Es wird Herbst – genau die richtige Zeit, um an meinem Roman weiterzuarbeiten, der nun schon viel zu lange in der Schublade liegt. Die Figuren, die mir seit Ewigkeiten im Kopf herum spuken, wollen Leben eingehaucht bekommen, sie brauchen ein Äußeres, innere Konflikte, Macken und Persönlichkeit. Was macht die Schreiberline also in so einer Situation?
Ganz klar: Sie fährt zu einer Esoterikmesse, um sich inspirieren zu lassen. Zumindest dachte ich, dass es eine gute Idee ist. Skurrile Charaktere, verrückte Ideen und eine Portion Spiritualität – ideal zur Inspiration. Nach der Rückkehr dann die bittere Erkenntnis: Die Realität ist bekloppter als alles, was man sich ausdenken kann.
Spirituelle Rückenschule, geistige Wirbelsäulenaufrichtung, Gedankendiät, spirituelles Coaching zur Transformation, Vitamine aus der Luft, heilendes Kristallwasser – mit jedem Stand mit jedem „Heiler“ mit jedem Infoblatt eine neue Möglichkeit, sich zu befreien, Blockaden zu lösen, Erkenntnisse zu gewinnen, gesünder, erleuchteter, schöner und vor allem ärmer zu werden. Wer seine Seele in höhere Gefilde heben möchte, der muss erst einmal tief in die Tasche greifen.
Sechs Flaschen eines Wassers, das 144 Tage im Kontakt mit Edelkristallen „gereift“ ist, kosten beispielsweise 155 Euro. Die spirituelle Rückenschule Stufe 1 (Mobilisation der Wirbelsäule durch die Kraft der Gedanken) wird für 130 Euro angepriesen. Wenigstens sind die Vorträge auf der Messe kostenlos: Eine Lichtmeisterin erklärt, wie man Lichtknoten aus seinem Energiesystem und den Zellen herauslöst. Ein anderer Vortrag beschäftigt sich mit der 5-Elemente-Heilung mit Quantenenergie. Wahlweise kann man auch etwas über telepathische Kommunikation lernen oder sich mit schamanischer Energiearbeit als Hilfe für ADHS- Kinder vertraut machen. Die Heilung von Krankheiten aller Art ist ohnehin der rote Faden, der durch die Halle wabert. Dürfen die das eigentlich? Eine Heilerin behauptet, dass sie mit ihrer „magnetischen Heilkraft“ von Schmerzen befreit, Wundheilung beschleunigt und sogar Infektionskrankheiten behandelt. Ziemlich ungesund aussehende Menschen mit offensichtlichen körperlichen Gebrechen schleppen sich mit Kristallen, Steinen und sonstigem positiv aufgeladenem Schnickschnack um den Hals von einem Stand zum anderen. Ein trauriges Bild.
Die Gruppe der Christen, die zwecks Heilung mit den Besuchern über Jesus sprechen will, weicht auseinander und guckt böse, als wir uns nähern. Zwei schwarz gekleidete Gestalten – wahrscheinlich mit dem Teufel im Bunde – passen nicht in ihre Welt. Dass sie mit ihrem Stand zwischen magischen Kristallkugeln, Aura-Reinigern und zuckenden Channeling-Frauen, die gerade in Kontakt mit der Geisterwelt stehen, am Tanz um das goldene Kalb teilnehmen, scheint ihnen nicht bewusst oder aber egal zu sein. Ein Mann hält mir einen Flyer zum Thema „Kristallheilung“ unter die Nase, während drei Stände weiter zwei Frauen Anionhalsbänder zur Stärkung des Immunsystems anlegen und gleich daneben ein Besucher mit einem Ding, das aussieht wie ein löchriges Kuchenblech, bewedelt wird. Die „Violetten“ bringen Politik in die Szenerie – Die Zeit ist reif für spirituelle Politik. „Wir streben eine Gesellschaftsordnung an, in der Selbsterkenntnis … obenan steht.“
Am Ende bleibt ein bitterer Beigeschmack und die Frage, ob vielleicht doch vor 5000 Jahren von großen Meistern, den Rishis, für mich ein Palmblatt geschrieben wurde, das nun in der Palmblatt-Bibliothek auf mich wartet. Könnte aus einem Fantasy-Roman sein, oder? Ein Zitat von Sören Kierkegaard schwirrt mir nach all dem Proklamieren und Dozieren der Esoteriker durch den Kopf:
Woran die Welt vielleicht immer Mangel gehabt hat, ist, was man eigentliche Individualitäten nennen kann, entschiedene Subjektivitäten, künstlerisch durchreflektierte, selbstdenkende, im Unterschied von schreienden und dozierenden.
Esoterik-Dinger fand ich schon immer irgendwie gruselig. Für mich sind die genauso schlimm wie rgendwelche einlullenden Kirchen-Heinis, die einen auf locker und jugendlich machen. Gehirnwäsche wo das Auge auch nur hinschaut.
Im Esoterikbereich kreucht und fleucht ja ziemlich vieles an unmöglichen Personen herum. Eine meiner denkwürdigsten Erfahrungen mit, meiner Meinung sogar unverantworlichem Gebrabbel, hatte ich in einer ganz normalen Physiotherapiepraxis. Ich war dort um Fangoanwendungen und Massagen für meine entzündete Schultermuskulatur zubekommen, nebenbei bin ich ja behindert und brauche einen Rollstuhl..*G*.
Meine zugeteilte Therapeutin war nicht da und ich bekam eine Dame, die meine Muskelentzündung und meine Behinderung (die ich ja seit meinem 2ten Lebensjahr habe und ich bin nun fast 32)…auf meine schwarzen Klamotten und die „Symbole des Todes“, Schädelaufkleber, auf meinem schwarz-silbernen Rollstuhl, schob. Ich habe diesen Termin dann abgebrochen und mich beschwert…jeder darf glauben was und woran er will…aber als medizinische Fachkraft habe ich gegenüber meinen Patienten nicht so einen Unsinn vom Stapel zu lassen.
Ich habe in dem Bereich vieles erlebt, zum einen weil ich als Kind und Jugendliche zu diversen „Heilern“ gebracht wurde, zum anderen weil ich einfach so solche Menschen kennengelernt habe oder durch Verwandtschaft dran gekommen bin.
Ehrlich gesagt finde ich es nicht schlimm, von Dämonen besessen oder „böse“ zu sein…wenn das solche Menschen über mich sagen.
Ein Glück beschränkt sich mein ganz persönlicher Kontakt mit Esoterikkram auf Zuckerkügelchen, die ich als Kind nehmen durfte und auf eine leicht esoterisch angehauchte Bekannte. Ersteres auch immer nur gegen Erkältungen, Husten und all so ein Zeug, gegen das man eigentlich gar keine Medikamente braucht.
Ich hoffe, ich habe hier jetzt nicht eine Debatte über Homöopathie ausgelöst, das scheint ja die mit am meisten akzeptierte Geschmacksrichtung der Esoterik zu sein. Bei „Opfern“ hat bisher immer noch geholfen, mal zu fragen, wie man sich eigentlich den Wirkprozess vorstellt. Da setzte dann meist der Denkprozess ein, immerhin ;-)
Wie weit das in die normale Welt hinein reicht, ist stellenweise schon erschreckend. Es scheint ein gewisses Verlangen der Menschen danach zu geben, anstatt (zu) viel Geld für wirksame Medizin lieber genauso viel Geld für Hokuspokus auszugeben. Aber gut, es gibt ja selbst Universitäten, bei denen man das „studieren“ kann.
An Unterhaltungswert war diese Messe wohl kaum zu überbieten! Mit Wiedergeburt, Gott, Teufel, Dämonen, Kügelchen, heilenden Gebeten und Gesängen kenne ich mich sehr gut aus. Da haben mir meine Eltern eine unterhaltsame Kindheit beschert. Der Weg in die Schwarze Szene war für mich, neben der Leidenschaft für die Musik, ein geeignetes Kontrastprogramm zu Zungenreden und Gebetstänzen. Damit ihr nicht glaubt, ich würde übertreiben, habe ich mich zu einer Blog-Reaktion auf diesen Artikel hinreißen lassen:
https://werturteilsfrei.wordpress.com/2012/10/10/reaktion-en-bloc-esoterikmesse/
Tobikult:
Und was haben evangelische Seminare für Reli-Lehrer jetzt mit Esoterik zu tun?
Naja, die esoterische Strömung der katholischen Kirche wird zumindest auch als „Exoterik“ bezeichnet. Gerade in ländlichen Gebieten vermischt sich „heidnischer“ Aberglaube manchmal gerne mit kirchlicher Dogmatik. Ich glaube, in der evangelischen Kirche wird es nicht anders sein. Eigentlich ist ja auch der Unterschied zwischen Religionen, Sekten und Esoterik auch nur der, dass es einfach nur unterschiedliche Gruppierungen sind. Einen an der Waffel haben zumindest alle drei Erscheinungsformen.
Was für ein Erlebnis! Ich meine die Idee zu einer Esoterik-Messe zu fahren ist schon grenzwertig, vielleicht habe ich mich deshalb hinreißen lassen, denn grenzwertig ist genau mein Ding.
Eigentlich war ich fröhlich, gut gelaunt und in bester Lästerlaune und könnte auch Seitenweise über lustige Erlebnisse erzählen. Doch was blieb, ist ein bitterer Nachgeschmack. Ich habe viele offensichtlich kranke Menschen gesehen, die sich in Hoffnung einer möglichen Heilung über die Messer gedrängt haben. Wie die eine Dame, die offensichtlich unter einer Muskelkrankheit litt und sich von Stand zu Stand quälte, über und über behangen mit esoterischem Schnick-Schnack wie Amuletten, Armreifen und Ringen. Gierig nahm sie das auf, was ihr angeboten wurde und bezahlte mitunter unglaubliche Preise für Dinge bezahlen, die vermutlich nur ihrem Glauben helfen. Das ältere Ehepaar, das über die Messe geisterte war ebenfalls bezeichnend. Die Frau war offensichtlich verwirrt (oder esoterisch) und sprach neben ihrem Ehemann mit einem imaginären Begleiter, während sie ihren Rollator durch die Gänge schon. „Lass uns mal alleine Herrmann“, sagte sie zu ihrem Mann. Der stimmte zu, schleppte die Einkäufe und wartete.
Mich würde die Hintergründe mancher Besucher interessieren und die Gedanken mancher Händler. Für mich ist vieles davon pure Geldmacherei gewesen. Profit, Gewinne, Umsatz. Schicksale, Krankheiten und Not wird billigend in Kauf genommen. Jeder ist von seinem Produkt überzeugt, jeder von seiner Methode zur Verbesserung der Lebenssituation. Der Kunde ist ein Kunde, Anteilnahme scheint geheuchelt.
Das hat mich traurig gemacht.
Der Glaube versetzt Berge. Heißt es jedenfalls. Oft ist auch etwas dran. Es gibt viele Dinge zwischen Himmel und Erde, die die Schulmedizin nicht erklären kann. Doch wie weit darf das gehen? Ich weiß es nicht. Manchmal kommt es mir so vor, als suchten die Menschen nach etwas zum festhalten, einer Religion, einem Lebensleitfaden. Kirche ist Out, sie hat sich selbst in moralische Abseits gedränkt. Doch der Glaube scheint wichtig zu sein. Und wenn man schon nicht an sich selbst glaubt, dann an ein Kuchenblech das über dem Kopf schwebt und die negative Energie in die richtigen Bahnen lenkt…
Robert: So gut wie du hätte ich es nicht ausdrücken können!
Ich finde es an dieser Stelle falsch Esoterik, Religion und Glaube an sich zusammenzuwerfen und alles als „Humbug“ zu deklarieren. Es passt zu dieser kalten Gesellschaft.
Und jene Gesellschaft ist übrigns auch ein Grund wieso solche Geschäftemacher wie oben beschrieben solche leichte Geschäfte machen können. In Zeiten wo die allermeisten an sich denkt, die Kranken und Alten gerne abgeschoben werden und am besten nur die Generation 14-39 zählt, kann man da schon einsam werden. Solche „Esoterik“-Agebote spielen eiskalt vor: „bei uns bekommen Sie Hilfe und werden nicht allein gelassen“ und so naiv wie viele Menschen sind (was kein Vorwurf ist!), fällt man darauf rein und redet sich etwas ein. Diesen Abzockern gehört einfach das Handwerk gelegt, dann was sie machen ist das schändlichste was man sich so vorstellen kann.
Aber deswegen sämtliche Glauben zu verdammen ist ebenso falsch. Zum Beispiel gibt es auch äußerst faszinierende Auslebungen des Christentums. Das zeigt jedes Jahr das Gothic Christ: https://www.gothicchrist.com/
Allgemein gibt es in der Gothic-Szene mehr Christen als man erst annimmt. Das GC ist jedes Jahr ziemlich voll. Musiker wie Tilo Wolff bekennen sich übrigens schon seit den 90ern zu ihren christlichen Glauben. Auch die Blaue Stunde – mittlerweile schon Kult unter den alternativen WGT-Veranstaltungen – wird von Christen organisiert.
Gerade im musikalischen sowie organisatorischen Underground trifft man da echt häufig auf Christen.
Und wer mal das Glück hatte auf einer der mittlerweile ehr, sehr seltenen Saviour Machine Konzerte gewesen zu sein, der weiß wie magisch das sein kann. Und da ärgere ich mich manchmal schon, dass ich diese Religion nicht teilen kann. Wie so oft auf der Welt: wichtig ist, was man draus macht. Und das gilt auch für Religion. Ich habe eine christliche Freunde und diese leben diese Religion auch und ich ziehe meinen Hut davor.
Ich selbst bin eher Naturreligiös. Glaube auch an Wiedergeburt, an eine Art Gott (aber eben nicht personifiziert) und hatte in meinen Leben auch schon so einige Erfahrungen mit Magie gemacht bzw. auch machen müssen. ür mich sind solche Dinge keine Hirngespinste, sondern durchaus ein Teil meiner Weltanschuung. Aber dies ist für mich und ich muss niemanden „bekehren“ – was übrigens auch beim Gothic Christ von den dort anwesenden Menschen nicht geschieht. Wer also neugierig ist und wirklich mal ne tolle spirituelle, manchmal fast schon meditative Veranstaltungen mit guter Musik, Lesung und ruhigen Predigten beiwohnen möchte, kann nächstes Jahr beim WGT ja mal hingehen.
Wobei die Grenzen da ja auch fließend sind. Nicht nur, weil die Kirche viele heidnische Bräuche übernommen hat, sondern auch, weil man das gut ergänzen kann. Und wenn sich bestimmte Rituale weit verbreiten, gehören sie irgendwann eben zur „normalen“ Religion dazu.
Das ist der Grund, warum ich Esoterik nicht unbedingt lustig finde, sondern für gefährlich halte. Wenn jemand kleine Wehwehchen mit Zuckerkugeln, Lichttherapie oder Energieaufwertung „behandeln“ möchte, bitte. Aber gegen ernsthafte Krankheiten sollte man bitte auch Medikamente nehmen, deren Wirkung nachgewiesen ist. Noch schlimmer, wenn man das mit eigenen Kindern veranstaltet.
Natürlich ist das Geldmacherei. Ist ja auch praktisch, wenn man für das Geld nicht mal irgendeine richtige Gegenleistung erbringen muss. Wie viele der Anbieter wirklich von ihren Produkten überzeugt sind, wüsste ich wirklich mal gern. Ich glaube nicht, dass das allzu viele sind.
Ja, den Placeboeffekt sollte man nicht unterschätzen ;-)
Ohne jetzt eine Grundsatzdiskussion über Religionen lostreten zu wollen: Braucht es denn für „magische Momente“ eine Religion oder Ähnliches? Ich finde die wirkliche Welt für sich schon sehr faszinierend und in manchen Momenten, wenn man so will, auch „magisch“ – auf die Wirkung bezogen, nicht die Ursache. Und ja, auch magischer als das, was Menschen mal in Bücher geschrieben haben.
Selbstverständlich können religiöse Rituale auch faszinierend sein. Nur, ob man das schon aufgrund des Rituals selbst faszinierend findet oder für einen noch mehr dahintersteht, ist für mich gar nicht so wichtig.
Wenn ich die „wirkliche Welt“ sehe, dann sehe ich leider nur die negativen Seiten: Armut, Ausgrenzung, Einsamkeit, Oberflächligkeit und Kapitalismus.
Ja, ich bin nicht wirklich ein optimistischer Mensch. Umso schöner ist es eben in … ich sage mal … seine eigenen „Traumwelten“ verschwinden zu können.
Huch. da bin ich mal 10 Stunden offline und schon fällt es mir schwer, wieder in die Diskussion reinzukommen. Ich will aber noch auf Axels Frage antworten, was Fortbildungen für Lehrer, in denen getanzte Gebete eingeübt werden, mit Esoterik zu tun haben. Der Hinweis auf die als „magischen Momente“ bezeichneten Ereignisse sind es, die es für mich vergleichbar machen. Ich mag diese Momente auch sehr. Auf Konzerten gelingt das hin und wieder. Ebenso kann es diese Momente bei der Bewältigung von einschneidenden Lebensereignissen geben. Soweit so gut os individuell. Bedenklich wird es für mich immer, wenn daraus eine Wahrheit oder eine Lehre gemacht wird. Und in diesem Punkt sind sich Esoterik und religiöse Normen und Gesetzte gleich. Und um Geld geht es auch in beiden Fällen.
Was die Saviour Machine Konzerte angeht, gebe ich Dir recht. Als ich noch unter Fuchtel meiner Eltern und der Kirche stand, war das eine der wenigen Bands, die ich aus der Schwarzen Szene durchsetzen konnte. Einmal konnte ich sie auf der Christmas Rock Night live erleben :-)
Antrag an Robert und Sabrina: Wir brauchen mal einen Beitrag über Religion in der Schwarzen Szene. Da toben wir uns dann in den Kommenatren richtig aus :-))
Vielleicht zu Weihnachten?
Wobei Weihnachten bekanntlich auch ein Mischprodukt aus christlicher und heidnischer Vorstellung ist :-) Dennoch mein liebstes Fest im ganzen verdammten Jahr.
Ja, bitte einen Beitrag zum Thema Religion, dem schließe ich mich an :)
Dem „Antrag“ auf einen Beitrag zu Religionen schließe ich mich ebenfalls an ;-) Zu Jul, äh, Weihnachten (die Skandinavier sind da irgendwie pragmatischer, die haben das gar nicht erst umbenannt), passt sowas natürlich besonders gut.
Axel: Nur noch mal kurz, und ich versuche Religionen etwas zu umschiffen: Ich gönne jedem seinen Eskapismus, das tut ja auch mal ganz gut. Nur hat Esoterik (und Religion, je nachdem, wie sehr man dieser anhängt) auch einen verschleiernden Einfluss auf die Sicht auf die reale Welt. Ich bin der Meinung, dass man diesen Blick auf die reale Welt möglichst unverschleiert haben sollte, dann kann man mit ihr am besten umgehen. Die Welt gerne mal Welt sein lassen (das Thema hatten wir ja auch schon vor einem Monat) und sich nicht um sie kümmern, aber nicht versuchen, damit die Welt zu erklären. Und das ist gerade bei solchem Esoterikkram eben der Fall.
Ein Beitrag zum Thema „Religion in der Szene“ könnte interessant sein, erfordert aber einiges an Recherchearbeit und ist auch recht umfangreich. Wenn wir beispielsweise die Metal-Szene mit dazuzählen, da gibt es schon seit den Hard-Rock-Zeiten anfang der 80er ne riesen christliche Bewegung, die diese Musik spielen (vorallem in den USA). In den 90ern gab es dann die ersten Expanditionen in anderen Metal-Richtungen wie Thrash, Speed oder auch Black Metal. Bands wir Mortification oder Antestor sollte man da nennen. Im folgenden haben sich dann die Begriffe UnBlack und White Metal durchgesetzt. Gibt heute vorallem in Skandivinavien ne riesen Szene.
Im Gothic Musik-Bereich wären neben Saviour Machine vorallem Bands wie Virgin Black aus Australien, The Awakening aus Südafrika, Dark Valentine aus Schweden oder Illuminandi aus Polen sehr interessant. Auch Eva O. und Rozz Williams müssen dann natürlich genannt werden, haben beide zusammen anfang der 90er gemeinsam Musik mit christlichen Texten gemacht (unter dem Namen „Shadow Project“) und Eva O ist, glaube ich, bis heute Christin. Aus unserer Szene wäre – wie schon erwähnt – Tilo Wolff ein prominentes Beispiel.
Schaut man sich das ursprüngliche Gothic-Lebensgefühl an und vergleicht es mit dem christlichen Glauben, dann gibt es durchaus viele, viele Berührungspunkte. Zum Beispiel die auseinandersetzung mit dem Tod, dass man diesen nicht übersehen sollte. Auch die Ablehnung des gesellschaftlichen „immer höher, schneller, weiter“ haben beide Gruppen wohl gemeinsam. Dazu eben auch einen Hang zur – ich nenne es mal – Spiritualität, beide Gruppen natürlich auf ihre eigene Art.
Das Problem ist sicher: dass man christliche Goths nicht so einfach erkennen kann; da ist die Ablehnung in der Szene wohl doch sehr, sehr hoch. Eben aufgrund von Klichees und falschen Vorstellungen. Christliche Goths kann man auch kaum in Gemeinden antreffen, sind viele doch eher selber nicht zufrieden wie ihr Glaube häufig gelebt wird.
Einen Bericht dazu zu schreiben ist, wie gesagt, heute nicht so ganz einfach eben aufgrund dessen das es kaum aktuelles Informationsmaterial im Netz gibt. Was ich nächstes Jahr machen werde ist ein Interview mit dem Initiator des Gothic Christ in Leipzig, wahrscheinlich zur April-Ausgabe des Dark Feathers. Das verspricht durchaus sehr interessant zu werden.
@Irmin: um mal wieder zum Thema zurückzukommen. Klar, was da im Esoterik-Bereich geschieht ist eher schädlich, denn hilfreich. Gerade die angesprochene Abzockerei. Aber genau deswegen hat das ja nix mit Religion als solches zu tun. Dass Menschen sich da hingezogen fühlen, kann ich mir aber nur damit erklären, dass die Welt so ist wie sie ist und man eben gerne seine Augen verschließen möchte. Das tue ich, muss ich zugeben, doch auch desöfteren – wie wir alle. Nur hat jeder seinen eigene Art. Die einen gehen nächtelang tanzen, die anderen beschäftigen sich exzessiv mit Kunst und die nächsten mit Religionen. Diese – zumeist älteren Menschen – die auf solche Abzockereien reinfallen, wissen es sehr häufig einfach nicht besser. Und das macht das ganze ja auch so schrecklich.
Ich werfe jetzt mal ganz provokant ein, dass ich im Gothic-Bereich keine Berührungspunkte mit Religion feststelle. Leute wie Tilo Wolff sind Sonderfälle. Man muss dazu seine Vorgeschichte kennen. In den 80ern war er noch bekennender Prince-Fan und hat sich erst in den 90ern in die bereits mutierende Szene geschlichen. Das war genau die Zeit, als dieses esoterische und sakrale Zeug in die Zeug Einzug hielt. Hinzu kommen die Einflüsse aus dem Metal. Gothic Metal oder Doom Metal was dann entstand – Black Sabath gab es ja schon in den 70ern. Nein, „Gothic“ ist einfach nur sensibler weiterentwickelter Punk. Und dazu muss man nicht religiös sein.
Das wäre dann wieder der Interprationspunkt, was man denn als „Gothic“ versteht, um darüber zu debattieren ob der Gothic-Bereich nun Berührungspunkte mit der christlichen Religion hat oder nicht. Und dieses Fass müssen wir jetzt nicht schon wieder aufmachen…
Sonderfälle sind christliche Gothics aber ganz sicher nicht. In den USA gibt es eine recht große Bewegung diesbezüglich, genauso wie in Teilen Osteuropas.
Oh, ich dachte Herr Wolff sei schon Ende der 80er im Freiburger Cräsh umhergeirrt. So kann man sich irren. ;-)
Saviour Machine, Virgin Black… was hier wieder alles Gothic sein darf.
Religiöse Bands gab’s es vor allem in den romanischen Ländern, behaupte ich. Italien, Spanien und sowas. Entweder stark christlich geprägt oder aus Protest heraus satanistisch. Auf die Staaten trifft das sicher auch zu. Mitteleuropa eher weniger.
Im weiteren Sinne gehören noch heidnische Einflüsse dazu, etwa keltisch bei Faith & The Muse und Inkubus Sukkubus.
Generell findet Gothic aber in einer deutlich christlich geprägten Peripherie statt, wenn auch der Bezug überwiegend ästhetischer Natur ist (Rosenkränze, Kreuze, Grabsteine und der ganze Plunder).
War doch auch so. Tilo Wolff hatte in den 80ern doch auch diverse Fanzines herausgebracht, bevor er dann ab 1990 Musik gemacht hatte.
Eurer Anregung, einen Religionsbeitrag anlässlich des bevorstehenden Weihnachtsfestes zu eröffnen, wird stattgegeben ;-) Ich finde es interessant, nein ich liebe es, wie sich Diskussionen hier verselbständigen. Ich werde ausreichend Informationen sammeln und würde mich freuen, wenn Ihr hilfreiche Links, Anregungen oder Sichtweisen über das Kontaktformular einschickt, die ich dann in einem Beitrag verarbeiten werde.
Vielleicht war das auch der Beweggrund für diesen Beitrag. Denn wie ich finde, ist die Gothic-Subkultur ein Spiegel der Gesellschaft. Satanismus, Okkultismus, Neu-Heidentum und Junghexen sind Themen und Splittergruppen, die man in verstärkter Form innerhalb unserer Szene findet. Und das ist gut so, denn eine Beschäftigung damit finde ich ebenfalls interessant. „Religion“ ist in diesem Sinne ein weit gefasster Begriff, der nicht nur für kirchliche Institutionen in Anspruch genommen werden kann. Das Thema „Esoterik“ zeigt es ganz deutlich. Ich freue mich auf diesen Beitrag!
Die Eso-Ecke finde ich auch sehr suspekt, einmal eben wegen der Abzockerei, andererseits weil Leuten da nicht nur finanziellen Schaden haben, nicht selten lassen die sich auch psychisch und physisch gar zugrunde richten.
Es ist ein wenig erschreckend wie Eso-Anhänger einerseits auf Christen losgehen, aber dann genauso bereitwillig den letzten Schwachsinn glauben ohne auch nur ansatzweise zu hinterfragen. Bis hin zur vollkommenen Abhängigkeit von sowas. Persönlich kenne ich da die Geschichte einer Dame, die keinen Schritt vor die Haustüre gesetzt hat, ohne ihre Karten ausgiebig zu befragen. Oder Leute die in der Geschlossenen landeten weil sie zu viel mit „schwarzer Magie“ rumgespielt hatten (um Mißverständnissen vorzubeugen – „bösen Geistern“ will ich das nicht in die Schuhe schieben ;) – die Leut waren meist psychisch labil und das Gedankengut hat denen dann noch den Rest gegeben – statt einem Buch von LaVey wäre da der Psychiater die bessere wahl gewesen).
Ich persönlich finde schon, daß Spiritualität nichts grundauf schlechtes ist – egal ob man die in der Religion (welcher Art auch immer) finden mag, oder in anderen Wegen.
Von daher bin ich auf den Bericht zu Religion/Spiritualiät in der Szene auch gespannt (Robert, wenn ich was beitragen kann würde ich mich dazu auch bereit erklären :) ) – ich denke mal daß sich bei den Schwarzkitteln generell mehr Leute finden die sich auch bewusst mit Religion und spirituellen Wegen beschäftigen, einmal weil an den etablierten Religionen so viele Kritikpunkte zu finden sind und man sich selbst darin nicht wiederfinden kann. Tatsächlich scheinen die meisten auch weniger die Sorte „Leichtgäubig“ zu sein, sondern ganz bewusst nach einer passenden Philosophie ausschau zu halten, ob man dann wieder bei einer alternativen Auffassung des Christentums landet oder sich mit Atheismus am wohlsten fühlt, ist wie gesagt ein sehr persönlicher Schluß.
Zumindest sind das meine persönlichen Beobachtungen aufgrund meines schwarzen Umfeldes hier.
Aber das Problem ist, dass ich mit religiösen in der Hinsicht IMMER die Erfahrung gemacht habe, dass sie versuchen, einen zu bekehren. Seien es Christen, Esoteriker oder Muslime, es läuft oft auf das gleiche heraus. Ich kenne einzig eine Person, ein Muslimin, mit der ich super auskomme und mit der ich nicht rund um die Uhr über ihren, meinen oder sonstwelchen Glauben diskutieren muss. Der Glaube gehört in den Privatbereich und Missionierung ist für mich zumeist das gleiche wie Demagogie: „Mein Glaube ist besser als deiner, du bist doch ein netter Mensch, konvertier doch, dann findest du schon deinen Segen, wenn du tot bist.“ Nein danke, ich halte es da wie Pippi Langstrumpf: Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt.