Das NCN 2024, das bereits zum 17. mal stattfindet, ist Geschichte. Welche Band den Veranstaltern offensichtlich in diesem Jahr besonders am Herzen lag, warum es zu einem Eklat auf der Herren-Toilette kam und welcher Künstler bei mehr als 30 Grad Celsius blank zog, erfahrt ihr hier.
Das NCN-Festival im sächsischen Deutzen, unweit von Leipzig, habe ich erst seit 2020 auf dem Schirm. 2020 – das war noch mitten in der Corona-Pandemie. Während damals nach und nach ein Festival nach dem anderen absagt wurde, war das NCN schließlich die einzige nennenswerte Szeneveranstaltung, die in jenem Jahr stattfand. Also nichts wie hin.
Auf dem Veranstaltungsgelände im Kulturpark Deutzen durfte man sich damals aus Infektionsschutzgründen nur im Einbahnstraßensystem bewegen, was zur Folge hatte, dass man während eines Tages bestimmt ein Dutzend Mal im Kreis lief. Zum Bändchen am Eingang gab es einen Mund-, Nasenschutz im Festivaldesign. Das Stück Stoff dürfte heute unter NCN-Fans Sammlerwert besitzen. Verrückte Zeiten waren das. Das Engagement, mit dem die Veranstalter mitten in der Pandemie ihr Festival allen Widrigkeiten zum Trotz über die Bühne brachten, hat mir damals schwer imponiert. Seitdem fahren wir jedes Jahr zum NCN-Festival. Die drei Buchstaben stehen für Nocturnal Culture Night.
NCN 2024 – Zum vierten Mal im düsteren Märchenwald
Vier Tage lang verwandelte sich auch in diesem Jahr der Kulturpark in Deutzen in einen düsteren Märchenwald. Vor allem nachts, wenn sich die Dunkelheit über den Park legt und die Bäume von unten beleuchtet werden, entfaltet das Gelände seinen vollen Charme. Anders als viele große Düster-Festivals überzeugt das NCN-Festival mit einem sehr breiten Musikspektrum, das sowohl Stilempfinden als auch reichlich Wissen um die musikalischen Traditionen der Szene erkennen lässt. Von klassischem Gothic-Rock über Post-Punk, Horror-Punk, EBM, Synthie-Pop und Dark Wave sind alle Genres vertreten. Auch die Neofolk- und Neoklassik-Fraktion wird jedes Jahr bedient. Irgendein mal mehr, mal weniger bekanntes 80er-Urgestein wird auch immer aus der Versenkung geborgen. In diesem Jahr waren das Trans-X. Die hatten mal mit „Living on Video“ einen veritablen Hit. Klingelt’s?
Auf vier Bühnen gaben sich also am zweiten September-Wochenende etwa 60 Bands das Mikro in die Hand. Die Warm-up-Party am Donnerstag verpassten wir, am Freitag rollten wir am späten Nachmittag an und landeten vor der für experimentelle Darbietungen bekannten Kulturbühne, wo gerade die beiden Herren von Trepaneringsritualen die Bühne betraten. Vielleicht nicht die beste Wahl, um sachte ins Festival-Wochenende zu gleiten. Denn der brutale Industrial-/Dark Ambient-Sound dieses Schweden-Happens ist keine leichte Kost. Für die „Ritualmusik aus Göta Länder“ (O-Ton der Band) waren wir zu diesem Zeitpunkt einfach noch nicht bereit. Nachdem wir uns zehn Minuten vom Sänger hatten anbrüllen lassen, entschlossen wir uns zum geordneten Rückzug. Der Dark Wave-Sound der ebenfalls aus Schweden stammenden Abu Nein wirkte im Anschluss dagegen wie Balsam auf die Ohren.
Mit Klangstabil folgte an diesem Freitag der erste Höhepunkt des Wochenendes. Die Auftritte dieser süddeutschen Elektro-Band sind rar, die Erwartungshaltung des Publikums war entsprechend groß. Klar, dass Klangstabil ein Platz auf der Amphi-Bühne, dem größten Spielort des NCN-Festivals, sicher war.
Danach ging es mit der S-Bahn zurück nach Leipzig ins Hotel. Zum Festivalgelände gehört zwar ein großer Camping-Bereich. Wer auf Zelten aber keine Lust hat, muss zunächst ein Viertelstündchen zur nächstgelegenen Haltestelle marschieren, um dann mit anderen schwarzen Gestalten die halbstündige Fahrt nach Leipzig anzutreten. Die nächtlichen Heimfahrten können bei der richtigen Zusammenstellung der Sitznachbarn aber durchaus Unterhaltungswert haben.
Aus Schaden nicht klug geworden, begann für uns auch der Samstag vor der Kulturbühne. Statt Krach war diesmal allerdings Lagerfeuermusik mit Stormfagel angesagt. Nicht so aggressiv wie Trepaneringsritualen, aber nicht minder herausfordernd. Als der Sänger dieser Neofolk-Band den Textfetzen „against the modern World“ ins Mikrofon raunt, während ihm gleichzeitig etliche Smartphones entgegengestreckt werden, um den Auftritt für den nächsten Instagram-Post festzuhalten, entbehrt das natürlich nicht einer gewissen Komik.
Mit der Band Eivør ging es im Anschluss mit kontemplativen Klängen weiter. Während die Sonne zu diesem Zeitpunkt hinter den Bäumen verschwand, verzauberte diese Ausnahmesängerin von den Färöer Inseln das NCN-Publikum vom ersten Akkord an. Der Vergleich mit Kate Bush, der bei Eivør immer wieder gezogen wird, kommt schon hin, was die Stimme angeht. Musikalisch bekamen die Zuhörer eine Mischung aus Wikinger-Rock, Ethno-Pop, Klassik und Folk geboten. Wer bei diesem Auftritt keine Gänsehaut-Momente spürte, hat kein Herz.
Nach einem umjubelten Auftritt ließ sich Festival-Chef Holger sogar dazu hinreißen, auf die Bühne zu kommen, um wiederum dem Publikum zu danken, dass es den Auftritt von Eivør derart zu würdigen wusste. Offenbar hatte zuvor Unsicherheit darüber bestanden, ob die Band ins Line up passen würde. Warum überhaupt? Eivør passten sehr hervorragend rein. Danke dafür!
Bei Die Selektion zog das Tempo deutlich an. Als Alleinstellungsmerkmal dieser deutschen Band dient eine Trompete, die clever in den Sound aus EBM, Post-Punk und New Wave eingewoben wird. Sänger Luca Gillian könnte man Stunden lang zuschauen, wie er über die Bühne tobt. Dank gut sitzender Anzüge und im Partnerlook gebundener Seiden-Halstücher agierten Die Selektion auch modisch am Puls der Zeit und erhalten an dieser Stelle den Preis für den stylischsten Act des Festivals.
Gedanken um sein Bühnenoutfit hatte sich auch IAMX-Mastermind Chris Corner gemacht. Angesichts tropischer Temperaturen, selbst in der Nacht, hatte der Sänger der britischen Kultband zu einem popofreien kurzen Höschen gegriffen. Wer mag es ihm übel nehmen? Den ganzen Tag über hatte das schwarzgewandete Völkchen mit der Sonne gekämpft und viel Haut, manchmal sehr viel Haut, gezeigt. Da konnte einem das blanke Gesäß von Herrn Corner ganz sicherlich nicht mehr schocken. Nachdem seine Soloauftritte hinter Keyboardtürmen zuletzt auf ein geteiltes Echo gestoßen waren, war mit Bandbegleitung an diesem Abend die IAMX-Welt wieder in Ordnung. Völlig zu Recht hatten IAMX einen der Headliner-Slots ergattern können. Und sie enttäuschten nicht.
NCN 2024 – Seltsam fremde Publikumsanimation
Der letzte Festival-Tag begann auf Bänken unter Bäumen. Beides ist auf dem Festivalgelände reichlich vorhanden. Eine Stunde und drei, vier Aperol Spritz später waren wir in der passenden Stimmung für etwas Synthie-Pop. Also auf zu Frozen Plasma vor die Wald-Bühne, wo Sänger Felix Marc das Publikum längst im Griff hatte. Da wurde eifrig im Takt mitgeklatscht, da wurden die Arme über den Köpfen von links nach rechts geschwenkt, und da wurde textsicher ins Mikrofon gebrüllt, das Felix Marc dann und wann den ersten Reihen entgegenstreckte.
Für jemanden, der in den 90er Jahren mit einigermaßen spaßbefreiter Neuer Deutscher Todeskunst und vornehmen Gothic-Rock sozialisiert wurde, zu einer Zeit also, als höflicher Applaus das höchste der Gefühle war, bleiben solche Publikumsanimationen seltsam fremd. Und vermutlich hätte es nochmal zwei, drei Aperol benötigt, um sich hier einzureihen und die Hände zum Himmel … Also lauschten wir vom Rand aus den vergleichsweise fröhlichen Klängen.
NCN 2024 – Der Eklat auf der Herrentoilette
Danach ging’s ins Toilettenhäuschen (der Aperol, genau), wo sich auf der Herren-Toilette gerade ein verdattertes Damen-Trüppchen zusammenbrüllen lassen musste. Ein Mann mit Zylinder auf dem Kopf unterrichtete die Damen, dass sie sich auf der Herren-Toilette und damit sozusagen auf feindlichem Gebiet befänden und das Örtchen sofort zu verlassen hätten. Sehr laut und sehr uncharmant lief das ab. Umgekehrt würde so etwas schließlich auch nicht toleriert, wurde vom Mann mit Zylinder doch noch ein Argument vorgebracht. Stimmt schon, möchte man antworten, aber Männer müssen in der Regel auch nicht so lange an ihren Toiletten anstehen. Aus Gründen. Die weiblichen Gäste auf dem Herren-Klo ließen sich vom Chauvi-Ausraster dann auch nicht weiter beeindrucken.
Eine Überraschung bot an diesem Tag schließlich das aus Istanbul stammende Duo Ductape. Die noch relativ junge Band vereint Post-Punk-Sound und Gothic-Narrative und gehört damit zu einer neuen lebendigen Szene, die das Genre modern interpretiert. Schade, dass sich vor der Bühne, beziehungsweise auf dem gesamten Festival trotzdem nicht mehr jüngere Leute versammelt hatten.
Die Vergreisung der Szene war auch auf dem NCN-Festival allenthalben zu spüren. Da tröstet es nur wenig, dass die meisten der hier versammelten Besucherinnen und Besucher vermutlich immer noch mehr Rock `n` Roll im kleinen Finger haben, als ein Vertreter der Gen Z im ganzen Körper.
Franky Future und sein Fazit
Wer Wert auf musikalische Vielfalt legt, Festival-Atmosphäre unter freiem Himmel liebt und auch mal einen Mückenstich tapfer aushält, ist auf dem NCN-Festival im Kulturpark Deutzen (nahe Leipzig) bestens aufgehoben.
V2A
NCN 2024 – Amphi Bühne bei Nacht
Eivor
Bragolin
Escape with Romeo
Escape with Romeo
Trans-X