Der ewige Kampf innerhalb einer mittlerweile bunt zusammengemischten Szene gipfelt in der Regel auf der Tanzfläche, wenn man sich aufgrund genreübergreifendem Liedguts dort begegnet. Gerade im elektronischen Teil des breiten Fächers schwarzer Musik finden sich viele Stücke, zu denen die meisten der unter dem Schirm der Szene gesteckten Untergruppierungen tanzen. „Chrome“ von VNV Nation beispielsweise ist bei Cybern, Goths und solchen die es werden wollen, gleichermaßen beliebt. In der Regel geht man sich aber gepflegt aus dem Weg und frönt seinen ganz eigenen Bewegungsabläufen und gibt sich einer ständigen geistigen oder verbalen Abwertung des jeweils anderen Tanzstiles hin. Im ungleichen Kampf der Randgruppen sollte Humor das verbindende Element bleiben.
„Nehmt es mit Humor und euch nicht so wahnsinnig wichtig.“ schrieb zum Abspann seines Machwerkes. Zustimmend nickte ich vor dem Rechner und lehnte mich zufrieden in Stuhl zurück. Einige Tage später veröffentlichte er dann mit „Riding the Dark Wave“ einen großartigen Zusammenschnitt schwarzer Eindrücke der 80er und 90er, in denen auch Tanz ein zentrales Element ist. Grund genug, einmal näher hinzuschauen und den Tanzstil vergangener Zeiten unter die schwarze Lupe zu nehmen.
Wie passend, das sich der UniSPIEGEL sich zeitnah mit dem Thema „Eins, zwei, Gothictanz“ mit der Idee, Standardtänze auf die schwarzen Tanzflächen zu bringen, auseinandersetzt: „In Kampfstiefeln, mit viel Kajal und Spitze drehen sich düstere Pärchen in ganz traditionellen Schritten zu harten Rhythmen unter der Anleitung gruftiger Tanzlehrer.“ Bevor die Szene mit ernst gemeinten Artikeln zur einer Karikatur ihrer selbst mutiert, machst du es lieber, denn Discofox, Cha-Cha-Cha, Samba, Rumba und Jive sind nicht wirklich die versprochene Bereicherung, von der Tanzlehrer Victor spricht: „Standardtanz ist eine Bereicherung – auch oder gerade für die schwarze Szene.“
Das „Jasmin“ und „Lukas“ ihren richtigen Namen nicht nennen wollen, liegt aber nicht „der Berührungsangst der Gesellschaft, die immer noch so sehr vor dem düsteren Ambiente der Gothics zurückschreckt“, sondern vielleicht an der Tatsache, in einer selbsternannt individuellen Szene einen Standard-Tanz zu erlernen um sich damit genau den Dogmen zu unterwerfen, die man sonst durch Outfit und Dasein so vehement ablehnt. Immerhin fühle ich mich mit meiner Ablehnung nicht allein, denn Tobikult sieht die Sache ganz genau so. In meinem womöglich kranken Sinn von Ästhetik und Stil haben Grufties so auszusehen und zu tanzen:
0:36 – 0:45 | Erotischer Ausdruckstanz. Ein sehr ernst zu nehmende Form gruftiger Bewegungsaubläufe. Die Augen sind geschlossen, kein lächeln stört das morbide Gesamtbild, der Kopf ist gewohnt leicht nach vorne geneigt. Hände und Arme umschließen das Gefühl eins mit der Musik zu sein und zeigen gleichzeitig die ablehnende Haltung gegenüber der Gesellschaft. Die Bewegungen sind ruhig, elegant und schön anzusehen. Unterbrochen wird das ganze durch energische Mundöffnung, die den Biss in den Hals der Opfer zeigt und dadurch vor allem beim Männchen für Anziehungskraft sorgen sollen. (Erneut zu sehen von 1:55 – 2:09)
0:51 – 0:59 | Die Aufmerksame. Ihre Bewegungen sind passend, aber nicht aufregend. Sie sind einstudiert und sitzen wie das Vater unser. Die Aufmerksame (wahlweise auch der Aufmerksame) beobachtet seine Umgebung sehr genau, gleich fällt ihr die schwer zu erkennende Kamera auf, die sie mit ihrem Blick fixiert: „Ja! Schau mich an! Ich tanz am Besten!“ Auf der Suche nach weiteren potentiellen Angeguckten und Zurückguckern setzt sie ihren Tanz fort.
1:00 – 1:19 |Ein klassischer „Totengräbertanz“, dessen Ausführung denkbar einfach erscheint: 3 Schritte vor, 3 Schritte zurück, den Kopf demütig nach vorne geneigt. Wahlweise beendet man den Zyklus des nach vorne Schreitens mit einer tiefe Beuge des Oberkörpers, die die Tätigkeit des „Grab Schaufelns“ symbolisiert. Eine kollektive Ausführung mit ansprechenden Frisuren ist ein Augenschmaus erfordert doch ein Mindestmaß an Koordination und Bewegungsspielraum.
2:10 – 2:16 | Den Höhepunkt dieser Zusammenstellung eröffnet ein grandios ausgeführter Vampirbiss, dessen Detailansicht durch die aufwendig ausgeformte Frisur verdeckt wird. Verstört bedeckt das Gruftie-Weibchen nach der abgebrochenen Ausführung ihre frische Bisswunde und widmet sich wieder dem ehrwürdigen herumstehen.
2:17 – 2:33 | „Manchmal muss man einen Schritt zurücktreten und das ganze Bild auf sich wirken lassen“ – sag ich immer. Hier sehen wir eine Ansicht der Tanzflächen im Bochumer Zwischenfall, in der wir den Ausdruckstanz und den Totengräbertanz in Kombination sehen. Ein Paar im Vordergrund zeigt den simultanen Ablauf einer solchen Bewegungsabfolge, die noch durch das melancholische wiegen des Kopfes nach links und rechts unterstützt wird.
2:34 – 2:43 | Die Musik in sich hinein kriechen lassen. Dieser zunächst etwas Bewegungsarm anmutende Anblick ist typisch für den Genuss von dunkler Musik, den eigenen Körper zu Taktlosigkeit verdammt, die Miene eisig verfinstert. Die Protagonistin verfeinert das ganze durch verschwörende Armbewegungen, die wohl dazu dienen, die Trompetenarme ihres Outfits zu Geltung zu bringen. Sehr geschickt!
3:12 – 3:25 | Die Unendlichkeit. Was zunächst leicht und beschwingt aussieht ist tiefgründiger, als es erscheint. Die angewinkelten Arme beschreiben die Form einer liegenden „8“, dem Zeichen für die Unendlichkeit, die Beine sorgen derweil für die gespielte Harmonie, die durch eine konstante Drehung um die eigene Achse verstärkt wird. Gebrochen wird dieses Gesamtbild wieder durch den ausdruckslosen und gleichgültigen Gesichtsausdruck der zeigt: Bewegung beim Tanz ist nur der Spiegel der Oberfläche. Ergreifend!
3:28 – 3:37 | Der Tourist. Er bewegt sich um nicht aufzufallen, kann seine wahre Herkunft aber nicht vereiteln. Kaugummis entlarven jeden, denn ein echte Gruftie kaut keine solchen Mundschmeichler, schon gar nicht so. Seine Bewegungsabläufe liefern zusätzlichen Beweis: Schnelle, zuckenden und wohlmöglich Rhythmusorientierte Bewegungen passen eigentlich ganz woanders hin. Der Tourist möchte gesehen werden und selber gucken. Achtung!
3:43 – 3:53| Eine Wiederholung des Ausdruckstanzes. Mit fortschreitender Ausführung stellen sich extatische Zustände bei der Tänzerin ein. Der Mund ist weit geöffnet, Zähne symbolisieren den Willen einen Vampirbiss auszuführen, verströmen gleichzeitig unbändige Lust und Erotik. Das Männchen am rechten Bildrand ist Beitänzer, seine Bewegungen ähneln denen der Tänzerin, jedoch in eine abgeschwächten und leichten Ausführung. Das demonstriert Ergebenheit und Unterwürfigkeit, was zusätzlich durch den gesenkten Kopf verstärkt wird.
Diese völlig subjektiv empfundene Analyse bewegte mich tatsächlich zur der Einsicht, das auch ich mich an vorgefertigten Verhaltensmustern orientiere und eigentlich so tanze, wie es einst Tears for Fears in Mad World präsentierte, kurz bevor ich es zu schätzen lernte, nur nach vorne und nach hinten zu laufen. Dass das freilich keine ganz ungefährliche Sache ist, hab ich an meinen eigenen Füßen zu spüren bekommen und sind wohl auch der einleuchtendste Grund, warum die Stahlkappenstiefel einst ihren Siegeszug antraten.
Wow danke!
Sehr schönes Video mit schönem Lied und schönem Menschen:)
Schön hier einen Gegenpol zum „Industrial“ Dance vorzufinden. Wenn doch nur mehr Menschen wieder so tanzen würden…
*lach* Deine Analyse verleiht der ganzen Sache auch endlich mal den Ernst den sie verdient – wir tanzen ja immerhin nicht zum Spaß! :D
Aber ernsthaft: So weit ich mitbekommen habe muss es auch damals schon Leute gegeben haben die das Ganze sehr ernst und systematisch betrachteten, und etwa versuchten bei den Schritten keine Auf-Ab-Bewegungen zu vollführen sondern den Kopf auf einer Höhe haltend zu Schlurfen – so oder so ähnlich.
Finde ich persönlich zwar viel schöner und stilvoller, aber auch irgendwie sehr grenzwertig in seiner Regularisierung…
@Epitaph89: Das kriegen wir wieder hin. Als Neu-Stil-Verweigerungs-Tänzer kämpfe ich seit Jahre durch den Vorführeffekt für eine Wiedergeburt der alten Werte. Manchmal auf verlorenem Posten, da stimme ich zu, aber gelegentlich kommt es zu nostalgischen Masseneinlagen :)
Karnstein: Es gibt immer Ausreißer aus dem Gesamtbild. Auch für Nicht-Tänzer bietet die Szene ja ein Refugium. Einfach rumstehen und den Kopf kreisen lassen und dabei die Musik schööööön in sich reinkriechen lassen. Gerade bei Stücken von „The Cure“ ein wahrer Genuss, wie ich finde. Ernsthaftigkeit ist der Tod jeder natürlichen Gefühls das die Musik auszulösen vermag, finde ich jedenfalls.
huch
Ich hätte nicht erwartet, dass „oldschool-goths“ sich überhaupt so viel bewegen.
Bisher kannte ich nur den Totengräbertanz vom Hörensagen (bzw „Industrial“(alias Techno) vom sehen (bzw. ne ganze Menge Leute die weder das eine noch das andere tanzen))
Vobei ich allerdings sagen muss, dass dieser Vampirkram auf manche sicherlich ebenso „lächerlich“ wirken kann wie Plastikschläuche auf dem Kopf. Mag sein, dass Vampire durchaus eine gewisse „Mystik“ und Tiefe (Unterbewusstsein) verkörpern, „den Tod“ ins Gedächtnis holen.
Vermutlich steh ich doch weiter „abseits“ der „Szene“ als ich dachte :)
Begnüg ich mich einfach mit der Musik.
Definitiv @unkraut. Vampirkram und Plastikschläuche rangieren auf dem gleichen Niveau. Auswüchse einer neugierigen Generation, von geblendetem Nachwuchs in die Lächerlichkeit überführt ;)
Hehe, über was man doch so stolpert beim stöbern! Ich liebe dieses Lied und das dazugehörige Video! Haben mich diese doch nach einiger Orientierungslosigkeit in die old schoolig-wavige Richtung gedrückt! Gibt sicher schlimmere Inspirationen *lacht*
Ich muss mich aber auch outen an der Stelle: ich mag Vampirkram… Nein, nicht Blutengel, da schlafen mir spätestens nach dem dritten Lied die Füße ein. Aber an sich mag ich das Vampirthema. Mochte ich aber auch früher schon. Und wenn ich Vampir sage, dann bitte, bitte, bitte nicht diesen glitzernden Edward! Es muss schon der Graf Dracula sein, oder ähnlich blutrünstige Verwandte von ihm^^