Wie konnte ich das nur verpassen? Dieses Gefühl beschlich mich unzählige Male, seit ich Leipzig nach dem Wave-Gotik-Treffen den Rücken gekehrt habe, vor allem gute Lesungen sind meinem Gefühl nach viel zu kurz gekommen. So ärgerte ich mich beispielsweise, dass ich die Lesereihe „Schementhemen“ versäumt habe, in der die beiden „Ruhrpott-Urgesteine“ Klaus Märkert und Myk Jung eigene Texte zum Besten geben um sich von zusätzlichen Gästen dabei helfen zu lassen. Glücklicherweise fand gestern, am 19. Juni eine der regelmäßigen Lesungen in Velbert statt, das sich als gut erreichbar entpuppte und sich darüber hinaus als willkommenes Ende des Sonntags anbot.
Klaus Märkert, der 1984 zusammen mit anderen in Bochum das legendäre Zwischenfall eröffnete, studierte Jura und Sozialarbeit, bevor er als Streetworker, Taxifahrer und DJ seinen Lebensunterhalt bestritt. 2009 veröffentlichte er „Hab Sonne“, sein erstes Buch, bei dem es sich um die autobiografische Geschichte eines Menschen handelt, der zu einer verrückten Zeit zwischen den Punks, New Wavern und Gothics der 80er eine Discothek eröffnet, in der er am Plattenteller seine Sicht der Dinge genießt. Myk Jung, der seit 1984 die Band The Fair Sex mit seiner Stimme beglückte, ist seit dem in zahlreichen weiteren Musikprojekten aktiv und arbeitet als freier Autor für Musikmagazine. 1999 veröffentlicht er mit „Der Herr der Ohrringe“ sein erstes Buch, eine deutschsprachige Parodie auf Tolkiens berühmte Trilogie.
Wie die beiden schlussendlich zusammenfanden, ist nicht überliefert, seit April 2009 gestalten die beiden Schementhemen, die humorvoll-skurrile Lesebühne mit wechselnden und illustren Gästen aus den Bereichen Literatur, Kabarett und Musik. Die Zusammenarbeit mündet 2010 in der Geschichten-Sammlung „Ich bin dann mal tot“ und weiteren Werken, die auch immer wieder Gegenstand ihrer Lesungen sind und auch schon den Weg auf eine Hörbuch-CD fanden.
Szenenwechsel. Velbert an einem verregneten Sonntagabend im Juni, der sich anfühlt wie ein verregneter Sonntagabend im April. Das Flux ist eine gut zu erreichende Kneipe, die etwas außerhalb des Stadtkerns, insofern es einen gibt, direkt an der A535 liegt und in Sachen Erreichbarkeit durchaus als optimal bezeichnet werden könnte. Die Räume sind gemütlich und verströmen diesen subtilen Charme einer in die Jahre gekommenen Szene-Lokalität. Am Eingang knöpft mir die freundlich rothaarige 5€ ab und weist mich in den Stimmzettel ein, denn heute soll sich das Publikum für den schlechtesten Song aus 3 Dekaden entscheiden, angesichts des drauf stehenden „Cheri Cheri Lady“ von Modern Talking, steht mein erster Platz bereits fest. Ich setze mich an einen der kleinen Tische, die direkt vor der kleinen, aber ordentlichen Bühne drapiert sind und lasse meinen Blick über die Anwesenden streifen. Das Jung & Märkert bereits anwesend sind, ist mir nicht entgangen, ganz in schwarz sticht man doch etwas heraus aus dem bunt-gemischten Altersquerschnitt, das fällt mir am eigenen Leib auf.
Um 20:15, etwa parallel mit dem Tatort, beginnt die Lesung, die heute von Ulli Engelbrecht unterstützt wird, der aus seinem Buch „Samtcord, Strass & Soundgewitter“ vorliest. Doch zunächst eröffnen jeweils Myk Jung und Klaus Märkert mit einer Geschichte, die gleich zu Beginn verheißen: Das kann ja heiter werden. Die natürlich unterkühlte und wüstentrockene Art die wortgewaltigen Texte zu präsentieren stößt bei mir auf sofortige Gegenliebe, ich kann mich zunächst nicht entscheiden ob ich den filigran konstruierten Sätzen folgen soll, oder das laute Lachen unterdrücken muss um die Lesenden und die Anwesenden nicht zusätzlich aus dem Konzept zu bringen.
Unterstützt durch Videoeinblendungen im Hintergrund, die die schlechtesten Songs aus 3 Dekaden noch einmal ins Gedächtnis rufen, und den zügigen Wechsel der Autoren und Geschichten bekommt das Ganze einen angenehmen Show-Charakter. Die Geschichten, die sich heute rund um die Musik der 70er, 80er und 90er Jahre drehen, sind gut ausgesucht und harmonieren miteinander. Bei Schementhemen ist der Humor schwarz und die Geschichten bunt, der unnachahmliche Charakter der Erzählungen und die Art und Weise diese zu präsentieren packen, schütteln und lockern ihren Griff um ein Gefühl von Nostalgie und Vergangenheitsbewältigung zurück zulassen.
Ich komme wieder, nicht zuletzt um die kleine vegetarische Speisekarte des Flux zu testen, sondern auch weil ich mit meiner Bewältigung noch lange nicht durch bin und außerdem ein zweistündiges Bauchmuskeltraining für 5€ für sehr kostengünstig halte. Märkert und Jung sind zwei potente Begleiter, die nicht nur durch ihre Art zu lesen, sondern auch durch die Schreibweise ihrer Geschichte im Gehör bleiben um Wort- und Erfahrungsschatz aufzuwerten.
Die Lesereihe Schementhemen im Flux in Velbert öffnet ihre Pforten für einen weiteren Termin (10. Juli), bevor es in die Sommerpause geht, bevor sie im September wieder mit neuen Lesungen durchstartet. Darüber hinaus findet man auf der Internetseite noch zahlreiche weitere Termine der beiden Autoren, die vielleicht auch in eurer Nähe stattfinden.
Die Lesungen hab ich am WGT leider auch verpasst (warum müssen die auch parallel mit Nosferatu auftreten *ärger*). Danke für die kleine Übersicht Myk Jung hab ich schon mal gesehen/gehört und mag seine Art auch sehr gerne.
Wenn die denn mal Richtung Thüringen kommen sollten bin ich dabei. Leider schafft es ausser Oswald fast keiner hier ne Lesung hinzubekommen. Liegt aber auch hier mehr am Publikum als am Künstler…
Glücklicherweise habe ich es am WGT-Montag Mittag (ja, Mittag!) geschafft, die Lesung von Myk Jung und Klaus Märkert zu besuchen. Ich mag die trockene Art der beiden Urgesteine auch sehr. Leider hat man in meiner Gegend eigentlich nie die Gelegenheit, solche Lesungen zu besuchen. Da schiele ich doch ziemlich neidisch in den Westen der Republik. Der Gedanke an die Schementhemen-Lesung beim letztjährigen NCN-Festival zaubert mir ein Grinsen in mein Gesicht. Damals dachte ich kurzzeitig, dass ich vor lauter Lachen an Sauerstoffmangel sterben müsste.
In Siegen und Umgebung wartet man leider auch vergeblich auf solche Veranstaltungen. Allenfalls im Ruhrgebiet kann man Glück haben und das ist immerhin auch mindestens eine Autostunde entfernt. Aber ich werde die Schementhemen im Blick behalten. Spätestens im September wird es dann hoffentlich klappen.
@Epitaph89: Dabei ist der „Osten“ doch gerade musikalisch sehr aktiv. Vielleicht wäre eine Gedanke zum Selbermachen gar nicht der schlechteste, gerade bei euch könnt ihr doch auf eine gut funktionierede Szene zurückgreifen, oder?
@Marcus: Mittag… Immerhin ist es das erste mal, das man neidisch in den Westen der Republik blickt, bisher war das immer anders herum, wenn ich so an eure sehr gute Auswahl schwarzer Veranstaltungen abseits von Electro und Cyber denke.
Orphi: Ich hoffe natürlich auch dass es klappt, gerade für Dich ist sowas genau das Richtige. Ich für meinen Teil werde die Möglichkeit vor der Sommerpause am 10.7. dazu nutzen, nocheinmal nach Velbert zu fahren um auch in den Genuss einer neuen Gastleserin zu kommen. Wenn man es Klischeehaft ausdrücken möchte: Ich habe Blut geleckt. Immerhin ist das Ruhrgebiet „nur“ 1 Autostunde entfernt, Marcus und Epitaph89 können da anderes berichten ;)