe ich rund 20 Liter Tränen bei voll traurigen Filme vergossen, bei denen ich bereits x-mal geheult hatte und kam in den Genuss, dass man Kino-Filme jetzt auch zu Hause genießen konnte. Eine tolle Entwicklung!

Und: Ich hatte 2020 die tollsten Leser der Welt! Vielen kamen in den Genuss eines kleinen Dankeschön-Spontis-Magazins 2020, das ich trotz des ausgefallenen Treffens veröffentlichen konnte, weil ihr so fleißig gespendet habt und weil ich auf die Hilfe von Sabrina & Sabrina zählen konnte, ihr seid toll! Ich hoffe, ich konnte Euch damit entschädigen und zumindest eine kleine Freude bereiten.

Ihr habt fleißig kommentiert und E-Mails geschrieben. 904 Mails und 1098 Kommentare sind es geworden. Ich habe versucht, alle zu beantworten. Insgesamt ein tolles Feedback. Dankeschön! Bei mir bleibt ihr von guten Vorsätzen verschont. Bleibt so, wie ihr seid.

Gothic-Treffen Tecklenburg 1991 – Nostalgischer Rückblick mit Organisatorin Sandra

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Vor rund 30 Jahren hat Sandra in Tecklenburg ihr eigenes Gothic-Treffen veranstaltet. Mehr als 150 Leute sind 1991 zur Freilichtbühne in die nordrhein-westfälische Kleinstadt gepilgert, haben sich getroffen, gequatscht, fotografiert und gefilmt und unvergessliche Erinnerungen geschaffen. Sandra ist immer noch Grufti, jedenfalls irgendwie, wie sie sagt, lebt in Lengerich und arbeitet bei Nacht & Nebel Tattoo hauptberuflich als Tätowiererin. Ich habe mit ihr darüber gesprochen, wie ihre Beziehung mit der Gothic-Szene begann und wie es mittlerweile so läuft, und wie das damals war, ein solches Treffen zu veranstalten.

Wie hat denn das alles für Dich angefangen mit der Szene?

Der Auslöser war so um 1985/86. Ich lief durch die Innenstadt von Ibbenbüren, wo ich damals zur Schule ging und mir kamen zwei unfassbar krass aufgestylte Damen entgegen. Die Haare gefühlt kilometerhoch aufgestellt, wallende schwarze Klamotten, viel silberner Schmuck und ein irres Make-up dazu. Ich war geflasht und sofort verliebt!

Sandra 1991Ich wusste bis dahin nichts über diese Szene und diese Begegnung war für mich der Auslöser, danach zu suchen, herauszufinden, was da los ist. Und das war ja zu der Zeit nicht gerade leicht, so auf dem platten Land, ohne großartige Kontakte und Möglichkeiten. Irgendwann kam eins zum Anderen und ich lernte eine der beiden Damen zufälligerweise kennen, als ich schon ein Beinchen in der schwarzen Szene hatte und so um 1987/88 rum in den lokalen Diskotheken abhing. Meine damalige beste Freundin schleppte mich immer mit zur „Independance Night“ im JuZ Scheune und Waveparties ins Roxy in Ibbenbüren und so kam das alles nach und nach zustande.

Dadurch kam ich dann immer öfter auf Partys in der Umgebung und lernte schnell immer mehr Leute kennen, die Freunde wurden und für mich eine zweite Familie, eine Wahlfamilie wurden und mir das Gefühl gaben, endlich angekommen zu sein. In meiner „richtigen“ Familie war das damals nicht möglich, aber das ging wohl vielen in der Szene so, glaube ich.

Kurz darauf war ich dann auch schon in den bekannten Clubs unterwegs und zu Hause:

Zwischenfall Bochum, Lurie in Bochum, PC69 in Bielefeld, Kick in Herford, FlaFla/Spunk Herford, Schlachthof Bremen, Schacht 8 Marl, Old Daddy Oberhausen, Fabrik/New York Coesfeld oder auch im Hyde Park/Subway Osnabrück

So ziemlich jedes Wochenende fuhr man mit seiner Clique irgendwo hin und dazwischen haben eben jene Freunde eigene Partys im Osnabrücker Umland veranstaltet: Im Unicum und Works in Osnabrück und in einer Kaschemme in Mettingen, die einen Festsaal hatte: das Mephisto. Das waren wirklich richtig gute und familiäre Partys, die nachhaltig hängengeblieben sind.

1991 hast du zusammen mit Deinen Freunden ein Gothic-Treffen in Tecklenburg veranstaltet, das durch zahlreiche Videos und Bilder stets in Erinnerung der Teilnehmer geblieben ist. Wie kam es überhaupt dazu, ein Treffen zu veranstalten?

Sagen wir so: Es war eine buchstäbliche Schnapsidee. Wir waren mit der Clique unterwegs zu einer Party, ich weiß gar nicht mehr, wohin. Einer von uns hatte sich für solche Zwecke den VW-Bus seines Vaters geliehen und mit einer Busladung voller schwarzer Gestalten sind wir dann losgedüst. Unterwegs ging es auch um das Domplattentreffen und ich meinte, wir sollten so was doch einfach mal hier bei uns veranstalten. Eine passende Location kam mir sofort in den Sinn: die Freilichtbühne in Tecklenburg! Das war mein Kinderspielplatz, ich bin im Grunde genommen dort aufgewachsen. Wir wohnten in den 70ern bis Anfang der 80er gegenüber des Haupttores, meine Eltern hatten damals dort ein Restaurant. Jede freie Minute da verbracht, Sommer wie Winter.

Grufti-Treffen in Tecklenburg 1991Da die Freilichtbühne aber während der Saison auch als solche genutzt wird, kam ein Treffen nur außerhalb dieses Zeitraums infrage. Um es möglichst gruftig zu machen, entschieden wir uns für den Karfreitag 1991. Der Plan fand große Zustimmung und wir haben gleich angefangen, das Treffen gemeinsam zu organisieren.

Damals gab es keinerlei neumodischen Kram wie Internet und Smartphones, wie habt ihr die Leute damals eingeladen und auf das Treffen aufmerksam gemacht?

Flyer vom Treffen in Tecklenburg 1991Sowas machte man damals über Mundpropaganda auf den Partys, die man besuchte oder auch durch klassische Telefonanrufe bei Leuten, die man kannte. Natürlich gab damals kein anständiges Treffen ohne einen Flyer. Den habe ich mit Tusche und Feder von Hand gezeichnet. Jeder aus unserer Clique hat den dann durch diverse Kopierer gejagt, auf Partys verteilt oder auch die Bekannten geschickt, damit diese den in ihrer Clique verteilen konnten.

Wie muss man sich dein Treffen vorstellen? Gab es Bands, Musik und Merchandise?

Keine Bands, keine Händler oder irgendwas in der Art, nein. Es war eine reine Zusammenkunft von Leuten aus der schwarzen Szene. Wir haben vorher ausdrücklich darauf hingewiesen, dass jeder sich etwas zu trinken und zu essen mitbringen muss. Einige brachten Kassettenrekorder mit, damit wir auch etwas Musik hatten. Allerdings recht leise, denn schließlich war ja Karfreitag und eher als Hintergrundbeschallung.

Wir haben einfach zusammengesessen, geredet, Blödsinn gemacht und uns gegenseitig fotografiert oder sogar Video voneinander gemacht. Eins davon hast du ja auch hier im Blog vorgestellt.

UPDATE: Ein anderes Video hat mir Klaus auf dem Postweg zukommen lassen, vielen Dank dafür!

Als Andenken hatte ich allerdings noch was spezielles vorbereitet, einen Aufkleber! 1991 war ich gerade in meiner Lehre zur Schilder- und Lichtreklameherstellerin und dort hatten wir auch eine Siebdruckabteilung. Da habe ich dann eine Druckvorlage für Aufkleber erstellt. So richtig schön oldschool per Hand aus Druckfilm geschnitten und mit der Reprokamera vervielfacht, um damit später das Sieb zu belichten, falls das jemandem was sagt. Zu guter Letzt habe ich die Aufkleber dann auch noch selbst gedruckt. Die haben wir dann unter den Teilnehmern verteilt.

Die meisten Leute haben dann noch ihre Abendplanung besprochen, denn alle wollte gerne noch irgendwo feiern gehen. Ich bin mit meiner damaligen Freundin ins FlaFla nach Herford gefahren, aber als wir da irgendwann mal eintrudelten, war die Party fast vorbei und noch genau eine Flasche Herforder zu kriegen.

Klingt merkwürdig, dass man Leute ganz ohne Musik, Bands, Bühnen oder Rahmenprogramm dazu animieren konnte, so weite Strecken zu fahren. Was meinst du, warum hat man sich damals in dieser Form getroffen? 

Ich denke, das war einfach noch der damalige Zeitgeist. Internet war ja in der Form nicht vorhanden, also auch keine Social Media Plattformen, da konnte man sich eben nur analog austauschen. Und das funktionierte durch solche Treffen oder auf Partys.

Die Szene war ja durchaus noch überschaubarer als heute und auch homogener. Man kannte zwar viele Leute oft auch nur vom Sehen her, aber irgendwie wusste man, wer da wer ist. Auch Telefonflatrates gab es nicht und die meisten Haushalte verfügten nur über einen Telefonanschluss, da hat man viel Zeit damit verbracht, sich einfach nur so zu treffen, manchmal bei jemandem zu Hause und manchmal an öffentlichen Plätzen. So kam man auch für das Domplattentreffen zusammen und hatte da endlich die Möglichkeit, viele Leute aus der Szene zur selben Zeit am selben Ort zu treffen und sich auszutauschen.
Grufti-Treffen in Tecklenburg 1991

Man kannte ja Leute aus dem ganzen Land und die hat man natürlich nicht dauernd sehen können. Also waren solche Treffen eine willkommene Gelegenheit dafür. Viele sind mit Fahrgemeinschaften angereist, und übernachteten dann bei Freunden vor Ort und sowas. Das war ganz selbstverständlich.

Warum ist das heutzutage verloren gegangen?

Heute wird das alles ja schon sehr von den Möglichkeiten der Kommunikation entzaubert. Man kann ja zu jeder Tageszeit von jedem ganz leicht erfahren, was in dessen Leben so vor sich geht. Das war damals nicht so. Da konnte man bei solchen Treffen wirklich den ganzen Tag labern, ohne dass einem langweilig wurde. Man hatte immer was zu erzählen von dem, was man so in letzter Zeit erlebt hat und hat Planungen für zukünftige Partys, Konzertbesuche oder andere Aktivitäten gemacht.

Heute würde das so kaum noch funktionieren. Die Form der Kommunikation hat sich grundlegend geändert und die Erwartungshaltung an solche Treffen. Würde man sowas nochmal aufziehen, würde jeder sofort fragen, was für Bands spielen, ob man vor Ort was an Klamotten kaufen kann und so weiter. Ich denke, es wäre den meisten Leuten zu langweilig, sich einfach irgendwo hinzusetzen, zu reden, rumzualbern, dabei was zu trinken und Musik zu hören.

Wenn man damals gesagt hat: „Lasst uns doch an Tag XY da und da treffen und n bisschen abhängen!“ hat keiner gefragt, was man dann den ganzen Tag machen soll. Man hat’s gemacht. Und man hatte Spaß dabei.

Wie viele Leute sind denn letztendlich zu deinem Treffen in Tecklenburg gekommen?

Das weiß ich gar nicht mehr so genau. Das verteilte sich in einem stetigen Kommen und Gehen über den Tag verteilt. Vielleicht 150-200 Leute? Es fühlte sich recht klein, aber fein an. Außerdem darf man nicht außer Acht lassen, das es echt saukalt war, obwohl wir grundsätzlich Glück mit dem Wetter hatten. Doch das erstaunlichste war: Die Leute kamen tatsächlich von überall her! Ich hatte nicht damit gerechnet, dass das doch so weite Kreise ziehen würde, eigentlich dachte ich eher, wenn, dann kommen höchstens welche aus der Umgebung. Aber auch aus dem Ruhrgebiet, Raum Bremen, Bielefeld und teilweise Berlin kamen welche dazu und ich war echt baff, dass das so klappte!

Stichwort geklappt. Ihr habt Euch ja in der Öffentlichkeit getroffen und damals war so eine Ansammlung merkwürdiger Gestalten sicherlich auffällig. Gab es Probleme?

Nein, es war richtig schön. Alle waren wirklich darauf bedacht, keinen Stress zu machen oder irgendwelche Spaziergänger zu provozieren, die sich an diesem Karfreitag rund um die Freilichtbühne die Füße vertraten. Und da gab es natürlich einige, die uns gegenüber auch extrem, sagen wir mal vorsichtig, skeptisch waren. Zweimal kam sogar die Polizei dazu, die mal „nach dem rechten“ schauen wollte, offenbar von irgendwelchen Anwohnern gerufen. Aber selbst die waren ganz erfreut darüber, wie friedlich und stressfrei wir da waren. Wir hatten sogar Müllsäcke dabei und haben alles eingepackt und mitgenommen, quasi keine Spuren hinterlassen.

In einem alten, zugeschütteten Brunnen neben der Bühne war ein Gitter in etwa einem Meter eingelassen, dort haben ein paar Leute Äste aufgeschichtet und ein kleines Lagerfeuer gemacht, weil man sich später, als es dämmerte, langsam wirklich den Hintern abgefroren hatte. Selbst das wurde später mit Getränken gelöscht.

Ein paar Tage später wurde in der Lokalpresse behauptet, wir hätten randaliert, Vorgärten zertrampelt und solche Geschichten. Was natürlich nicht stimmte. Später stellte sich heraus, dass zur gleichen Zeit in der Nähe ein paar Biker campiert hatten und die waren im besoffenen Kopf dort unterwegs und hatten rumrandaliert. Vermutlich war es einfacher, erst mal wieder die bösen „Satanisten“ zu beschuldigen.

In den frühen 90ern steckten Gothic-Treffen noch in den Kinderpikes. Das WGT war noch nicht geboren und auch sonst traf man sich damals eher auf Festivals, die noch nicht mit dem Stempel „Gothic“ versehen waren. Gab es damals wichtige Treffen, die Dir vielleicht auch Inspiration zum Treffen in Tecklenburg geliefert haben?

Das Domplattentreffen, ganz klar! Das war ein absoluter Höhepunkt und die Reise wert!
Sonst gab es mal vereinzelte kleine Treffen, wie zum Beispiel in Berlin, wo ich damals auch war, ich glaube auch 1991 oder ’92, bin mir aber nicht mehr ganz so sicher. Zum Wave-Gotik-Treffen in Leipzig bin ich nur zweimal gefahren, beim Zweiten und Dritten. Aber seitdem zieht mich da nichts mehr hin.

Warum hast du dem Wave-Gotik-Treffen in Leipzig den Rücken gekehrt?

Es ist mir zu kommerziell. Schaulaufen und permanente Bespaßung an allen Ecken, viel zu viele Menschen auf einem Haufen für meinen Geschmack und diese Kostümierten, die sich da in den Jahren massiv reingeschummelt haben. Dann von einem Veranstaltungsort zum nächsten Hetzen, um interessante Konzerte nicht zu verpassen, die sich zeitlich überschneiden. Mir ist das alles zu viel und es würde mich mehr anstrengen, als dass ich das irgendwie genießen könnte.

Sicher, auch auf dem WGT kannst du dir deine Nischen und Cliquen suchen, aber das ist ja auch irgendwie so ein Ding von sich-ein-Refugium-suchen, damit man wieder unter seinesgleichen ist. Eben so, wie früher, nur ohne Zeitgeist oder Atmosphäre, die ein Treffen mit 50 Gruftis auf der Freilichtbühne in Tecklenburg hatte.

Ich brauche kein schwarzes Disneyland. Ich mag kleine, dunkle Clubs, vernebelte Tanzflächen, gute Musik und keine Gaffer und Partytouristen.

Könntest du dir vorstellen, noch einmal solch ein Treffen zu veranstalten? 

Nein. Das war damals eine einmalige Sache und ich glaube, die würde so auch heute gar nicht mehr funktionieren. Das fängt damit an, dass viele Leute sich nicht mehr gerne auf so was festlegen und eher spontan absagen oder gar nicht kommen würden, das sieht man ja leider schon alleine auf Partys. Das Wave-Gotik-Treffen ist da sicher noch was anderes, weil einfach ein völlig anderes Konzept.

Fühlst du dich immer noch zugehörig und würdest dich selbst noch als Grufti bezeichnen?

Irgendwie schon. Ja und nein. Meine Anfänge liegen Mitte der 80er und mein Herz gehört da auch immer noch hin. Allerdings ich bin mittlerweile nicht mehr so aktiv in der Szene unterwegs. Bis vor zwei Jahren habe ich auch in Clubs hier in der Gegend noch aufgelegt, aber auch das habe ich mittlerweile an den Nagel gehängt. Das hat aber eher etwas damit zu tun, dass meine Arbeit einfach zu zeitintensiv ist und ich das nicht mehr alles unter einen Hut bekam. Und ich wollte das nur machen, solange es mir Spaß macht, aber das wurde dann halt irgendwann einfach nur noch anstrengend.

Grufti-Treffen in Tecklenburg 1991

Das Treffen in Tecklenburg wird 30 Jahre alt und trotz der Veränderungen in Deinem Leben bist du der Szene auf die ein- oder andere Weise treu geblieben. Was würdest du sagen, wie hat sich die Szene im Laufe der Jahre verändert?

Da muss ich persönlich erst mal tief seufzen und etwas traurig gucken. Für mich hat sich da leider sehr, sehr viel zum Negativen verändert und das finde ich auch unglaublich schade. Man kann sich zwar heute noch so seine Nischen suchen, in denen man sich wohlfühlen kann, aber dieses Gemeinschaftliche, was damals noch recht stark war, das vermisse ich heute sehr. Es hat sich alles in so viele kleine Gruppen aufgesplittet. Viele Dinge, die für uns Tradgoths so gar nicht in die Szene passen, haben sich im Lauf der Jahre reingemogelt und alles aufgemischt und dazu gebracht, sich zu spalten.

Nun kann man sagen: Klar, Stillstand ist der Tod! Entwicklung ist normal und muss auch sein!

Jein. Ich kann ja nur für mich sprechen. Aber das, was ich damals in der Szene gefunden habe, wofür ich sie auch geliebt habe, das ist heute kaum noch in der Form vorhanden. Vielleicht ist das auch für die nachfolgende Generation schwer nachzuvollziehen. Alleine die Atmosphäre damals in den 80ern bis Mitte der 90er war eine völlig andere als heute. Da war Sadness wirklich noch Rebellion.

Es war nicht alles besser, das will ich gar nicht behaupten, es war einfach anders. Es war gefühlt wärmer, heimeliger, mehr eigene Welt und inniger. Manche Freunde von damals sind auch noch heute meine Freunde. Es verband einen etwas, was man heute nur noch schwer findet. Da war eine Art Gleichklang untereinander.

Natürlich gab es auch da negative Dinge. Aber ich kann für meinen Teil nur sagen, dass die positiven Seiten deutlich überwogen. Und das war zu einem ganz großen Teil vor allem der Zusammenhalt untereinander, den ich heute nur noch sehr selten so sehe.

Mir bleibt die Erinnerung an die schönen Zeiten, die ich da hatte, verbunden mit der Musik, die ich immer noch liebe. Und wenn ich manchmal auf Partys zu den alten Klassikern tanze und die Augen schließe, ist es wieder da, das Gefühl.

Sandra Schulz

Doku: New Model Army – Galionsfiguren des Independent werden auch 40 Jahre alt

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Auch die New Model Army, die englische Verkörperung des Genre Independent, wird 40 Jahre alt. Der WDR Rockpalast zeigt anlässlich des Band-Jubiläums die Dokumentation „From Here – 40 Jahre New Model Army“ von Oliver Schwabe und beleuchtet auf angenehm zurückhaltende Art die Geschichte der Band um Frontmann Justin Sullivan. Eine Band, die nie erfolgreich sein wollte und ihre Chartplatzierungen wohl eher als Ausrutscher sieht.

Die nach Oliver Cromwells republikanischer Revolutionsarmee benannte Band New Model Army komponierten Hymnen, die tief in die DNA eines alternativen Publikums eingedrungen sind und einen Band-Kult kreiert haben, der die Band auf den Zenit eines ganzen Musik-Genres erhebt. Independent. Musik, so sagt das Lexikon, die unabhängig vom Zeitgeist neue und eigenwillige künstlerische Wege beschreitet. 1985 räumten die Briten mit dem Vorurteil auf, Independent funktioniere nur auf kleinen und eigenen Labels, denn auch beim Major-Label EMI blieben sie ihrer Musik und ihren Ansichten treu.

Im Radio werden sie vielfach ignoriert, der Mainstream fließt an ihnen vorbei. Sich von dem introvertierten Sullivan erzählen lassen, was Gerechtigkeit ist? „Rache“ als Album-Titel? Das war vielen Konservativen Medien dann doch ein bisschen zu heikel. „Die USA verweigern New Model Army sogar ein Arbeits-Visum wegen „mangelndem künstlerischen Potential“. Ihr könnt Euch denken, welchen Song die Briten daraufhin veröffentlichten.

Mir begegnete die Band tatsächlich zunächst über ihre erfolgreichsten Stücke, die während meiner Jugendfreizeiten in Norwegen und Jugoslawien zwischen 1986 und 1990 zu meiner melancholischen Früherziehung beigetragen haben. Neben „Music for the Masses“ gehörten die Alben „Thunder and Consolation“ und „Impurity“ zu den durchgerocktesten CDs in meiner Sammlung. Ich glaube „Thunder and Consolation“ habe ich mir 3-mal gekauft. Die erste habe ich verliehen und nie wieder zurückbekommen und die Zweite habe ich im Autoradio vergessen, als mein erstes Auto, einen VW Derby, nach Bayern verkauft habe.

New Model Army wollten zwar von ihrer Musik leben, aber nie erfolgreich sein. Dass ihre Mischung aus Rock, Folk und keltischen Balladen immer noch Bestand hat, ist wohl dieser Tatsache geschuldet. Von ihren Fans wegen ihrer Beständigkeit und Unangepasstheit auf teils absurde Weise verehrt. Das Zitat von Justin Sullivan auf der Seite des WDR bringt es auf den Punkt:

Wir waren kurz davor, eine richtig große Band zu werden. Aber wir sind es nie geworden. Einfach, weil wir nicht wollten. Die Leute fragen immer, was da schiefgelaufen sei. Und ich kann nur sagen: „Ich finde eher, dass wir vieles richtig gemacht haben.“ In dem Sinne, dass wir immer noch hier sind. Wir können machen, was wir wollen, wann wir wollen, wie wir wollen. Besser kann es gar nicht sein. OK, wir hätten mehr Alben und Konzert-Tickets verkaufen können, na und? Das macht doch keinen Unterschied.  Justin Sullivan

 

Grauzones Eisbär wird bald 40 – Ob er immer noch nicht weinen muss?

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Eines der zeitlosesten Stücke einer Ära, die als „Neue Deutsche Welle“ in die Musikgeschichte einging, ist der Song „Eisbär“ den die schweizerische Band Grauzone 1981 als Single herausbrachte. Nächstes Jahr wird das Lied 40 Jahre alt und anlässlich dieses Jubiläums gibt es das ganze als besondere Neuauflage in einer „Limited Edition 40 Years Anniversary Box„.

Unbequem utopisch

Eigentlich wollte „Eisbär“ nie so richtig in den fröhlich-albernen Sound der Neuen Deutschen Welle passen, denn nicht nur sein Text ist traurig und dystopisch, sondern auch die Musik klingt trotz ihrer Tanzbarkeit eher düster und irgendwie trist. Ich selbst empfinde den Song in jeder 80er Playlist als geliebten Störenfried, wenn er zwischen Fräulein Menkes Bergen und UKWs Sommersprossen die Stimmung so angenehm nach unten zieht. Er gehört da einfach nicht hin. Und ganz ehrlich? Das ist auch gut so, denn nicht alles, was damals in Deutsch gesungen wurde, war so belanglos und leer, wie es die NDW-Retro-Welle, die immer wieder durch Fernsehsendung und Party-Zelte schwappt, suggeriert.

Bereits zum 30. Geburtstag hatte man dem Eisbär aufgebmöbelten Sound und ein passendes Video spendiert, zum 40. Geburtstag bringt man dann eine ganz spezielle Sammlerbox heraus. Zum damaligen Geburtstagsvideo schreibt das Label mital-U:

Das Video zeigt auf, dass der Versuch eines Eisbärs der Tristesse seines Daseins zu entkommen, zum Scheitern verurteilt ist — seine Flucht ist eine Kreisbewegung, die ohne Erlösung auskommen muss. Die Flucht zu vermeintlich paradiesischen Zuständen (‚unberührte Arktis‘, die Stadt als Ort der Kultur und der Kommunikation) werden als illusorische Utopien aufgezeigt.

Da ich weiß, dass einige Leser die Band immer noch verehren, möchte ich darauf hinweisen, dass die Box auf 1000 Stück limitiert ist und wie bereits ähnliche Veröffentlichungen zum 30. Geburtstag bestimmt schnell vergriffen ist. Hier kann man sie für 55€ vorbestellen. Inhalte der „Limited Edition 40 Years Anniversary Box“:

  • Neuauflage des Original-Albums (Doppel LP, 180g Vinyl)  von 1981 und allen anderen Songs aus der Grauzone Discography. Garniert wird das mit den Texten des Original-Albums und handgeschriebenen Anmerkungen von Musik Historiker Lurker Grand.
  • Grauzone Live LP (aufgenommen am 12. April 1980 im Gaskessel in Bern)
  • 80-seitiges Fanzine mit der Geschichte von Grauzone, vielen noch nie veröffentlichten Bildern und Inhalten anderer Künstler
  • Grauzone Poster (60x90cm Nachbildung des Konzertflyers für einen Auftritt im Spex (Bern) am 25. Oktober 1980

Grauzone Eisbaer Cover

 

Wochenschau: Die schwarze Szene kehrt zurück in den (virtuellen) Untergrund

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Es konnte ja keiner ahnen, dass das alles so scheiß lange dauert! Halten wir fest. Eine Szene, die dank einer Pandemie fast vollständig aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden ist, findet auch nicht statt. Deswegen hat es jetzt eine gefühlte Ewigkeit bis zur aktuellen Wochenschau gedauert, die ja aufgreifen soll, was über die Szene und ihre Protagonisten berichtet wird und was sonst relevant erscheint. Ohne Veranstaltungen und Festivals ist es still um die Szene geworden, die Gruftis sind wieder im Untergrund verschwunden. Jedenfalls für die öffentliche Wahrnehmung. Im Netz toben sich die Gruftis dann aus und bevölkern Facebook und Instagram in nie dagewesener Intensität. Allerdings scheint sich auch hier eine Art von Müdigkeit einzuschleichen, weil man es wohl satt hat, sich nur virtuell auszuleben. Auch wenn ich hoffe, dass die Pandemie bald vorbei ist, wäre es doch spannend zu sehen, was ein noch längerer Verzicht auf soziale Interaktion mit den Subkulturen macht. Letzten Endes sind dann auch die Gruftis, die ja angeblich lieber in Ruhe gelassen werden wollen, Herdentiere und wollen wieder zusammen auf der schwarzen Wiese grasen.

Battle of the Bands – Sonic Seducer Newcomer Contest 2020

Beim Sonic Seducer läuft zur Zeit die Abstimmungsphase zum „Newcomer Contest 2020“. Die gewinnende Band erhält neben Promotion und Hilfe bei der Suche einer Plattenfirma auch Sachpreise. Von der Band „Mängelexemplar“ aus Düsseldorf wurden wir durch überschwängliche Freundlichkeit dazu gezwungen, eben diese Band „Mängelexemplar“ zu unterstützen und unsere Leser dazu zu bringen, mir gleichzutun. Doch auch abseits davon sind „Mängelexemplar“ eine minimalelektronische Perle aus Düsseldorf, die es einfach mal verdient hätten, auch über den Tellerrand einer kleinen, eingeschworenen Ruhrgebiets-Clique wahrgenommen zu werden.

Und natürlich: Auch die anderen 29 Bands haben etwas zu bieten und der Sonic-Seducer hat mit dieser Aktion wieder einmal eine feine Idee gehabt, die es zu unterstützen gilt. Also teilnehmen und bis zum 31.01.2021 abstimmen!

Tim Burton Bringing The Addams Family Back to TV | Consequence of Sound

Jetzt kommt zusammen, was zusammen gehört. Tim Burton, Großmeister gruftiger Filme, möchte die Addams Family in einer neuen TV-Serie zum Leben erwecken. „The Addams Family will soon welcome a very fitting guest: Tim Burton. According to Deadline, the veteran Gothic filmmaker is heading to television for the first time ever for a new live-action adaptation of America’s spookiest family.“ Wir hoffen, das alles so gelingt, wie er sich das vorgestellt hat.

The wurst is over: why Germany now loves to go vegetarian | The Guardian

Wie die englische Zeitung mit einer herrlichen Schlagzeile berichtet, ist der Fleischkonsum in Deutschland, dem Land der „tausend Würstchen-Variationen“ rückläufig: „Carried out by teams of researchers from Berlin, Bath and Franche-Comté in eastern France, it found that out-and-proud omnivores, those who eat meat without any restrictions, are for the first time a minority in Germany. Around 42% of those questioned said they were deliberately reducing their consumption of meat in some form, by keeping to a diet that was either vegetarian, vegan, pescatarian or “flexitarian”, meaning centred around plant food with the occasional piece of meat on the side.“ Spannend, wie die ausländische Presse die Vegetarier und Veganer hierzulande wahrnimmt.

„Spotlight“ vs. „Zeitgeist Vol. 13“: Hier ist was los | unter.ton

Daniel von unter.ton gibt es zwei frische Sampler auf den musikalischen Weg, die uns Gothic 2020 wieder ein bisschen näher bringen könnten. Schließlich fühlt es sich dank Pandemie ein bisschen so an, als hätte man den Faden und den Anschluss verloren: „Seit einigen Jahren präsentieren M’era Luna, Amphi und Konsorten ein musikalisch durchaus vielschichtiges Programm, allerdings ohne den großen Überraschungseffekt. Alles geht seine geregelten Bahnen; man setzt auf bewährte Gassenhauer, die aber selbst schon über den Gothic-Tellerrand blicken und gar nicht mehr so repräsentativ sind für die eigentlichen subkulturellen Vorgänge. Denn da hat sich seit einigen Jahren eine feste Post-Punk- und Cold-Wave-Szene etabliert, die es zu entdecken gilt.“

„Once a goth, always a goth“: Grace Dent über ihr Liebe zu Schwarz | The Guardian

Wo wir gerade in „The Guardian“ stöberten, stolperte ich über das Lippenbekenntnis von einer gewissen Grace Dent, die zwar nun einen äußerlich anderen Lifestyle prägt, im Herzen aber immer Goth geblieben ist: „By the age of 13, I’d begun ruining my mother’s best saucepans while dyeing things black with 001 Dylon. I loved Patricia Morrison, who played bass guitar with the Sisters Of Mercy, and Grace Jones as May Day in A View To A Kill. I loved Winona Ryder in Heathers and Brix Smith from the Fall. My wardrobe grew more crypt-like. Shopping in Chelsea Girl and MK One I’d head towards the pleasingly muted rails of black ruched skirts, black Spandex trousers and black-lace Stevie Nicks dresses.“ Schöner Artikel.

Verzweifelte Metalheads und Punks auf der Suche nach der großen Liebe | The Guardian

Es ist ein herzerweichender Artikel. In den Frühzeiten der Subkulturen gab es noch keine sozialen Netzwerke und Dating-Seiten, die einem den subkulturellen Partner fürs Leben offenbarten. Daher gab es bis in die späten 90er die Rubrik „Einsame Herzen“ in zahlreichen Musik-Magazinen, mit denen sich subkulturelle Einsame auf die Suche nach ihrem Gegenstück machen konnten. Der Guardian zeigt einige Anzeigen von damals und suchte die Leute von damals um zu sehen, wie es ihnen heute geht. Toller Artikel! (Danke Carmen)

Me and my mates were all heavy metallers, punks and skinheads, going to the youth club, trying to get off with girls, and going to Dublin to buy records when we could afford them. I used to make money painting band logos on the back of leather jackets. For a laugh, I took a photo of myself in a Woolworths photo machine and wrote that stupid ad. I got bags of letters from all over the world. I’m still in touch with a couple. There was a Scottish girl who came over to stay with us in 1983 and ended up just hanging out with my sisters.

Arecibo Observatorium eingestürzt | Heise

Erinnert ihr Euch noch an SETI@Home? 1999 Kam die Universität von Berkley mit der Idee um die Ecke, die Rechenleistung vieler Home-Computer zu nutzen, um bei der Suche nach außerirdischer Intelligenz schneller voranzukommen. Dabei wurden die riesigen Datenmengen des Radioteleskops Arecibo in kleine Stücke zerteilt, die sich ein Client herunterlud, um sie dann während der Zeiten, in denen der Home-Computer zwar lief aber nichts weiter machte, nach Mustern zu suchen. Die erbrachte Rechenleistung war enorm und zeigte eindrucksvoll, wie effektiv verteiltes Rechnen sein konnte. Nachdem das Projekt im März 2020 eingestellt wurde, zeichnet jetzt der Einsturz des zweitgrößten Observatoriums der Welt einen weiteren dunklen Punkt im Bestreben der Menschheit, den Weltraum zu erforschen. Wenn Wissenschaft nicht im Dienst der Industrie steht, so mein Eindruck, ist sie nicht von Interesse.

Augenzucker: Mit dem Fixie durch New York | KFMW

Rücksichtlos und sehr gefährlich! Aber auch irgendwie schön anzusehen, New York auf diese Art und Weise zu entdecken. Nicht nachmachen! (Ein Fixie ist übrigens ein Rad ohne Gangschaltung, Freilauf oder Bremsen – eigentlich gemacht für die Rundstrecke, um dort Rennen zu gewinnen.)

Augenzucker: Fastest Moving Tornado | Pecos Hank

Ich finde Naturgewalten erschreckend eindrucksvoll. Machen sie uns doch deutlich, wie unwichtig und klein wir sind und wie wichtig es ist, mit der Natur im Einklang zu leben. Tornados verströmen eine ungewollte Faszination auf mich aus und Pecos Hank, ein YouTuber aus den USA, ist ein Sturmjäger der diese Ereignisse in umwerfenden Bildern einfängt. Dazu kommen noch jeder Mengen Informationen und musikalische Untermalung. Augenzucker, die Zweite.

In eigener Sache

Auch wenn die Wochenschau 2021 möglicherweise wieder mehr Input erhält, möchte ich die Inhalte ein wenig anpassen. Deshalb schreibt mal gerne in die Kommentare, was ihr von einer Wochenschau erwarten würdet. Mehr Videovorstellungen von Vloggern? Mehr oder weniger internationale Links? Mehr Klatsch und Tratsch? Die Themen der Wochenschau lieber als einzelne Artikel? Ich freue mich über konstruktives Feedback.

Video: Londons Goth-Fashion-Ikone Parma Ham macht sich für das Magazin „Vogue“ fertig

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Das Modemagazin Vogue hat in seiner Artikelserie „Extreme Schönheit“ Parma Ham dabei beobachtet, wie er sich zurechtmacht und zugehört, wie er von sich und seinem Styling berichtet. Parma Ham ist Stilikone einer Goth-Fashion-Bewegung, die bereits seit einigen Jahren den klassischen Goth-Style auf ein neues Level erhebt und die über Instagram tausende Bewunderer um sich schart. Designer und Modelabels bedienen sich seit einigen Jahren wieder verstärkt am Style dieser jungen Gothics und erzeugen dabei ein knisterndes Spannungsfeld zwischen Subkultur und Kunst.

Selbstinszenierung auf die Spitze getrieben

Instagram ist eine Möglichkeit, sich selbst und seinem Style eine Bühne zu bauen. Je extremer, je extravaganter und tabubrechender ein Gothic-Look ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, beachtet, geteilt oder geliked zu werden. Parma Ham hat diesen Trend früh für sich erkannt und geht in seinem Londoner Umfeld immer auffälligere Wege, sich auszudrücken. Dass seine Outfits weniger als Kleidung durchgehen, sondern vielmehr als Kunstform, lockt auch Designer und Modemagazine in die schwarze Subkultur.

Es bleibt allerdings im Auge des Betrachters, Kunst in Form von Outfits oder Stylings auch als solche anzuerkennen. Denn trotz aller Bewunderung und Selbstinszenierung scheint es völlig an zusammenhängenden Inhalten, musikalischer Identifikation oder einer rebellischen Attitüde zu fehlen. Die Frage ist allerdings, ob das überhaupt eine Rolle spielt.

Betrachtet man Parma Ham allerdings als Stilikone, so wirkt er wie ein modischer Querschnitt aus 40 Jahren Gothic-Szene, der sich an allen – möglichst extremen – Einflüssen der Szene bedient, die in den letzten Jahrzehnten zu einem Teil dieser wurden. Angefangen vom „Big Hair“-Look der 80er über die Lack- und Leder Trends der 90er bis hin zum „Genderfluid“-Style der letzten Dekade vereint er alle Einflüsse in seinen Outfits, die er dann ohne erkennbare Grenzen überspitzt.

Leider überschreitet Selbstinszenierung auch schnell die Grenzen zur Lächerlichkeit, wie ich finde, denn als ich die 4 Leute da so aufgebrezelt im Ruderboot gesehen habe, brach die coole, hippe und freakige Fassade zusammen wie ein Kartenhaus. Für mich jedenfalls.

Bis dahin ist so ein Video allerdings schön anzusehen, gerade während einer Zeit, bei der sich kaum Gelegenheit bot, sich selbst in Schale zu schmeißen. Auch wenn ich natürlich weit entfernt bin von Haarpracht, Hautzustand und Figur der Stilikone. Denn seien wir ehrlich, Selbstinszenierung ohne Zuschauer ist doch langweilig, oder?

Gruft-Orakel Dezember 2020: Der Fangzahn versinkt in Traurigkeit

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Last Christmas, i gave you my heart, but the very next day, you gave it away…“ Leise trällert der Song aus dem Radio. Wie gerne würde der Fangzahn, der traurig seinen Kiefer auf die nicht vorhandene Hand stützt, sich darüber beklagen, wie beschissen er diesen Song findet. Doch auch der Glühwein aus der Flasche, der still in seiner Tasse dampft, mag ihn in Stimmung dazu bringen. Was waren das für Zeiten, als er noch mit dem Knoblauchzopf und dem Dämon in einem Nebel aus Glühweinschwaden eine Parodie auf den Song trällerten, während die Pflöcke die Vampire auf der Eisbahn jagten und Alana Abendroth die nächste Runde erhitzte. Traurig blickt der Fangzahn auf den teuflischen Wandkalender an der Wand seiner völlig leeren Behausung. Wer hatte eigentlich die bescheuerte Idee mit dem Virus? Bestimmt die doofe Fledermaus! Traurig blickt er auf den Wandkalender. Noch 365 Tage bis Weihnachten 2021, vielleicht kann er dann wieder die Menschen verschrecken.

 

Nichts für ungut, aber du hast keine Ahnung, was Gothic ist!

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Abigail ist 18 und erklärt der BBC selbstbewusst, was Goth ist, denn „nichts für ungut, aber du hast keine Ahnung, was Goth ist.“ Doch gleich vorweg möchte ich dem Boot der Empörung den Wind aus den Segeln nehmen. In diesem Artikel geht es nicht darum, Abigail zu erklären, was Goth ist, ihre Meinung zu analysieren oder gar der BBC eine viel bessere Erklärung zu geben, was Goth ist, sondern darum, was vielleicht aus Goth geworden ist und – was vielleicht viel wichtiger ist – ob es eigentlich nicht immer schon so war.

Gothics sind ganz normale Leute

Wir sind nicht depressiv, sind keine Satanisten, hören keinen Metal und möchten nicht angestarrt, fotografiert oder gar angetatscht werden. Wir hören Gothic-Musik und kleiden uns anders.

Soweit Abigails markante Kurzfassung. Ich kann ihr allerdings nicht widersprechen, auch wenn ich gerne Monologe über die Inhalte und Leidenschaften der Szene halten würde. Gothic ist genau DAS geworden. Eine recht unspezifische und schwierig abzugrenzende Musik-Richtung und eine Mode, die die Farbe Schwarz in den Vordergrund stellt. Gothic ist ein Label, das einfach überall draufgeklebt wird, wo es düster ist, gruselig sein oder böse klingen soll. Wie früher, als die Mitarbeiter im Supermarkt mit diesen Etikettiergeräten die Preise auf die Waren geklebt haben. Übrigens kannst du Gothic auch in eben diesem Supermarkt kaufen, es gehören weder Kreativität noch „gute Connections“ dazu, ein Gothic zu werden.

Wenn wir in Zeitungen oder Fernsehberichten auftauchen, werden wir als harmlose, mal gruselig und mal sexy gekleidete Menschen dargestellt, die überhaupt nicht mehr zum Lachen in den Keller gehen und schon gar nicht den Dingen nachgehen, die man sich aufgrund des düsteren Aussehens zusammenreimen könnten.

Wenn wir nach den dunklen Flecken in unserer Vergangenheit, wie Grabschändung, Satanismus, Teufelsanbetung oder schwarze Messen gefragt werden, wiegeln wir großflächig ab. „Alles Quatsch„, so die Devise. Wir sind weder depressiv noch todessehnsüchtig oder leiden pauschal an irgendeiner anderen mentalen Störung. „Das mag es geben, aber eben nicht mehr als beim Rest der Gesellschaft.“ Sagt auch Abigail.

Gothics sind also ganz normale Leute, die sich anders anziehen und einen eigenen Musikgeschmack haben!

Gothics auf der Suche nach ihrer Daseinsberechtigung

Das reicht uns allerdings schon lange nicht mehr, um unser Dasein als Gothic für uns selbst und gegenüber anderen zu rechtfertigen. Ich meine, wie traurig wäre es auch, wenn wir immer noch im Klamottengeschmack unserer Jugend verharren würden? Wie unflexibel wären wir denn, wenn wir immer noch auf die gleiche Art Musik abfahren würden, die wir auch schon damals gehört haben?

In den späten 80ern, als die ersten jugendlichen Gothics erwachsen wurden, trennte sich die Spreu vom Weizen. Entweder hattest du als Gothic alles ausprobiert, was der Klischee-Katalog so hergab und dich dazu entschlossen, einem anderen Trend nachzulaufen, oder du bist geblieben, weil dir Kleidung und Musik immer noch gut gefallen haben. Dann musstest du jedoch eine Daseinsberechtigung kreieren, die Gothic dann von einer Musikrichtung und einer Art, sich zu kleiden, zum Lebensgefühl erhob. Wäre ja sonst ein bisschen peinlich, immer noch wie ein Jugendlicher rumzurennen, oder?

Literatur, Kunst, Religion, Mythologie boten viele Parallelen zur Szene. Nicht nur optisch waren wir von solchen Dingen inspiriert, auch die Szene-Bands schmückten sich nicht selten mit ebendiesen Quellen, um ihrer Musik und den Texten das „besondere Etwas“ zu verleihen. Daraus zimmerte man sich dann ein Lebensgefühl. Das ließ sich auch ganz prima vorschieben, wenn man aufgrund seines Outfits nach der Schul- oder Studienzeit auf Widerstände stieß. Warst du ein paar Jahre später immer noch nicht „klüger“ und in der Szene zu finden, krönte man das dann zur Weltanschauung. Tod und Trauer waren plötzlich cool, Satanismus klang spannend und verboten und sowieso baute man sich auch noch aus merkwürdigen Religionen seine ganz eigene.

Gothic ist nicht nur eine Musikrichtung und eine Mode, sondern eine Lebenseinstellung!

Satanisten und Todessehnsucht. Gothics werden böse!

Das hatte allerdings seinen Preis. Genau dieses Klima lockte auch viele Individualisten und Spinner in die Szene, die darin einen persönlichen Spielplatz sahen, ihre sexuellen Vorlieben, ihre Fetische, ihre psychische Instabilität oder ihren kranken Geist auszuleben. Gepaart mit dem Hang zur Selbstdarstellung und der Suche nach dem nächsten „Kick“ wuchs daraus eine Szene, die sich mit immer neuen Verrücktheiten zu übertrumpfen versuchte und damit Aufmerksamkeit erregte.

Satanisten, Grabschänder und Teufelsanbeter, die selbstmordgefährdet die Grenzen des Lebens ausloteten oder auch depressive Traurigkeitsfetischisten, die den Schmerz der Welt fühlen konnten.

Das lockte nicht nur die Medien an, sondern auch wirklich depressive Menschen, kranke Verrückte oder narzisstische Spinner. Einige Selbstmorde, Morde, rätselhafte Grabschändungen und schwarze Messen später war dann klar:

Von wegen harmlos! Gothics, die Musik und ihre Inhalte sind böse und gefährlich.

Gothics bringen es als Zurückruderer zu legendären Siegen

Die letzte große Bewegung in der Gothic-Szene war das Zurückrudern. Wir wurden zu Erklärbären und Aufklärern, die mit der Mission durch die Welt zogen, die bösen Vorurteile und Klischees auszuräumen. Wir suchten nach Akzeptanz, Toleranz und Anerkennung, weil uns die ständigen Vermutungen müde machten. Nein, wir sehnen uns nicht nach dem Tod. Nein, wir sind nicht nur traurig. Nein, wir feiern auch keine schwarzen Messen.

Allerdings machten wir das so effizient und allumfassend, dass dabei sämtliches, mystische und geheimnisvolle Kraut der Unverstandenheit ausstarb.

Was geblieben ist, lässt sich vielleicht so zusammenfassen. Gothics sind Verkleidungskünstler und Fashionvictims, die kein Mittel scheuen, sich äußerlich zu individualisieren. Für nahezu jede Kamera haben wir eine Pose übrig und wenn uns kein anderer ablichtet, setzen wir uns selbst in Szene. Gothic wird eine Art, sich zu schminken, ein Thema, zu dem man sich modisch einkleidet oder ein Motto für die nächste Party. Musikalisch lassen wir uns nicht einengen, der Begriff „Gothic“ ist uns als musikalische Richtung viel zu sperrig. Ach, was rede ich denn? Wehe, irgendjemand nennt mich noch „Gothic“!

Und wenn wir uns tatsächlich noch mit Gothic als Weltanschauung, als Lebensgefühl oder als inhaltsstiftende Leidenschaft beschäftigen, dann machen wir das im stillen Kämmerlein. Wenn uns einer konkret fragt, dann relativieren wir uns die Münder fusselig. Da wird dann aus Gothic schnell eine angeblich alternative Lebenseinstellung, die politische Richtung, aktive Rebellion oder irgendeine Meinung rechtfertigt.

Gothic Abigail ist das Ende vom Anfang

Für Abigail ist Gothic Musik und Mode. Mehr nicht. Ganz so, wie es früher einmal war. Die Musik ist ein bisschen trauriger oder düsterer und die Mode ausgefallen und symbolträchtig. Böse Zungen behaupten, dahinter steckt meistens nichts.

Wir grenzen uns als Subkultur nicht mehr ab, buhlen um Anerkennung und Akzeptanz, wollen leben und leben lassen. Toleranz ist uns wichtig, Beliebigkeit wird dabei vom Individualismus überfahren. Anders als die anderen, subkulturell cool und gleichzeitig akzeptiert und erfolgreich.

Ich komme mir ja selbst ein bisschen blöd vor, weil ich das Zurückrudern ebenso praktiziert habe wie das Relativieren. Und jetzt sitze ich hier vor dem Video von Abigail und sehne mich nach der Zeit zurück, in der man Angst vor Gothics hatte, uns argwöhnisch betrachtet und beschimpft hat oder tuschelte, dass wir dieses oder jenes machen würden. Ich sehne mich nach einer Zeit zurück, in der es reichte, mit schwarzer Kleidung seine empfundene Andersartigkeit und Verbundenheit zur Szene auszudrücken.

Aber ich werde mich arrangieren. Weder die Szene noch mein Gefühl dafür sind tot. Vielleicht müssen wir neue Wege der Abgrenzung gehen und die Intoleranz in dosierter Form wieder für uns entdecken? Vielleicht auch mehr Inhalt und weniger Mode? Vielleicht ein Sarg im Schlafzimmer? Vielleicht bin ich aber auch auf der Suche nach der Rechtfertigung, dass ich seit so vielen Jahren fast nur schwarze Klamotten habe.

Nichts für ungut, aber ich habe wirklich keine Ahnung, was Gothic ist!

WGT 2012 - Kein Liebeslied - Tobikult
Ein Bild vom WGT 2012 – Ob die auch keine Ahnung haben, was Goth ist?

Gothic Szene 1985 – Die ersten Jahre der Kultdisko „Zwischenfall“

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Als ich neulich in einer alten Musikexpress-Zeitschrift blätterte, stieß ich auf einen Artikel über das „Zwischenfall“ in Bochum. Mir fiel ein, dass ich die Kultdisko im Jahr 2011 zum ersten und zum letzten Mal betreten habe.

Robert und ich waren gemeinsam dort gewesen. Ich ging damals tief beeindruckt und andachtsvoll durch die heiligen Hallen. In meinem Szene-Leben war ich in anderen Düster-Schuppen unterwegs gewesen, zum Beispiel im Old Daddy in Duisburg. Das Zwischenfall war für mich unerreichbar und ich weiß auch nicht, ob ich mich dort hineingetraut hätte. Schon damals hatte man ja immer das Gefühl, nicht gruftig genug zu sein. Ich hatte in den 80ern nicht einmal Pikes.

Anzeige fuer das Zwischenfall im Zillo
Anzeige fuer das Zwischenfall im Zillo

Ab Anfang der 90er-Jahre lebte ich dann fast 20 Jahre weit vom Ruhrpott entfernt. Also wieder kein Besuch im Zwischenfall. Im fortgeschrittenen Alter mit einem Haufen Szene-Erfahrung mehr durfte ich dann also nach meiner Rückkehr in die Heimat mit Robert endlich die sagenumwobene Kult-Disko kennenlernen. Wir nahmen uns nach dem schönen Abend dort vor, öfter dort tanzen zu gehen. Doch dazu sollte es leider nicht mehr kommen.

Am 19. August 2011 erreichte uns die Hiobsbotschaft. In der Nacht hatte es im Haus, in dem das Zwischenfall untergebracht war, einen Brand gegeben. Die Räumlichkeiten wurden durch das Löschwasser zerstört. Das Gebäude war nicht mehr zu retten. Für mich wurden mit dem Gebäude keine persönlichen Erinnerungen abgerissen, aber doch die Möglichkeit, den Geist der Vergangenheit in den gruftigen Mauern zu erkunden. Es tat schon ein bisschen weh, das Kleinod loszulassen, in das ich mich doch jetzt erst getraut hatte.

Ich saß also da und las den alten Artikel im Musikexpress aus dem Jahr 1987. Auf einem der dazugehörigen Bilder war DJ Klaus Märkert abgebildet. Klaus kennen wir schon seit vielen Jahren. Ich hatte die Idee, ein Interview mit ihm zu machen. Das Zwischenfall kann ich nicht mehr erkunden, aber Klaus kann mir von früher erzählen.

Wer will Bücher von Klaus Märkert gewinnen?

Wie im Video angekündigt, wollen wir euch die Weihnachtszeit versüßen – oder besser „verdunkeln.“ Wir verlosen folgende Bücher von Klaus Märkert, damit ihr euch aufs Sofa kuscheln und tolle Szene-Anekdoten aus den 80er-Jahren lesen könnt :

2 x Habt Sonne

2 x Requiem für Pacman

2 x Das Besondere kommt noch

Das müsst Ihr dafür tun:

Einen Kommentar zu diesem Artikel hier in diesem Blog hinterlassen! Unter allen Kommentaren verlosen wir etwa Mitte Dezember die 6 Bücher, damit die auch noch pünktlich vor dem Fest ankommen. Es können nur Kommentare berücksichtigt werden, die auch eine gültige E-Mail-Adresse zur Kontaktaufnahme hinterlassen.

Support your Lieblingsautor!

Gerade zu Coronazeiten brauchen die DJs, Autoren, Künstler und Händler der Gothic-Szene unsere Unterstützung. Vielleicht habt Ihr ja Lust, zu Weihnachten großartige Bücher zu verschenken. Eine Übersicht über die Bücher von Klaus Märkert findet ihr bei Amazon, zur Webseite von Klaus Märkert geht es hier.

 

Too much Future – Punkrock in der DDR. Rebellische Existenz im Untergrund einer Diktatur

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Auf der jüngst erschienen Compilation „too much future“, die aus drei Vinyl-Schallplatten und einem 80-seitigen Booklet besteht, gibt es erstmal die Geschichte des Punkrock in der DDR von 1980-1989 zum nachhören. Henryk Gericke war damals mit seiner Band „The Leistungsleichen“ ein Teil dieser Bewegung, ist auf dem Sampler zu hören und ist auch Autor des ausführlichen Booklets. Bei Deutschlandradio Kultur spricht er mit Musikjournalist und DJ Thomas Thyssen über Punk, die DDR und seine Erinnerungen an eine der konspirativsten Musikbewegungen in Europa.

Punk existierte im Untergrund 

Punk in der DDR ist ein wenig dokumentiertes Kapitel der ostdeutschen Vergangenheit. Das hat völlig pragmatische Ursachen, denn die Punks und ihre Musik waren der Staatsmacht ein Dorn im Auge. Veröffentlichung und Auftritte waren verboten und die Punks wurde allein wegen ihres Äußeren von der Staatssicherheit beobachtet und verfolgt. Die Subkultur fand ausschließlich im Untergrund statt. Es gibt daher keine Aufnahmen, keine Veröffentlichungen, keine Labels und kaum Erinnerung an diese Zeit.

In Westdeutschland drehte sich Punk häufig um das Establishment, die spießige Gesellschaft oder gegen die gefühlten Zwangsjacken eines vorbestimmten Lebens. In der DDR war Punk deutlich – wenn nicht sogar immer – politisch, rebellisch und wütend. Die Band Planlos singt beispielsweise 1983 von den allgewärtigen Spitzeln, die andersartigen und musikalischen Jugendliche stets im Nacken saßen:

 

Subkulturen wurden in der DDR gnadenlos verfolgt, als Staatsfeinde eingestuft und häufig auch inhaftiert. Wer mehr darüber erfahren möchte, dem sei das Radio-Feature mit Thomas Thyssen empfohlen, in dem Henryk Gericke seine Erfahrungen schildert.

Jana, die Sängerin der Ostberliner Band „Namenlos“ zum Beispiel, kam mit 18 Jahren nach Hoheneck, dem schlimmsten Frauengefängnis in der DDR. „Da kamst du nicht hin, um deine Zeit abzusitzen. Da kamst du hin, um gebrochen zu werden“, erzählt Henryk Gericke im Gespräch mit Thomas Thyssen. Und sie war nicht die einzige.

Auch Gruftis waren damals im Visier der Staatsmacht.  Wir machen uns heutzutage keine Vorstellung mehr davon, was es heißt, für seine Musik oder sein Aussehen verfolgt und belauscht zu werden. Da erscheint es fast schon ein bisschen verrückt, wenn aktuell tausende Menschen auf den Straßen skandieren, sie würden in einer Diktatur leben.

Wie die Punks von damals wohl darüber denken?

Bereits 2007 erschien der Dokumentarfilm „ostPUNK! – too much future“, in dem Punks von früher erzählen, jetzt ergänzt die Compilation die Erinnerungen durch eine musikalische Zusammenstellung. Viele der Aufnahmen sind nie erschienen und exklusiv auf der Compilation zu hören.

Diese Compilation dürfte wohl bei vielen Leuten von damals einen Sturm von Erinnerungen auslösen. Was früher höchst illegal war, gibt es heute ganz legal beim Major Label zu erwerben. Allerdings ist die erste Pressung bereits restlos vergriffen, eine zweite Pressung wird erst im Januar verfügbar sein.

Too much future . Cover des Samplers
too much future – Punkrock GDR 1980-1989. Die Compilation mit 3 Vinyl-Platten und dem umfangreichen Booklet ist erst wieder im Januar 2021 verfügbar, da die erste Pressung vollständig ausverkauft ist
Foto: (c) Ilse Ruppert, Cover: (c) Major Label, Jena
„Hohes Leistungswachstum durch steigende Arbeitsproduktivität, Effektivität und Qualit#t alles für das Wohl des Volkes und den Frieden“ Bild aus der Compilation
(c) Major Label, Jena