Heute ist Donnerstag, die Spannung und Vorfreude wächst ins unermessliche. Hier und da stöbert man noch in dem WGT-Programm, teilt auf Facebook seine Reisevorbereitung oder seinem Unmut darüber, nicht dabei sein zu können. Für die Daheimgebliebenen, die Unterwegsleser, die Nicht-Genug-Krieger und alle anderen hier ein Rückblick auf die Besucher des Wave-Gotik-Treffens 2015. Ein Artikel, den ich im Pfingstgeflüster seinerzeit veröffentlichen durfte und für den Marcus Rietzsch, der Herausgeber des Magazin, die großartigen Bilder zur Verfügung stellte, mit denen dieser Beitrag versehen ist.
Jugendkultur? Das ich nicht lache. Die Zeit verfliegt, während ich an der Flaniermeile der AGRA sitze und das schillernde Treiben beobachte. Der Laufsteg der Eitelkeiten, wie ich den Weg zwischen Eingang und Hauptbühne liebevoll nenne, ist ein Kaleidoskop der heutigen Gothic-Szene, ob es einem gefällt oder nicht. Ein wenig ärgere ich mich darüber, dass ich meine Zeit damit verschwende, andere zu beobachten, eigentlich wollte ich mir doch irgendeine Ausstellung ansehen, einem Vortrag lauschen oder einer sonstigen, altersgerechten und möglichst kulturellen Aktivität nachgehen. Und nun sitze ich hier und merke, dass diese etwa 500m asphaltierter Straße die größte und interessanteste Ausstellung des WGT ist. Hier kann man sehen, wie die Gothics in den 80ern waren, wie die 90er ihre Spuren hinterließen und wie mit den 2000ern immer merkwürdigere Stile einflossen. Es gibt wohl keinen besseren Platz, um die letzten 35 Jahre Szene an sich vorbeiziehen zu lassen. Rein äußerlich versteht sich. Die Mischung aus Zeltplatz, Hauptbühne und Einkaufstempel bringt sie alle hierher.
Ein älterer Mann schlurft an mir vorbei – er ist vielleicht Anfang 50 – sein schwarzer Wuschelkopf, der dezent aufgetragene Kajal und verschmierter rote Lippenstift sind eindeutig. Den Stoffbeutel, auf dem das deutlich jüngere Abbild seines Idols prangt, hätte er sich sparen können, die Ähnlichkeit ist verblüffend. Verwechslung ausgeschlossen. Sogar das Alter zum heutigen Robert Smith dürfte passen.Gleich dahinter ein blutjunger und hochtoupierter Schönling, der mit akkurat gekalktem Gesicht und auslandenden Kajal-Landkarten an den Augen die Blicke auf sich zieht. Sein Äußeres entspricht dem Idealbild einer Zeit, die er unmöglich miterlebt haben kann. Hier und da werden Kameras hochgehalten, vornehmlich von Menschen mittleren Alters, die wohl in dem jungen Mann ein Abziehbild ihrer Vergangenheit entdecken und einer Zeit nachtrauern, in denen die Leidenschaft der Selbstinszenierung noch nicht von den vermuteten Unzulänglichkeiten des eigenen Spiegelbildes erstickt wurden. Und während sich die Objektive auf knackige Halbnackte, ausladende Reifröcke oder grunzende Orks stürzen, blicke ich mich um und mir fällt auf, wie viele Generationen sich auf dem WGT bewegen.
Jugendkultur? Ich muss schmunzeln als mir klar wird, dass die Gothic-Szene, in der sich in den 80ern die Jugendlichen durch schwarze Kleidung, leichenblasse Gesichter, Kreuze und nächtliche Friedhofsbesuche von den Erwachsenen und ihrer Welt abgrenzten nun durch genau diese bevölkert wird. Auf dem Randstein der Flaniermeile sitzen Väter, die ihren Söhnen erklären, wie sie einst herumgelaufen sind als sie noch Haare hatten, während Mütter ihren Töchtern zu erklären versuchen, wieso manche Frauen an Halsbändern über das Gelände geführt werden.
Für das Pfingstgeflüster habe ich mit fünf Generationen gesprochen, erfahren wie sie in die Szene gekommen sind und wie sie sich im Laufe der Zeit entwickelt haben. Ich sprach mit ihnen über das Alter, einen möglichen Generationenkonflikt und über Rebellion. Ich wollte etwas über die Menschen hinter den Bildern erfahren.
WGT der Generationen: Irene (59) & Rüdiger (70)
Unser Einstieg in die Szene erfolgte sehr spät. Im Alter von 61 (Rüdiger) und 51 (Irene) hatten wir sehr viele pflichterfüllte Jahre mit Kind und pflegebedürftigen Angehörigen hinter uns und fingen an, wieder an uns zu denken. Wir mochten Depeche Mode und gingen zu DM-Partys. Das wurde mit der Zeit zu eintönig und wir kamen durch Bekannte auf die Musik der Schwarzen Szene. Eine Offenbarung nach der anderen tat sich auf. Wir waren immer schon „anders“ und bei unserem ersten schwarzen Festival, dem Blackfield Festival, hatten wir das Gefühl, unter Gleichgesinnten zu sein. Heute tragen wir ausschließlich Schwarz und entdecken immer wieder neue – wahrscheinlich schon ewig bestehende – Bands.
Vom Stil her waren wir seit jeher etwas nostalgisch und romantisch. Wir lieben Antiquitäten. Kunst hat uns schon immer fasziniert. Wir lieben Städte wie Venedig oder Wien, gehen gerne auf alten Friedhöfen spazieren und besuchen Museen. Verändert hat sich, dass wir versuchen, noch bewusster zu leben. Wir sind inzwischen Vegetarier und Irene hat angefangen, Gedichte zu schreiben. Unsere Gesellschaft krankt an Lieblosigkeit und Gleichgültigkeit, an Ignoranz im kleinen und im großen. Es gibt Ungerechtigkeiten in sämtlichen Bereichen. Es gibt so viel zum Empören. Wer am Boden liegt, wird noch getreten und rücksichtslose „Erfolgsmenschen“ werden gefeiert.
Unsere Rebellion ist es, dass wir uns nicht vorgeschriebenen Normen anpassen. Wir versuchen, mit uns und der Umwelt in Frieden zu leben, solange uns das Verhalten der Mitmenschen nicht so empört, dass wir auf die Barrikaden gehen müssen. Von jüngeren Leuten lernen wir, alte Verhaltensmuster zu hinterfragen und die Dinge aus einer anderen Perspektive zu sehen. Viele junge Leute sehen uns andersherum als Vorbild. Zum einen, weil wir schon seit 45 Jahren zusammen sind und weil wir auch in unserem Alter immer noch die Nächte durchtanzen und damit zeigen, dass uns Menschen keine Grenzen auferlegt sind und das Leben mit 30 Jahren noch lange nicht vorbei ist.
Im allgemeinen haben wir keinerlei Probleme mit Generationsunterschieden, ganz im Gegenteil. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass junge Menschen offener und nicht so festgefahren sind. Probleme gibt es mit Gleichaltrigen außerhalb der Szene, denn die sind eher am Haben als am Sein orientiert. So haben wir schon erlebt, dass wir anhand unseres Autos bewertet wurden. Eigentlich waren wir schon Gruftis, bevor es den Begriff und die Szene gab. Diese Lebensweise entspricht unserem Gefühl – innen und außen. Wir werden immer Gruftis bleiben.
WGT der Generationen: Ira (47) & Tom (39)
Madonna hat mich damals mit ihrem Style inspiriert. Ich begann, mir die Nägel mit Filzstift schwarz anzumalen und versuchte, möglichst viele schwarze Klamotten zu bekommen. Dass es so was wie eine „Schwarze Szene“ gibt, wusste ich damals noch gar nicht. In der BRAVO hab ich dann immer wieder Bands aus der Richtung gefunden, die mich faszinierten. Im Plattenladen suchte ich mir die Bands raus, deren Platten-Cover irgendwie gruftig aussahen. So entwickelte sich langsam mein Stil. Irgendwann traf ich zwei Gleichgesinnte. Wir beschlossen, den damals einzigen schwarzen Club der Schweiz, den „Big Apple“ in Zürich zu besuchen. Schon damals kam es sehr auf die Optik an. Man gehörte nur „dazu“, wenn man das richtige Outfit anhatte. Diese Outfits konnte man aber nicht einfach kaufen. Wir färbten Blusen um, bastelten Kreuze aus Draht und waren sehr kreativ, was das Styling anging. Es ging darum, eine gemeinsame Ästhetik zu genießen, gute Musik zu hören, eine gesellschaftlich nicht anerkannte Weltsicht zu teilen und eine alternative Art der Selbstverwirklichung zu finden.
Wir sind uns seit damals treu geblieben, haben uns eigentlich nicht verändert, sondern unseren Lebensstil ausgebaut. Wir haben unser eigenes Party/Konzert- Label gegründet (The Graveyard Scene/Batmeet), ich (Ira) habe mein eigenes Modelabel (By Sioxsira) und wir sind auch beide noch als DJs tätig. Wenn wir etwas nennen sollen, dem wir nachtrauern, dann ist das wohl der Zusammenhalt in der Szene. Raucherclubs waren auch cooler als Locations heute und es könnte heute mehr neuen Sound geben. Herzblut, Musik und Lebenseinstellung halten uns in der Szene, auch wenn wir uns nicht als „Gruftis“ bezeichnen. Das ist uns zu oberflächlich. Wir leben unser Leben, wie es uns gefällt.
WGT der Generationen: Ronny (40)
Mein Einstieg in die Szene begann durch einen Freund, der sich 1993 Lacrimosas Album „Einsamkeit“ kaufte. Wir haben es zusammen gehört und ich war sofort hin und weg. Die Vertonung der Texte und die Aufmachung der Band, für mich eine Offenbarung – ich war fasziniert. Ich habe davor schon Gedichte und Gedanken für mich niedergeschrieben, die ich in den Texten von Lacrimosa wiedergefunden habe. Mich faszinierte nicht nur die Musik, sondern auch der Mensch Tilo Wolff – und so begann ich, alles zu verändern. Ich färbte mir die Haare schwarz, fügte eine blonde Strähne hinzu und änderte meinen Kleidungsstil. Die Farbe Schwarz zog ein, mein damaliges Zimmer veränderte sich in eine dunkle Höhle. Trotzdem blieb ich ein fröhlicher und geselliger Zeitgenosse.
Wie damals faszinieren mich auch heute noch die nachdenklichen Texte und die Melodien der Bands und das Erscheinungsbild der „Gruftis“. Leider kann ich keine Haare mehr auftoupieren, da sie etwas weniger geworden sind. Gern erinnere ich mich auch an mein erstes Konzert innerhalb der Szene. Damals im sogenannten „Kraftwerk“ zu Goethes Erben. Meine ersten Schminkversuche waren grottig, aber ich hatte Spaß und fühlte mich wohl. Mit den Jahren lernte ich dazu, was das Outfit und die Schminkkünste betraf.
Gothic bedeutet ja auch, sein Inneres nach außen zu tragen – seine Gefühlswelt in Texten und Songs wiederzufinden, wobei jeder selbst auf seine Weise Songs interpretieren kann. Ich lebe mein „schwarzes Dasein“ aus und liebe es so, wie es jetzt ist. Mit der Zeit lernte ich auch die musikalischen Facetten der Szene kennen und entdeckte die „neue deutsche Todeskunst“, „Darkwave“ und „Gothic Rock“ für mich und finde auch einiges aus der Neofolk-Ecke spannend.
Meinen Eltern gefiel meine Veränderung natürlich nicht, was mir aber heute immer noch egal ist. In dieser Zeit outete ich mich als homosexuell, womit meine Eltern zusätzlich zurechtkommen mussten, denn ich bin ihr einziges Kind. Mein Stil hat sich eigentlich nicht sehr verändert. Ich mag immer noch das sogenannte Oldschool Grufti-Outfit. Entdeckt habe ich mit den Jahren eine Leidenschaft für Fledermäuse, eine Leidenschaft für Pikes, eine Leidenschaft für Tattoos, eine Leidenschaft für alles Dunkle und eine Leidenschaft für mein Leben. Ich fühle mich wohl und das auch über die Musik hinaus. Ich habe viele Dinge für mich entdeckt: Literatur, schöne Orte und kleine Partys und Clubs fernab der breiten Masse. Doch das Hauptaugenmerk bleibt für mich die Musik.
Ich stelle immer wieder fest, dass gerade in der Schwarzen Szene alle Altersstufen vertreten sind und ein friedliches Miteinander herrscht. Speziell das WGT macht deutlich, wie Jung und Alt harmonieren können. Als größte „Entwicklung“ würde ich vielleicht die sozialen Netzwerke bezeichnen, so kann man im Kontakt bleiben oder in Kontakt kommen, mit lieben Menschen die das gleiche Interessengebiet haben, die einen verstehen, mit denen man in die Tiefe gehen kann und einen einfach so nehmen, wie man ist. Rebellion ist nicht so meins. Ich bin schwul und Grufti – das ist schon Rebellion an sich. Mit meinem Äußeren möchte ich ja nicht rebellieren und auffallen eigentlich auch nicht. Ich lebe die Szene, in der ich mich befinde, und da gehört halt mein Erscheinungsbild dazu.
Der Beruf des Altenpflegers ist für mich Tribut an die Szene und eine Berufung. Damit meine ich die Akzeptanz der Andersartigkeit. Ich möchte die Neugier der Außenstehenden dazu benutzen, ihnen näher zu bringen, nicht über einen Menschen zu urteilen, nur weil er ein wenig „anders“ ist als der Rest der Menschheit. Ich werde oft von Bewohnern oder Angehörigen gefragt, ob die Dinge, die in den Medien immer wieder mit Gruftis in Verbindung gebracht werden, wirklich so sind. Ob wir in Särgen schlafen oder auf den Friedhof gehen, um Gräber zu schänden. Ich kläre dann geduldig auf und ernte meist ein „Dankeschön“.
Seit zehn Jahren arbeite ich jetzt in der Dauernachtwache und das nicht nur, weil ich die Nacht und das Dunkel liebe, sondern auch weil man die Ruhe und die Zeit hat, um auf die Bewohner einzugehen, die am Tag nur schnell abgefertigt werden. Auch das Thema „Sterben und Tod“, mit dem ich fast täglich konfrontiert werde, gehört mit zur Szene und zu meinem Beruf. Als ich damals meine Ausbildung machte und zum Schluss meine Hausarbeit erstellen musste, war genau das mein Thema. Leider schieben viele dieses Thema beiseite, obwohl es zum Leben dazu gehört, genauso wie essen und trinken. Ich habe schon viele Menschen bis zum letzten Atemzug begleitet – auch mein geliebter Partner, mit dem ich sieben Jahre verheiratet war, starb 2011 in meinen Armen. Wenn ich sterbe, werde ich meinen Ehemann endlich wieder treffen. Aber bis dahin hat es hoffentlich noch ein bisschen Zeit. Auch wenn es banal klingt: „Carpe Diem“ ist und bleibt meine Philosophie. Man sollte aus jedem Tag das Beste machen und ihn genießen, denn es geht manchmal schneller als man denkt und das Leben wirft einen aus der Bahn.
Die Musik, die Kleidung, mein Wohnstil, meine Freunde und Bekannte: Die Szene ist mein Leben! Klar verliert man mit der Zeit zum Beispiel die Haare oder verändert sich körperlich, aber dem Motto „Einmal Grufti, immer Grufti!“ stimme ich zu 100% zu.
WGT der Generationen: Jelena (27)
Ein glücklicher Zufall brachte mich in die Szene. Meine zweite Heimat war damals das „Hades“, ein alternativer Jugendclub, in dem vor allem Metal/Rock lief. Da war eines Abends „Schwarze Nacht“, in der ich entdeckte, dass es eine „Schwarze Szene“ gibt und dass ich mich darin ziemlich wohl fühle. Ein fester eigener Stil und Musikgeschmack waren damals noch nicht ausgebildet, das hat schon ein paar Jahre gebraucht. Im großen und ganzen habe ich mich immer mehr in der Zeit zurückbewegt, sowohl musikalisch als auch optisch. Ich habe das Gefühl, dass damals mehr Zusammenhalt da war und dass man in größeren, heterogeneren Gruppen feierte. Das liegt aber sicher daran, dass man in seiner Anfangszeit einfach noch wenig differenziert ist. Heute hätte ich keine Lust mehr, 90 % des Abends Musik zu hören, die mir nicht gefällt und bin daher froh, dass inzwischen jede Sparte ihren eigenen Floor hat.
Früher stand die Rebellion definitiv deutlicher im Vordergrund. Heute ist das nicht mehr der Fall, ich muss nicht mehr aus Prinzip dagegen sein. Von der Mehrheit der Gesellschaft wird man aber mit diesem Aussehen natürlich trotzdem als rebellisch angesehen.
Für mich ist die Kleidung, die ich im Alltag tragen muss, reine Verkleidung und ein notwendiges Übel. Wohl fühle ich mich damit überhaupt nicht, weshalb ich auch nicht denke, dass mich das auf Dauer glücklich macht. Ich war früher so naiv, zu glauben, dass Tiermedizin weniger spießig ist als Humanmedizin, aber man wird schnell eines Besseren belehrt. Auf lange Sicht zieht es mich daher ins Labor, wo man keinen Kundenkontakt hat und sich optisch nicht verbiegen muss.
Ich denke, es gibt kaum eine Szene, in der so viele Altersgruppen anzutreffen sind. Meine Freunde sind von 5 Jahre jünger bis 25 Jahre älter als ich, dabei spielt das Alter überhaupt keine Rolle. Was zählt, sind gemeinsame Interessen. Einen Generationenkonflikt gibt es meiner Meinung nach nicht, wenn dann eher zwischen den verschiedenen Strömungen der Szene. Ich bin fast mein halbes Leben in der Schwarzen Szene und habe die prägenden Jugendjahre in ihr verbracht. Das ist meine Identität. Ich glaube nicht, dass sich das noch ändern wird.
WGT der Generationen: Franziska (20) & Stephan (20)
Franziska: Ich begegnete der Schwarzen Szene zum ersten Mal, als eine neue Schülerin in meine Klasse kam. Sie war ruhig und interessierte sich – anders als die anderen – nicht für neuste Trends und Klatsch und Tratsch. Ich verstand mich gut mit ihr und irgendwann nahm sie mich mit in eine Szene-Bar. Dort fühlte ich mich gleich willkommen. Die Musik gefiel mir auf Anhieb gut. Bis dahin hatte ich überwiegend Metal gehört, nun wurde ich nach und nach Teil der Schwarzen Szene. Zu Beginn war ich unsicher und musste mich selbst finden, musikalisch und in Bezug auf den Stil. Gemeinsam mit meinem Freund probierte ich mich in der Batcaver-Richtung aus. Inzwischen tendiere ich – tendieren wir – aber mehr zum Ursprünglichen, dem Wave. Musik und Styling waren damals im großen und ganzen schöner. Es wurde nicht so viel nackte Haut gezeigt, es ging nicht um Erotik – das finde ich ästhetischer.
Durch meinen Oldschool-Stil komme ich schnell mit den älteren Gruftis ins Plaudern, weil ich auf die Frisur oder die Pikes angesprochen werde. In Sachen Styling orientiere ich mich gerne an früheren Fotoaufnahmen meiner älteren Freunde und lasse mich inspirieren. Ich wiederum kann manchmal den „Alten“ ein paar Tips geben, da es in Sachen Kosmetik und bei den Haarstyling-Produkten doch viele Neuheiten gibt. Beispiele: Styling Powder, was das Toupieren einfacher macht. Davon sind die meisten sehr begeistert. Auch in Sachen Musik tausche ich mich gerne mit den Älteren aus. Ich kenne nicht alle Bands von früher und die Älteren beschäftigen sich oftmals nicht mit der neueren Musik und wissen manchmal gar nicht, dass die Szene doch noch so stark vertreten ist.
Früher hätte ich natürlich nie geglaubt, dass ich irgendwann mit Leuten, die meine Eltern sein könnten, bis morgens um 5 Uhr in der Disco feiere und Spaß habe. Irgendwie dachte ich damals, dass man mit 50 abends vor dem Fernseher sitzt und Tatort schaut. Doch das Alter spielt in der Szene keine Rolle. Ich habe auf Depeche-Mode-Partys mit einem Altersdurchschnitt von über 40 genauso viel Spaß wie auf Partys mit jüngerem Publikum.
Ich sehe mich in der Szene, weil mir die Musik gefällt und ich mich damit identifizieren kann. Ich mag die familiäre Atmosphäre und ich find es toll, dass es in unseren Clubs so friedlich zugeht. Rebellion spielt für mich – was die Szene angeht – keine Rolle. Natürlich gibt es Dinge, die ich nicht für richtig halte und für die ich mich einsetze, aber das ist etwas, das ich nicht ständig nach außen tragen muss und es hat auch nicht viel mit der Szene zu tun. Wahrscheinlich werde ich in meiner Freizeit irgendwann etwas Farbiges tragen oder meine Haare an den Seiten nachwachsen lassen, aber das ändert nichts am Grundgedanken. Einmal Grufti – immer Grufti!
Stephan: Auch ich hab zu Beginn Metal gehört, bevor ich von der Schwarzen Szene erfuhr. Ich recherchierte im Internet und informierte mich, kaufte mehr und mehr schwarze Kleidung, trug mein Haar länger und irgendwann rasierte ich die Seiten aus. Gleichzeitig orientierte ich mich musikalisch, hörte anfangs Bands wie Oomph!, später dann Depeche Mode. Die fand ich klasse und ich suchte im Internet nach ähnlichen Bands, die mir alle sehr zusagten. Mein erster richtiger „Stil“ war wohl der Batcave. Heute sehe ich mich als Waver.
Ich finde es spannend auf Festivals oder in der Disco ältere Szenegänger zu treffen und mit ihnen über die vergangene Zeit zu plaudern. Zum Beispiel erzählte mir ein Bekannter, daß er 1989 fertig gestylt, mit gestellten Haaren drei Stunden auf dem Mofa zu einer Band gefahren ist und nach dem Konzert wieder zurück. Bis dato kannte ich die Band noch nicht und jetzt möchte ich sie in meiner Musiksammlung nicht mehr missen.
Natürlich hat die ältere Generation Probleme mit der Entwicklung der Szene, da sie sich immer mehr von den Ursprüngen entfernt, ich sehe jedoch keinen wirklichen Generationenkonflikt. Ich begrüße es, dass man in letzter Zeit immer mehr Pikes-Träger sieht und sich die Szene wieder mehr für ihre Ursprünge interessiert – gerade Leute, die z.B. über die Cyber-Schiene gekommen sind, sieht man nun wieder mehr Schwarz tragen. Man interessiert sich mehr für die alte Musik. Die Liebe zur Musik ist es auch, die für mich die Szene ausmacht, das Zusammensein mit Freunden und die Festivals. Ich mag das stundenlange Styling und liebe es, währenddessen Musik zu hören und dann in die Disco zu fahren, um bis in die frühen Morgenstunden zu tanzen. Einmal Grufti, immer Grufti!
Für immer schwarz?
Gothic ist immer noch eine Jugendkultur, sie bietet dem Nachwuchs vielfältige ästhetische Ausdrucksformen, um sich von der Welt der Erwachsenen abzugrenzen. Die Szene ist immer noch ein kreativer Spielplatz, auf dem man sich ausprobieren kann. Immer neue Formen der Identitätssuche erschaffen ständig neues Abgrenzungspotential. Ausrasierte Haare, schwarze Kleidung, Schminke und umgedrehte Kreuze reichten in den 80ern aus, um sich seine eigene Welt zu schaffen. Damit schockiert man heute niemanden mehr. BarbarasHaarstudio macht jedem einen anständigen Sidecut, unzählige Schminkanleitungen machen den „Siouxsie-Look“ zum Kinderspiel und bei H&M gibt es Oberteile mit Petruskreuzen zum Schnäppchenpreis.
Heute sind das Spiel mit der Geschlechterrolle, die Verkörperung von fiktiven Charakteren oder möglichst extreme Körpermodifikationen Stein des Anstoßes. Die Jugend findet immer einen Weg sich abzugrenzen.
Gothic ist auch eine Erwachsenenkultur, denn neben der Eigenschaft, sich ästhetisch vom Rest der Gesellschaft abzugrenzen, bietet die Szene auch Inhalte, die vielen Menschen auch über ihre Jugend hinaus in der Szene halten. Was die Musik und die Künstler auf der Bühne seit den 80ern anstoßen, wird aufgegriffen und als Szene-Inhalt adaptiert. Daraus ist im Laufe der Jahre ein breites Spektrum an Inhalten gewachsen, das nahezu von jeder Generation gelebt werden kann. Morbide Kunst, schaurige Literatur, mystische Orte oder auch Gruselfilme und düstere Hörspiele. Viele empfinden das als sinnstiftend und werden selbst kreativ tätig. Sie beginnen ihre Kleidung selbst zu schneidern, schreiben Gedichte oder Geschichten, beginnen mit Malerei oder Photographie. Bei einigen wachsen daraus auch Überzeugungen und Weltanschauungen.
Einen Generationenkonflikt gibt es nicht, die Szene bleibt konfliktscheu und profitiert lieber voneinander, als Energie an Unabänderliches zu verschwenden. Gothic ist für Jung und Alt gleichermaßen erlebbar. Kraft, Ausdauer oder besondere körperliche Voraussetzungen sind nicht nötig, auch Talent oder Geschick sind nicht unbedingt erforderlich. Okay, die Sache mit den Haaren, das ist übel. Falten sind auch doof. Schwamm drüber.
h
Wunderbar, das war im 2015er Pfingstgeflüster einer meiner Lieblingsartikel! Dankeschön nich einmal für die Arbeit, die du dir damit gemacht hast. Mit Freude und ein wenig Wehmut werde ich ihn auch hier nochmal lesen. :)
Ein wirklich schöner Artikel, auch die Fotos gefallen mir sehr. Interessant auch die Parallelen zwischen den verschiedenen Generationen, die das Zusammenspiel vermutlich auch erst möglich macht. Gemeinsame Interessen und Vorlieben schweißen eben zusammen, egal welches „Baujahr“ der Mensch ist.
Hut ab vor Irene und Rüdiger, davon können sich manche ihrer Generation eine Scheibe abschneiden (die so herrlich einfallslos dem Rentner-Beige frönen und allenfalls mal an Kaffeefahrten teilnehmen). Es kommt wirklich drauf an, dass man offen für Neues, neugierig und unternehmungslustig bleibt, dann sind Zahlen nebensächlich. Meine Tante ist auch so jemand, die ist Jahrgang 1941, geht aber noch auf Segeltörns und weite Reisen (Kuba, China, Russland…), hält sich sogar während der Ausheilung eines Beinbruchs mit Yoga fit und lässt sich selbst von diversen Zipperlein nicht so schnell unterkriegen. Andere hingegen jammern und bemitleiden sich selbst und schaufeln sich durch Antriebs- und Interessenlosigkeit vorzeitig ihr (inneres) Grab.
Großartiger Artikel, der wird gleich mal als „Standardwerk“ abgespeichert :-)
Ein Wundervoller Artikel. Ja da Denkt man gleich selbst wieder zurück…..