In diesem Jahr wird der legendäre Stummfilm HÄXAN von Benjamin Christensen 100 Jahre alt und wird vom Label Xcess in einer völlig überarbeiteten und bereicherten Fassung neu herausgebracht. Wie mir Filmwissenschaftler, Cineast und Musiker Marcus Stiglegger in einer Mail mitteilte, hat er dazu einen alternativen Soundtrack eingespielt, den er zusammen mit dem Film auch Live aufführen will. Wer sich jetzt unwissend und kulturell abgehängt fühlt, ist bei hier genau richtig, denn mit dem Filmtitel konnte ich rein gar nichts anfangen. Ich wollte herausfinden, was Häxan für ein Film ist, was ihn so kultig macht und vor allem, warum er so unheimlich „Gothic“ sein soll.
Häxan sind schwedische Hexen
Vor ein paar Wochen erhielt ich also eine Mail von Marcus Stiglegger, in der er vom 100-jährigen Geburtstag des Films sprach und mir erzählte, dass er mit seiner Band „Vortex“ einen Soundtrack dazu eingespielt hätte. Er fügte hinzu: „Ich denke, er ist für die Gothic-Szene ziemlich relevant.“ Möglicherweise unabsichtlich hatte er mich damit höllisch neugierig gemacht, schließlich ist er auch schon eine gefühlte Ewigkeit selbst ein Teil der Szene und weiß, wovon er spricht. Ich musste mir allerdings eingestehen, dass ich den Film nicht kannte und Stummfilme im Allgemeinen nicht meinen cineastischen Geschmack treffen, aber in diesem ging es immerhin um Hexenverfolgung und Inquisition. Themen, mit denen ich mich schon in der Vergangenheit beschäftigt habe.
Treuen Spontis-Lesern wird Marcus Stiglegger bereits ein Begriff sein, denn er war bereits als Interview-Partner zu Gast, als es 2012 um Nazi-Ästhetik und sein Buch „Nazi-Chic und Nazi-Trash“ ging. Grund genug, um seinem Hinweis auch in dieser Sache nachzugehen.
Nachdem ich mir den Film bei Youtube angeguckt hatte, fühlte ich mich bereichert, aber nicht viel schlauer. Glücklicherweise bot Marcus auch gleich an, ein Interview zu geben, mit dem ich meine Wissenslücken füllen und der Sache mit der Relevanz auf den Grund gehen konnte.
Interview mit Prof. Dr. Marcus Stiglegger: „Gothic ist ewig“
Spontis: Ich muss gestehen, ich habe den 1922 veröffentlichten Stummfilm „Häxan“ (zu Deutsch: Hexen) erst nach deiner Nachricht zum ersten Mal angeschaut. Obwohl der dokumentarische Ansatz heute, 100 Jahre nach seiner Erstaufführung, nicht mehr zu greifen scheint, ist die visuelle Aufarbeitung der Hexenverfolgung und Inquisition sehenswert. Wie würdest du „Häxan“ inhaltlich zusammenfassen?
Marcus Stiglegger: Häxan ist einer der wichtigsten Filme seiner Zeit, steht aber immer im Schatten von Nosferatu, der nun ebenfalls 100 Jahre alt wird. Der Regisseur Benjamin Christensen war jahrelang geradezu besessen von der Idee, die Hexenverfolgung filmisch aufzuarbeiten und im modernen Kontext zu diskutieren. Er bezog sich dazu auf zeitgemäße psychologische Erkenntnisse. Obwohl nicht alles heute noch so gültig ist, hat der Film revolutionäre Vorzüge: In mehreren Kapiteln inszeniert er beispielhafte Szenen von Hexerei, Verhör, Folter, Hinrichtung und Pathologisierung. Seine Mischung aus Dokumentarfilm und Spielfilm würde man heute als Essayfilm bezeichnen. Er verwendete in seinen Spielszenen spektakuläre Spezialeffekte, mit denen er den Hexenflug, Zaubereien und Dämonen zu Leben erweckte. In der Rolle des Teufels ist der Regisseur selbst hin und wieder zu sehen.
Spontis: Der Film löste seinerzeit Kontroversen aus. Die französische Kirche protestierte, in Deutschland wurde er verboten und in Dänemark löste er einen Sturm der Entrüstung aus. Heute gilt der Film als Meisterwerk des expressionistischen Films. Was fasziniert Dich an dem Film?
Marcus Stiglegger: Häxan hat eine einzigartige Gothic-Ästhetik, die großen Einfluss auf spätere Filme, Musikvideos und Albencover hatte. Auch in der Industrial Culture der frühen 1980er-Jahre erfuhr er eine intensive Wahrnehmung, meist durch den 1968 mit einem Offkommentar von William S. Burroughs eingesprochenen Kommentar der US-Fassung mit dem Titel Witchcraft Trough the Ages. Ich habe von dem Filme gehört und gelesen, bevor ich ihn im Programm von ARTE sah und völlig fasziniert war. Heute würde man diese Bilder als Gothichorror einordnen. Es gibt einen expressionistischen Einfluss, der ist aber eher marginal.
Spontis: Ich frage mich, welchen Zweck der schwedische Regisseur Benjamin Christensen mit seinem Film verfolgte, war es eine spätviktorianische Faszination für Okkultismus und Mystik, ein aufklärerischer Ansatz, die Sünden des Mittelalters zu verarbeiten oder die Lust, etwas Neues und nie dagewesenes zu machen? Welche Beweggründe hat Christensen Deiner Meinung nach?
Marcus Stiglegger: Die damalige Zeit um die Jahrhundertwende war tatsächlich vom Okkultismus fasziniert, doch Christensen sah sich als Aufklärer und früher Feminist. Er war überzeugt von der später viel zitierten „Verfolgung der Hexen“ als „Jagd auf die Frau an sich“. Die Inquisition wurde als patriarchale Herrschaftsausübung betrachtet und als „female holocaust“ verklärt. Tatsächlich waren auch viele Männer Opfer der Hexenverfolgung. Allerdings sind bestimmte Tendenzen ebenfalls begründbar.
Spontis: Mit Deiner Band „Vortex“ hast du dich dem Film musikalisch genähert und hast einen neuen Soundtrack geschrieben. Wie bist du an die Sache herangegangen?
Marcus Stiglegger: Das beim südfranzösischen Label Cyclic Law erscheinende Album „Häxan“ von Vortex ist eine musikalische Hommage an den Film. In zwei jeweils zwanzigminütigen Stücken werden die Themen des Films mit musikalischen Mitteln reflektiert. Live sind diese Stück von Filmszenen untermalt, die in Absprache mit dem Label des Films ausgewählt wurden. Die Filmveröffentlichung von Xcess Entertainment wird auch die CD-Version enthalten. Es handelt sich aber nicht um einen kompletten neuen Soundtrack, sondern um eine musikalische Hommage. Bei Cyclic Law erscheint ein LP/CD-Set, das auf CD einen düster-dronigen Ambientmix und auf Vinyl einen härteten Black/Doom-Mix enthält. Die Gitarre wurde hier von Oliver Freund (MARS, Vinur) eingespielt.
Das Cover besteht aus Kreidezeichnungen von Nadine en Noir, die auf Filmfotos basieren. Man hat also ein volles Programm, wenn man das Album kauft. Die Grundidee ist bei unseren Filmvertonungen immer, dem Klischee des melodiösen Klavierklimperns zu den flackernden Bildern zu widersprechen, das sich in Deutschland als Stummfilmuntermalung verfestigt hat. Unsere Klangkunst ist vielschichtig und soll der Komplexität des filmischen Werkes gerecht werden.
Spontis: In Deiner E-Mail, die du mir geschrieben hast, um auf Dein Projekt aufmerksam zu machen, hast du von einer Relevanz für die Gothic-Szene gesprochen. Wie sieht diese Relevanz aus?
Marcus Stiglegger: Ich kenne die Gothicsubkultur seit den mittleren 1980er Jahren, war DJ zwischen 1991 und 2000 und bin seit 2002 selbst musikalisch in diesem Bereich aktiv. Ich habe bis heute einen sehr grundsätzlichen Gothic-Begriff, der die gesamte Kunst und Kultur umfasst, die mit Gothic Fiction, schwarzer Romantik und modernem Gothicstil in Zusammenhang steht. Meine persönliche Erfahrung in der Gothic-Szene ist sehr gut in dem Buch „Schillerndes Dunkel“ gespiegelt, das die vielschichtigen Interessen und Obsessionen innerhalb der Gothic-Szene diskutiert.
Alles, was düster, pessimistisch und menschenfeindlich erschien, wurde in den 1980er und 1990er-Jahren erkundet: Okkultismus, Heidentum, Faschismus oder auch Serienmord. Die Inquisition, die Folterungen, die Verfolgung der Heilkundigen als Hexen – all das war von Interesse und tauchte in Musik, Videos und Selbstdarstellung wieder auf. Man las Nietzsche, Anton la Veys „Satanic Bible“, Edred Thorssons „Runenkunde“, Elisabeth Haichs „Einweihung“, den „Hexenhammer“ und die „Psychopathia Sexualis“. Gothic-Musiker wie Rozz Williams oder David Tibet lebten das vor.
Filme wie Häxan, The Wicker Man, Das Omen, Der Exorzist, Nosferatu, Das Cabinet des Dr. Caligari wurden gesehen und getauscht. Aus diesen Interessen heraus ist Häxan von enormem Interesse, wenn man keinen Gothic-Begriff lebt, der bei Plastiktotenköpfen, New Rock Stiefeln und Elektrobeats endet.
Spontis: Ich stelle folgende These auf: Diese Relevanz – die ich durchaus auch erkenne – ist ein konstruiertes Gebilde erwachsener Alt-Gruftis, um ihrem Dasein in schwarzen Klamotten und Totenkopfdeko einen Hintergrund zu verleihen. In den 80er waren entsprachen Musik und Styling unserem Wunsch, uns von der „Erwachsenen-Welt“ abzugrenzen. Die Bühne lebte diese okkult angehauchte Lebensart vor, die Künstler spielten mit Todesästhetik und suggerierten durch teilweise auf der Bühne projizierte Stummfilme und Horror-Klassiker eine inhaltliche Nähe zu diesem Thema. Mir kam das sehr gelegen, denn so hatte ich Anfang der 90er Dinge, die mich über die „jugendliche Phase“ in der Szene hielte und bis heute halten. Wie siehst du Das?
Marcus Stiglegger: Das ist im Grunde eine eher selbstkritische Variante meiner These. Für eine solche kritische Selbstbespiegelung sehe ich keinen Anlass. Gothic ist ewig. Als ich wirklich in die Szene kam, war ich kein Jugendlicher mehr. Ich sehe Gothic als einen Lebensstil, nicht als eine jugendliche Subkultur, die es eben auch gab und gibt. Diese hat mich nie sonderlich interessiert. Meine Perspektive schafft eine Verbindung über Jahrhunderte hinweg, die ich nicht als ‚konstruiert‘ begreife, sondern als eine begründbare Beobachtung lange zurückreichender Prozesse.
Spontis: Du planst Konzerte mit dem Film, was ich sehr spannend finde. Ich stelle mir eine Stummfilm-Vorführung mit Live-Band ziemlich authentisch und aufregend vor, was können die Zuschauer erwarten?
Marcus Stiglegger: Vortex treten üblicherweise zu zweit auf, mit Percussion, Stimme, Gitarre und obskuren anderen Instrumenten (von Dulcimer bis Maultrommel). Die Projektion ist möglichst groß im Hintergrund, wir spielen vor der Leinwand. In Kinos hat das bereits sehr gut mit dem Film Vampyr von Carl Theodor Dreyer funktioniert. Die offizielle Premiere des Häxan-Konzepts wird an Halloween 2022 im Frankfurter Harmonie-Kino stattfinden. Dort wird auch die buddhistische Ritualband Nam-khar spielen, mit der Vortex aktuell das Album Nag Hammadi (Winter-Light) veröffentlicht hat. So oder so: Vortex ist abgrundtief finster, grollend, dröhnend und pulsierend in den rituellen Beats. Unser Programm ist archaische Ritualmusik mit modernen Mitteln. Hat das etwas mit Gothic zu tun? Ich denke schon, aber am Ende entscheidet das Publikum.
- Eine etwas tiefgreifendere Analyse des Films mit Marcus Stiglegger
- Die Band Vortex bei Bandcamp und bei Facebook
- Marcus Stiglegger hat auch eine eigene Homepage und ist in einem Podcast aktiv
Häxan mit Vortex zu Halloween im Harmonie-Kino ist vorgemerkt. Ich war schon bei Vampyr mit Vortex und kann es nur empfehlen.
Das Konzert ist nach Wiesbaden verlegt: Vortex Samhain Ritual: A Tribute to HÄXAN | Facebook
Unwissend und kulturell abgehängt“, sehr gut ausgedrückt : D
So fühle ich mich allzuoft. Jetzt kann ich diese Bildungslücke in Sachen Film schließen, muss allerdings zugeben das ich Stummfilme anstrengend finde. Das Konzept mit dem neuen Soundtrack und den Live–Aufführungen klingt aber vielversprechend!
Ps: Sehr interessantes Interview! „Meine Perspektive schafft eine Verbindung über Jahrhunderte hinweg, die ich nicht als ‚konstruiert‘ begreife, sondern als eine begründbare Beobachtung lange zurückreichender Prozesse.“ – Diese Sichtweise kann ich sehr gut nachvollziehen.
Der Begriff Gothic hat zwar Ende der 1970 Anfang der 1980er in der Jugendkultur einzuggehalten, ist aber nicht darauf beschränkt. Das, wofür er auch meines Eindrucks nach steht, ist in verschiedenen Zeiten der Kulturgeschichte und in allen Ecken der Welt zu finden. Dieses epochenübergreifende Lebensgefühl ist, was mich als Jugendliche primär daran fasziniert hat.
Bin gespannt. Vortex‘ Soundtrack zu „Vampyr“ fand ich grandios, einfallsreich und atmosphärisch absolut ansprechender als das erwähnte obligatorische Geklimper, mit dem Stummfilme meist unterlegt werden/wurden.
Daumen hoch für dieses sehr informative Interview. Tatsächlich war mir der Film auch nicht bekannt, und das muss natürlich geändert werden.
Die Einstellung von Herrn Stiglegger zum Thema Gothic hat mir recht gut gefallen, was sich teils auch in Vortex widerspiegelt.