Linie 1 – Musical, Film und Sozialstudie der 80er-Jahre

Eins vorweg: Musicals sind nicht meins. So überhaupt nicht, denn das Gesinge und Gehopse zwischen den Theaterpassagen darin nervt mich ungemein. Da Ausnahmen aber die Regel bestimmen, gibt es tatsächlich ein Musical, das ich richtig gut finde, sowohl auf der Bühne als auch in der Verfilmung, um die es hier geht. „Linie 1“ ist zum einen 80er-Jahre-Nostalgie pur und liefert zum anderen auf humorvolle Art etliche Sozialstudien. Und es kommen einige coole bis szenige Looks darin vor!

Die U-Bahn-Linie 1, die mittlerweile eine zum Teil veränderte Streckenführung hat, durchfuhr etliche Westberliner Kieze mit völlig unterschiedlichem Sozialstrukturen. Vom mondänen Wilmersdorf über den stark frequentierten und kriminalitätsbelasteten Bahnhof Zoo – bekannt auch durch Christiane F. – bis zum schmuddelig-anarchischen Kreuzberg mit hohem Migrantenanteil.

Linie 1 – Die Geschichte

Sunny, eine naive Teenagerin aus der Provinz, ist von zu Hause abgehauen und auf der Suche nach dem Rockstar Johnny. Der hat sie bei einem Auftritt rumgekriegt und ihr die große Liebe geschworen. Nun ist sie von ihm schwanger und folgt seiner Aufforderung, zu ihm nach Berlin zu kommen, wenn sie es zu Hause nicht mehr aushält.

Am Bahnhof Zoo (der einzige Fernbahnhof des damaligen Westberlins) angekommen, fragt sich durch, um zu Johnnys Adresse nach Kreuzberg zu kommen. Wie es für Berlin typisch ist, sind die meisten Passagiere in Hektik oder zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um zu helfen. Die wenigen Leute, die sie beachten, sind zumeist fragwürdige Gestalten.

Sunny begibt sich mit der legendären U-Bahn-Linie 1 Richtung Kreuzberg, wo sie an der Endhaltestelle auf Bambi trifft, der auch nicht ganz „sauber“ zu sein scheint, ihr aber zu helfen verspricht. Solange Bambi sich auf die Suche nach Johnny macht – die angegebene Adresse existiert laut seiner Aussage nicht – reist Sunny auf sein Geheiß zurück zum Bahnhof Zoo, um dort auf ihn zu warten.

Während der Rückfahrt und dem Aufenthalt am Bahnhof begegnet sie weiteren schrägen, zwielichtigen und traurigen Gestalten, muss vor einem Zuhälter und einem mysteriösen Verfolger flüchten und landet erneut in der U-Bahn Linie 1. Hier macht sie weitere Bekanntschaften und Beobachtungen, quer durch alle Gesellschaftsschichten und soziale Gefüge. Wer öfter in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs ist, wird hier einige wohlvertraute Szenen finden, die zuweilen mit den Augen rollen oder schmunzeln lassen – oder betroffen und nachdenklich machen.

Ob Sunny ihren Schwarm Johnny wiederfindet und wie die Geschichte ausgeht, werde ich natürlich nicht verraten.

Linie 1 – Vom Theater auf die Leinwand

Ich habe kurz nach der Jahrtausendwende einmal das Theaterstück Linie 1 gesehen, was ich auch sehr gelungen fand (den Film habe ich erst viel später kennengelernt). Es ist seit 1986 eine feste Größe im Berliner Grips-Theater Programm, immer wieder leicht abgewandelt und mit aktuellen politischen und sozialen Themen, die verarbeitet werden.

Der Film, 1988 gedreht, ist trotz deutlicher 80er-Jahre-Couleur absolut zeitlos. Es gibt Gruftis, Punks, Rocker, Zuhälter, Obdachlose, Alkies, Familien, Schüler und mehr oder weniger normale Normalos. Sie passen gut zur Rahmenhandlung und die Rollen sind sehr gut besetzt. Übrigens spielen einige Schauspieler gleich mehrere Rollen, bei manchen erkennt man es, bei anderen hingegen kaum. Die Handlung spielt komplett in Bahnhöfen und U-Bahn-Zügen. Die vielen, wenn auch zum Teil überzeichneten Charaktere, machen den Charme aus. Die Gesangseinlagen sind meist witzig-bissig, aber zum Teil auch gesellschaftskritisch oder sogar traurig.

Als Kind, in den 80ern und zu Mauerzeiten, bin ich nicht selbst mit dieser Linie gefahren, weil ich ganz am nördlichen Stadtrand wohnte und wir, wenn wir mal in die City fuhren, das Auto nahmen. Aber seit Anfang der 90er, wo ich wieder in Berlin lebte und mit Freunden das Nachtleben unsicher machte, war ich hier gelegentlich unterwegs. Eine ehemalige Freundin lebte in Spandau und wir fuhren von dort oft nach Ruhleben und dann die komplette Strecke bis zum Bahnhof Schlesischen Tor (und weiter nach Treptow zu Veranstaltungen auf der Insel der Jugend). Und wenn ich zu Veranstaltungen im ehemaligen „Kato“ direkt im Bahnhof Schlesisches Tor fuhr, war natürlich auch die U1 unumgänglich. Aber darüber hinaus war und bin ich nicht häufig auf dieser Linie unterwegs. Kreuzberg ist immer noch multikulti, aber auch massig gentrifiziert und hip geworden, der Kurfürstendamm wie die gesamte City West eher auf dem absteigenden Ast, daher dürften sich die Fahrgäste auf den einzelnen Abschnitten nicht mehr so deutlich unterscheiden wie damals.

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Black Alice
Black Alice (@guest_63990)
Vor 11 Monate

Woher kommt denn diese 80er Nostalgie?

Alex.
Alex.(@velofreak)
Antwort an  Black Alice
Vor 11 Monate

Nun ja, in meinem Fall erreichen die Kinderchen nach und nach das Alter, in dem ich damals war. Dann erzählt man halt auch mal abends am Kamin mit brüchiger Stimme und Gegacker – und fällt unversehends in den Nostalgiehasenbau. Aber das läuft bei jeder/jedem anders.

Black Alice
Black Alice (@guest_63994)
Antwort an  Alex.
Vor 11 Monate

Naja, ich erzähle gerne von den 80ern. Aber das ist meine Vergangenheit, bzw die vergangenheit derer, die diese erlebt haben. Aber warum interessieren sich so viele junge Menschen dafür? Sie tun so als hätten sie eine Sehnsucht nach dieser Zeit. Das finde ich seltsam. Vielleicht entwickelt sich so etwas wie Rockabilly, nur eben 80er mäßig. :-)

Marquis
Marquis(@marquis)
Antwort an  Black Alice
Vor 11 Monate

Gab´s nicht mal den Spruch:
„Wer sich an die 80er erinnern kann, hat sie nicht richtig gelebt“? ;-)

Robert
Robert(@robert-forst)
Admin
Antwort an  Black Alice
Vor 11 Monate

Die Erklärung (jedenfalls meine) könnte sehr ausführlich werden, ich beschränke mich auf das Nötigste.

Zum einen sind die 80er die Vergangenheit derer, die jetzt Jugendliche Kinder haben und die sich wohlmöglich für die Vergangenheit, von der die Eltern (vielleicht) ständig reden, interessieren.

Darüber hinaus sind die 80er ein musikalisch und stilistisch sehr einflussreiches Jahrzehnt, das sich auch in heutigen Dingen wiederfindet und dauernd recycelt wird. Vieles, von dem wie heute technologisch profitieren, hat seinen Ursprung in diesem Jahrzehnt.

Ich glaube, es ist auch eine Art Neugier, nicht Sehnsucht, die junge Leute in die Beschäftigung mit der Zeit drängt. Wie war das denn damals OHNE die ganze Technologie? Wie war es, als es die Mauer noch gab? Wo liegen die Ursprünge einiger aktueller musikalischer Stars? Und warum berufen sich aktuelle Künstler so intensiv auf diese Zeit?

Ich persönlich halte die 80er für ein enorm einflussreiches Jahrzehnt. Gut, diese Sichtweise ist möglicherweise ein wenig durch meine Vergangenheit gefärbt, aber sei es drum.

Und tatsächlich. Ein bisschen Sehnsucht könnte auch dabei sein. Die 80er waren im Gegensatz zum heute viel entschleunigter, kleiner, überschaubarer. Oder?

Robert
Robert(@robert-forst)
Admin
Antwort an  Tanzfledermaus
Vor 11 Monate

Nostalgie ist das Sprungbrett, sich Film oder Musical anzuschauen :-) Mir ist „Linie 1“ bis vor Kurzem auch kein Begriff gewesen. Ich habe mir das Musical angesehen und bin auf der Welle der Vergangenheit geritten. Ich bin also genauso eingestiegen wie einige der Leser.

Allerdings reißt für mich die Nostalgie-Welle immer wieder ab, da ich als Nicht-Berliner keinerlei Erfahrungen mit Stadtteilen/Kiezen habe und das Musical wohlmöglich nicht so „fühle“, wie es ein Berliner aus dieser Zeit empfindet. Ja, wir hatten hier nicht mal eine U-Bahn!

Nach dem Musical ist der Neid nur noch größer geworden :-)

Spannend finde ich allerdings, dass „Linie 1“ immer noch aufgeführt wird und sich hauptsächlich an Schulklassen richtet -> https://www.grips-theater.de/de/stuecke/linie1/90 <- Offensichtlich ist die Nostalgie auch eine Art Lehrinhalt. :-)

Gruftwurm
Gruftwurm (@guest_63999)
Vor 11 Monate

Vorab möchte ich erwähnen, ein wirklich schöner Bericht, ich mag Deinen Schreibstil. Den Film oder das Musical Linie 1 kannte ich bis jetzt nicht, aber ich bin auch kein großer Freund von Musicals. Trotzdem macht der Bericht und der Trailer mich sehr neugierig und werde diese Lücke in nächster Zeit mal schließen. Wieder was neues für mich entdeckt. ;)

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