Heute würde Ian Curtis seinen 68. Geburtstag feiern. Der unter Epilepsie und Depressionen erkrankte Sänger der Band Joy Division nahm sich im Mai 1980 das Leben. Damals sprach man nicht über solche Dinge, sie wurden nicht diskutiert und Betroffene erhielten kaum Unterstützung. Stattdessen hat sich Curtis in seiner Musik vergraben und womöglich genau aus diesem Grund einer Verbindung zum ein oder anderen Hörer aufgebaut, die es sonst nicht gegeben hätte.
Zum 40. Jubiläum des Album „Unknown Pleasures“, das man 2019 feierte, hat man zu 9 Titeln des Albums ein neues Musikvideo gedreht. Unter dem Motto Joy Division Reimagined („neu gedacht“), versuchen eine Reihe namhafter Regisseure, dem Inhalt der Stücke eine eigene Bedeutung zu verleihen. Das Debütalbum der britischen Band, das im Juni 1979 erschien, zählt zu den wichtigsten Alben des Genres Post-Punk und markiert neben einigen anderen Alben einflussreicher Bands, die Geburtsstunde des Gothic-Rocks. Jetzt hatte das Album über 40 Jahre lang Zeit, Menschen nachhaltig zu beeinflussen und zu inspirieren. Mittlerweile spricht man über Depressionen und andere psychische Krankheiten viel offener. Ob sich das auch in den Videos zeigt?
Ich habe mir alle 10 Videos angesehen und sie mit meiner eigenen Interpretation verglichen. Natürlich habe ich dann auch jeweils meinen Senf dazugegeben. Logisch, ich hätte auch einfach meine Klappe halten können. Damit hätte ich mich wenigstens nicht in die Gefahr gebracht, mit Eurer Interpretation zu den einzelnen Songs zu kollidieren. Immerhin habe ich mich kurz gefasst und die Angriffsfläche minimiert. Fühlt Euch frei, mir zu widersprechen, beizupflichten oder was auch immer.
1 – Disorder
Leute, ich habe keine Ahnung, was die junge Dame, die sich da so lasziv im Pulsar CP1919 räkelt, für eine Mission verfolgt. Auf jeden Fall geht das voll an meiner Interpretation des Songs vorbei, der für mich von Ian Curtis Epilepsie handelt, der „Störung“ unter der junge Brite seit seiner Jugend litt. Ob es das Wort „Feeling“ ist, das den Regisseur dieses Stückes dazu inspiriert hat?
2 – Day of the Lords
Der staunende Kerl, der da mit engelsähnlicher Rückenbepflanzung durch Berlin wandert, wird offenbar mit zunehmender Strecke immer saurer und endet dann als Selbstdarsteller auf der Improbühne. Ich habe zwar nicht wirklich eine Idee davon, was Ian mit diesem Song meinte, ich weiß aber, dass dieses Video schick aussieht, aber am Song irgendwie völlig vorbeigeht.
3 – Candidate
Das Video beginnt wie eine Shampoo-Werbung. Die hübsche Rothaarige, die sich da losgelöst im Kreis dreht, hüpft, springt, tritt und boxt hat mit Sicherheit eine Interpretationsaufgabe bekommen, nur geht sie völlig am Gefühl des Songs vorbei, wie ich finde. Denn da wirkt Ian Curtis eigentlich sehr niedergeschlagen und kraftlos, von seinen Umständen und sich selbst erdrückt, anstatt kämpferisch und aufbegehrend. Also ich weiß nicht wirklich.
4 – Insight
Ein Lichtblick! Nicht nur, dass mir das Video künstlerisch sehr gefällt, auch komme ich gut mit seiner Botschaft klar, auch wenn die offensichtliche Bildsprache nicht zu passen scheint. Curtis soll mal gesagt haben, dass er sehr glücklich war, in einer Fabrik zu arbeiten, weil er so den ganzen Tag Zeit für seine Tagträume gehabt hat. „Insight“ passt dazu prima. Und das nicht nur, weil es in einer Fabrik beginnt.
5 – New Dawn Fades
Abgesehen vom Video ist der Song ein Höhepunkt auf dem Album „Unknown Pleasures“! Das Video hat eine schöne Bildsprache und passt für mich zu meiner Bedeutung des Songs, in dem es um die Gefühle nach einer Trennung zu gehen scheint. Curtis blickt zurück und merkt, wie falsch sich alles anfühlt. Er scheint darin zu erkennen, wie man aus Liebe die Unterschiede zu seinem Partner ignoriert und wie sie einen wieder einholen, wenn die Liebe langsam schwindet.
6 – She’s Lost Control
Gänsehaut Song! Tolles Video, irgendwie. Allerdings passt der Schauplatz so gar nicht zu meiner Erwartungshaltung eines britischen, kleinbürgerlichen Vororts. Der weitläufige Blick über die Skyline einer eindeutig amerikanische Stadt trübt mein Empfinden dann doch ein wenig. Anyway. She’s Lost Control handelt meiner Meinung nach von einem epileptischen Anfall und das Video passt irgendwie zum Song, auch wenn es nicht offensichtlich zur Thematik harmoniert. Es drückt jedenfalls gut aus, was Kontrollverlust bedeutet.
7 – Shadowplay
Schattenspiele? Ich habe mich immer schon gefragt, ob es genau das bedeutet. Nun ja, das Video geht für mich völlig an dem subjektiven Gefühl vorbei, das ich für den Song hege. Entfremdung, Hilflosigkeit und das Gefühl, etwas erreichen zu wollen, es aber nicht zu können. Vielleicht erzählt das Video davon, wie er nicht aus seiner Haut kann, sich anders zu fühlen, wie der Rest der Leute, die ihn umgibt. Das Video? Lief völlig an mir vorbei. Ein DJ und eine tanzende Menge? Also bitte. Ganz kurz, fast am Ende des Videos, könnte man von Entfremdung sprechen.
8 – Wilderness
Ja, hier greift die Bildsprache zunächst. Ein junger Mann spaziert durch verschiedene „Wildnisse“. Sie beginnt im Wald und endet auf einem regnerischen Rummelplatz. Das kann schon ganz schön wild sein. Dennoch bleibt es auch hier dem Song überlassen, mich zu packen, das Video schafft es nicht, auf gleichem Niveau zu rangieren.
9 – Interzone
Ein Kommentar zu dem Video bei Youtube bringt es auf den Punkt: „Das Video ist für die Leute, die sich ein Unknown Pleasures T-Shirt kaufen ohne eine Ahnung zu haben, wer Joy Division ist.“ Was haben wir da? Eine Superheldin (Wonderwoman?), Hollywood, andere Superhelden, Streit und Zank. Passt höchstens von der Schnittfolge zum Song und oberflächlich zum Text. Paranoia, Rebellion, Fremdsteuerung. Das kommt mir in den Sinn. Irgendwer schrieb, das sei eine Anlehnung an William S. Burroughs. Das ist mir aber zu intellektuell.
10 – I Remember Nothing
Ja tatsächlich fühle ich mich nach 9 Videos genau so. Ich kann mich an nichts erinnern, die Bilder der Videos verblassen einfach zum Gefühl der Musik. Das Video, in wunderschöner isländischer Kulisse, schießt Raketenartig am Song selbst vorbei. Möglicherweise dachte man bei „Violent“ daran, dass sich zwei Männer auf die Mappe kloppen und dann – mal in schwarz, mal in weiß – fast schon wieder zärtlich zueinander sind. Muss am Bart liegen. Am Song liegt es jedenfalls nicht. Ian Curtis lebte in seiner eigenen Welt, in seinen Tagträumen und verbrachte die Woche damit, der Welt zu entfliehen. Zwei Seelen in einem Körper, die jetzt wieder vereint werden sollten. Okay, wenn das mit bärtigen Ringern auf Island ausdrücken möchte, bitteschön.