Die Zutaten sind raffiniert ausgewählt: Man nehme die Antiheldin der 80er Jahre, Deutschlands bekanntesten Junkie, Christiane Felscherinow und mische sie mit der Autorin und Gewinnerin eines Grimme-Online-Award für crossmediale Konzepte, Sonja Vukovic. Man koche die ganze Geschichte zwischen Vergangenheit und Gegenwart auf. Das Ergebnis erscheint schmackhaft und passt zum Zeitgeist wie die Faust aufs Auge: „Christiane F. – Mein zweites Leben“ – Was passierte in den letzten 35 Jahren? Verfeinert mit vielen Anglizismen wie Social Media, Marketing und Charity findet das „Second Life“ der Christian F. auch im Internet statt. Sie betreibt einen eigenen Blog, hat eine Stiftung ins Leben gerufen und ist in vielen Medien präsent.
Eine ganze Generation ist mit der Geschichte „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ aufgewachsen und gereift. Für Einige wurde Christiane zur Kultfigur, zu einer Ikone des Underground und für Andere ein Mahnmal gegen den Drogenkonsum. Viele, die das Buch lasen und in den 80er den Film sahen, sind nun erwachsen und immer noch neugierig, was aus Christiane geworden ist. Als berühmter Junkie wird sie in den 80ern in Künstlerkreisen zur Muse, nach dem gleichnamigen Film von Bernd Eichinger reist sie nach Los Angeles, lernt David Bowie kennen und kommt schließlich bei einer Schweizer Verleger-Familie unter. Sie geht zurück nach Berlin, bekommt einen Sohn und kämpft immer wieder mit Entzügen und Rückfällen. 2008 verlor sie das Sorgerecht für ihren Sohn, das Jugendamt brachte ihn zu einer Pflegefamilie nach Brandburg. Zwei Jahre später erhielt sie das Sorgerecht zurück, entschloss sich aber dazu, ihren Sohn in der Pflegefamilie zu lassen.
Christiane Felscherinow lebt heute davon, Geschichten zu erzählen und Geschichte zu sein. Tantiemen aus Buch und Film finanzieren immer noch ihr Leben. Sie lebt von ihrer Offenheit, ihrer Naivität und dem Rest Natürlichkeit, den sie sich nach all den Jahren immer noch bewahrt hat. Sie lebt, weil sie Glück hatte. Ihren Körper zerstörte sie mehrfach, sie leidet unter eine irreparablen Leberschädigung und ist immer noch auf Methadon angewiesen.
Natürlich habe ich mir das Buch bestellt. Ich bin einfach zu neugierig, um nicht zu erfahren, was aus dem Mädchen geworden ist, das mir damals so lebhaft vermittelte, die Finger von den Drogen zu lassen. Als ich diesen Satz gerade geschrieben habe, fiel mir auf, dass sie mich auch heute noch davon abhält. Ihr Leben ist immer noch ein Mahnmal. Im Internet und bei Facebook lese ich viele Respektsbekundungen und warmherzige Worte. In einem Blog-Artikel hat sie einige davon zitiert: „Möge es dir gelingen, dein Leben weiterhin so gut zu meistern, wie du es bisher gemacht hast.“ – „Ich hoffe, du bekommst vielen, lieben Zuspruch und kannst deinen Weg so weitergehen.“
Ich bin verwirrt. Ihr Leben gemeistert? Ihren Weg so weitergehen? Ich finde Christiane ist ein Glückskind. Ihr ganzes Leben wurde von anderen Menschen zusammengehalten. Sie hat Glück gehabt, dass sich zwei Autoren um ihre Geschichte bemühten, sie hat Glück gehabt, heute 51 Jahre alt zu sein. Für mich ist sie immer noch ein abschreckendes Beispiel für ein Leben mit vielen unglücklichen Entscheidungen. Aber welches Recht habe ich schon, darüber zu urteilen was ein gutes und was ein schlechtes Leben ist?
Ja, ich werde dieses Buch lesen. Es interessiert mich einfach, was sie zu erzählen hat. Vielleicht steigert es auch meine Selbstzufriedenheit, wenn ich davon lese, wie es ihr ergangen ist. Für andere Leute ist das vielleicht eine Steigerung der Sehnsucht nach einem alternativen Leben, in dem man nicht an morgen denkt. Vorbild für eine Drogenkarriere? Mir persönlich ist das schleierhaft, doch offensichtlich gab es viele, die Christiane nacheiferten. In einem Blog-Artikel appelliert sie an ihre Leser:
Vielfach lese ich von euch auch, dass ihr ebenfalls abhängig gewesen oder immer noch seid – manchen machte meine Geschichte offenbar Mut oder bestärkte sie in dem Wunsch, nicht auf die Schiefe Bahn zu geraten, so wie es in den Posts oben beschrieben wird. Doch leider lese ich auch immer wieder, dass Leser von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ so etwas wie Neid auf mich verspürten, Ehrfurcht, Faszination – und dass sie mir nacheiferten und viele Jahre ihres Lebens an die Opiatsucht verloren. […] Es ist sehr schwer, mit dieser Verantwortung zu leben. Ich weiß, dass ich nicht schuld bin. Aber ich fühle mich verantwortlich. Darum möchte ich schon jetzt, so früh wie möglich, und immer wieder sagen: Nehmt euch kein falsches Beispiel!
Um den viralen Kreis zu schließen, hat man sogar ein Video inszeniert. Darin beschreibt sie die eigene Intention, ein Buch über ihr Leben zu veröffentlichen kurz und prägnant: „...dann müssen wir das einfach nochmal kurz erzählen, was passiert ist seitdem, weil die Leute das wissen wollen, scheint mir.“
Ich denke schon, dass man sich ein Beispiel an ihr nehmen kann. Natürlich nicht was die Drogen betrifft, sondern dass sie nie aufgegeben hat. Ich hatte in meiner Jugend einige Freunde aus der Drogenszene. Kurz gesagt: ihnen hat der Kampfeswille weiter zu leben leier gefehlt.
Daher finde ich es irgendwo zu kurz gedacht, zu sagen ihr Leben sei von anderen zusammengehalten worden und dass sie nur Glück gehabt hätte. Denn eine Drogensucht besiegen nicht andere, sondern man selbst. Es fällt ja so schon schwer damit zurecht zu kommen. Christiane hatte sich aber auch noch für die Öffentlichkeit entschieden. An beiden zusammen sind schon ganz andere zerbrochen. Daher hat sie nicht nur Glück gehabt, sondern auch eine ganze Menge Kampfeswillen und Durchhaltevermögen bewiesen, welches es zu bewundern gilt.
Wer nicht am eigenen Leib erfahren hat, wie es sich anfühlt, von Drogen bestimmt worden zu sein, kann es vermutlich nur sehr begrenzt nachvollziehen, wie hart es ist, sein Leben diesem Sog zu entziehen. Ich habe auch keinen blassen Schimmer davon. Unter den gegebenen Umständen würde ich sagen, es ist okay so, wie es ist und ihr Weg ist ja noch nicht zu Ende. Robert mildert seine Ansicht zu dem Leben von Christiane, in dem er sein Recht auf ein Urteil in Frage stellt und das finde ich gut. Es mag Glück gewesen sein, dass Christiane ihr Leben aufgeschrieben hat und seinerzeit Gehör fand. Aber es ist vielleicht auch ein Glück für Leute wie mich und Robert, dass wir es tatsächlich als Abschreckung empfunden haben. Wobei ich es sehr unterschiedlich empfand: das Buch war Abschreckung für mich, der Film in meiner Jugend ließ bei mir auch eine gewisse Faszination entstehen, die ich beim Lesen nie empfunden hatte. Da ich den Film nie wieder angeschaut habe, weiß ich nicht, wie ich das heute – etwas gereifter – sehen würde.
Das stimmt, der Film hat wirklich einen eher fasziniert als abgeschreckt. Typisch Uli Edel, der Kerl hat selbst die RAF ins positive Licht gerückt. :D
Ich weiß gar nicht, ob ich Mitleid oder Verachtung empfinden soll. Im Grunde ist es mir auch völlig egal, was Christiane aus ihrem Leben macht. Sie hatte immer die Wahl. Sie ist jedoch ein „stiller“ Begleiter durch mein Leben und erinnert mich daran, die Wahl zu haben. Die Kraft, seine Wahl zu treffen, ist bei uns jedoch unterschiedlich ausgerichtet. Ich finde, das Buch sollte im Vordergrund stehen, denn das lässt dem Leser die Wahl seine Bilder entstehen zu lassen. Schaut man sich nur den Film an, dann kann man durchaus eine gewissen Faszination finden. Alles, was man selbst nicht erlebt hat, erleben möchte oder erleben kann, fasziniert. Irgendwie.