In ihrem Artikel „Zurück ins Dunkle: Warum ich ein Grufti war“ (Neuerdings nur mit ABO, bei Facebook aber noch zu lesen), der in der NZZ am Sonntag erschienen ist, beschreibt Autorin Julia Kohli ihren Werdegang in der Gothic-Szene, den sie mit 17 begann und der mit Mitte 20 abrupt endete. In einer sehr persönlichen Geschichte beschreibt sie ihre Erfahrungen als Grufti und schildert die Beweggründe, die sie damals in die Arme der Gothics getrieben haben. „Viele Jahre habe ich mich in der Gothic-Szene bewegt. Sie machte mich frei von gesellschaftlichen Zwängen. Heute vermisse mich mein Leben als Grufti.“ Nach 20 Jahren ohne Subkultur hat sie sich 2021 wieder entschlossen, einer aktuellen Party der Szene einen Besuch abzustatten.
Mir selbst und vielen Lesern, die mir diesen Artikel als Link geschickt haben, hat dieser Einblick außerordentlich gut gefallen. Jeder fand Anknüpfungspunkte an die Erinnerungen und Erfahrungen, die Julia Kohli damals und heute gemacht hat. Wie sie sich selbst fühlt, was sie ausmacht und womit sie sich in ihrem aktuellen Buch „Menschen wie Dirk“ beschäftigt, lässt allerdings nur einen Schluss zu: Sie ist immer noch ein Grufti. Es sind also brennende Fragen offen geblieben. Darunter die wichtigste Frage in ihrem Artikel: Warum ist sind denn nun kein Grufti mehr? Spontis hat nachgefragt.
Interview mit einem Ex-Grufti
Mit 17 bist du, wie du in deinem Artikel schreibst, in die Szene gerutscht. Wie bist du überhaupt in die Schweizer Gothic-Szene gekommen, Mitte der 90er Jahre?
Ich glaube MTV mit all den genialen Clips von The Cure und Depeche Mode war eine Art Inspiration, dann kaufte ich alle möglichen CDs, hortete diese wie ein Eichhörnchen und hörte sie allein. Ich hatte oft ganz üblen Liebeskummer, das passte dann gut. Bald kaufte ich das erste Gothic-Magazin. Ich hatte mehrere Brieffreundschaften mit sympathischen Gruftis, es gab ja diese interessanten Kleinanzeigen in den Heften. Die Club-Zeit kam dann eher so gegen Ende der Neunziger. Geht der offizielle Einstieg in die Szene über Clubs? So wie das Gleis neundreiviertel bei Harry Potter? Ich weiß eigentlich bis heute nicht genau, wann man drin ist und ob ich je drin war.
Wo hat man sich als Gothic in Zürich damals herumgetrieben, wie bist du an Deine Outfits gekommen und an welche Festivals oder Konzerte kannst du Du Dich noch erinnern?
X-tra, Endstation, Dynamo, D-33 und Abart heißen oder hiessen die Clubs, wo ab und zu Gothic-Parties stattfanden. Letztere zwei gibt es so nicht mehr. Der Club Abart wurde so viel ich weiß abgerissen, das D-33 heißt jetzt Zukunft. Ich bin auch gerne für Parties herumgereist.
Outfits gabs im „Soho“ und sonst gabs ja diese Kataloge, wo man Kleider aus Deutschland und England bestellen konnte. So extrem modebewusst war ich aber nicht, ich war eher ein schlampiger Grufti. Ich glaube, eines der allerersten Konzerte Richtung Gothic war New Model Army in Winterthur. Langweilig aber irgendwie doch schön. Eines der besten Konzerte anfangs der Nullerjahre war für mich Cinema Strange in Bern. Ich hatte davor absurde Kopfschmerzen und nach dem Konzert waren sie weg. Aufs WGT oder sonstige Festivals ging ich nie, ich habe Mühe mit Menschenmassen und Reizüberflutung, irgendwo hingehen kann ich schon, muss aber immer sehr gezielt sein und nur für wenige Stunden.
Glaubt man dem Autor und Gründer des „Archiv der Jugendkulturen“ Klaus Farin und seinen einschlägigen Publikationen über die schwarze Szene, so kommen Gothics „meist aus der Mittelschicht oder gutbürgerlichen Familien“ oder, wie in deinem Fall, „einem Reihenhaus in der Zürcher Agglomeration„. Warum sind deiner Meinung nach gerade Menschen aus diesem Umfeld anfällig für die Reize der Gothic-Szene?
Ich bin mir gar nicht so sicher, ob das für die Schweiz stimmt. Mir ist in dieser Szene vom Sozialhilfeempfänger bis zur Anwältin so ziemlich alles begegnet. Ich habe keine Statistik geführt, aber ich glaube, hier war und ist die Szene punkto Klasse sehr durchmischt. Vielleicht war das in den 80ern elitärer oder in Deutschland? Wer weiß… Mir fällt da eines meiner Lieblingsbücher ein, „The Buddha of Suburbia“ von Hanif Kureishi. Die Sehnsucht des Protagonisten, die Welt dieser gepflegten Vorgärten und unglücklichen Kleinfamilien zu verlassen, kann ich sehr gut nachvollziehen.
Du schreibst, dass Du Dich durch die Zugehörigkeit zur Gothic-Szene von gesellschaftlichen Zwängen befreit hast, von welchen Zwängen sprichst du?
Mein dunkles Styling empfand ich zunächst als eine Art Idioten-Filter. Man wird automatisch von gewissen Leuten gemieden. Aber generell: Der Zwang zur guter Laune, der Zwang als Frau lieblich und nett auszusehen, vor allem der Zwang „normal“ zu sein, was auch immer das heißt. Ich glaube, Gruftis sind eher bereit über psychische Probleme offen zu reden und beschämen sich nicht gegenseitig dafür. Stimmt sicher nicht für alle, aber ich habe es mehrheitlich so erlebt. Jeder Mensch verzweifelt doch an dieser Welt, in der Gothic-Szene rückt diese Unsicherheit ins Zentrum. Ich finde das sehr befreiend. Machertypen, die alles im Griff haben und dauernd lächeln sind mir immer noch suspekt.
Friedhöfe waren meine Oasen. Mein Zimmer räucherte ich mit Weihrauch aus, mich selbst besprühte ich mit Patschuliparfum. Im Nachhinein muss ich über so manch pathetisches Klischee lachen. Aber wieso eigentlich? Ist Golfspielen oder Hornussen als Lifestyle nicht um einiges absurder? (Aus dem Text der NZZ am Sonntag)
In deinem Buch „Menschen wie Dirk“ das jüngst erschienen ist, „sezierst du Rollenbilder und Geschlechterkonflikte im Hier und Jetzt“ und bist mitunter „beissend, beinahe böse und ironisiert überzeichnend„, wie die Kritiker schreiben. Ich bin mir fast sicher, dass diese Weltsicht ein gemeinsamer Nenner vieler Gothics ist. Eine Mischung aus Misanthropie und Fremdkörpergefühl im sozialen Umfeld. In welchem Zusammenhang steht das Buch zu deiner Jugend als Grufti?
Ja, wahrscheinlich merkt man den Kurzgeschichten an, dass ich einen etwas finsteren Blick auf die Gesellschaft und vor allem auf patriarchale Strukturen habe. Früher hatte ich einen richtigen Menschenhass, der ist heute etwas spezifischer. Das Erstaunliche beim Schreiben ist ja, dass man unerwartet Empathie für manche Figuren entwickelt, darum habe ich Dirk, der eigentlich ein Ekel ist, doch nicht umgebracht, wie ich es eigentlich vorhatte. Es geschieht viel Unheimliches, wenn man schreibt. Man stirbt ein bisschen, man taucht ab in eine sehr intensive Welt, und manchmal spürt man wie die Figuren in der Wohnung herumstehen. Das ist für mich auch Gothic. Ich glaube, ich habe die Frage gar nicht richtig beantwortet?
Du behauptest, kein Grufti mehr zu sein und datierst mit Mitte 20 ein Art Ausstieg aus der Szene. Als Grufti, der immer noch dabei ist und einfach keine Ende findet, frage ich mich: Wie steigt man eigentlich aus?
Ja, offiziell bin ich ja weder ein- noch ausgestiegen. Ich fürchte, ich habe eine Art Paranoia, dass da draußen irgendwo eine Grufti-Polizei über mich richtet – und diese würde wohl sagen, dass ich keiner bin.
Warum Julia Kohli kein Grufti mehr ist, aber im Grunde wieder einer sein sollte
Du stellst dir selbst in deinem Artikel die Frage, warum du kein Grufti mehr bist, bleibst dem Leser allerdings eine Antwort schuldig, wie ich finde. Warum bist du denn nun kein Grufti mehr?
Ich glaube, ich wollte einfach in der Masse untergehen. Sehr uncool! Die Parties wurden zudem auch immer langweiliger, das ganze Drumherum hat mich einfach nicht mehr interessiert. Dazu kamen immer mehr Freundschaften und Beziehungen mit Menschen, die nichts mit der Szene zu tun hatten. Es war aber so ein langsamer Prozess, ich habe das gar nicht aktiv mitbekommen. Vielleicht habe ich mich auch von Stimmen beeinflussen lassen, die behaupteten, es sei „infantil“ als Grufti rumzulaufen. Aber ich weiß bis heute nicht genau, was denn mit „erwachsen“ gemeint ist. Sind das diejenigen, die Babyshowers organisieren, Streit in der IKEA haben und für eine Karriere ihre Würde verlieren? Damit habe ich auch nichts am Hut.
Ich fühlte mich zwar nicht marginalisiert, das Zelebrieren der Vergänglichkeit verstand ich aber als Schutzschild gegen die Anforderungen meiner Umwelt. Der Rückzug in diese dunkle Welt bedeutete für mich Geborgenheit und Ruhe von genormten Zwängen. Von Aussenstehenden wird die Gothic-Szene oft zu Unrecht pathologisiert oder mit Satanismus gleichgesetzt, während Gewalt und Frauenhass in Deutschrap schulterzuckend hingenommen werden. (Aus dem Text in NZZ am Sonntag)
Deine „melancholische und introvertierte Natur„, eine Vorliebe für Friedhöfe, Weihrauch und Tanzhits der Vergangenheit und die „Unangepasstheit“, die man dir in Kritiken zu deinem Buch attestiert, lassen nur einen Schluss zu. Du bist immer noch ein Grufti. So etwas wächst nicht raus. Warum wirst du nicht wieder ein „richtiger“ Grufti? Was spricht dagegen?
Meine Faulheit spricht dagegen. Vielleicht bräuchte es eine Makeover-Show für Leute wie mich.
Nach fast 20 Jahren ohne Szene, wenn man das so sagen kann, hast du Dich wieder mit einer Freundin auf die Tanzfläche gewagt. Möglicherweise hast du ja für deinen Artikel Internet recherchiert über die Szene. Was hat sich aber nach deiner Sicht der Dinge zu deinem „damals“ verändert?
Ich glaube reine Frauenbands wie Kælan Mikla gab es früher weniger? Ich war auf jeden Fall sehr froh, als ich diese Band entdeckt habe! Aber groß recherchiert, habe ich nicht, muss ich gestehen. Viele Webseiten scheinen auch so um 2007 eingefroren zu sein.
Last, but not Least: Julia Kohlis Top 5 ihrer Gothic-Songs?
The Cure – One Hundred Years
Anne Clark – Lovers Retreat
Eleven Pond – Watching Trees
Esben and the Witch – No Dog
Noi Kabat – Make Room
Wer ist Julia Kohli?
Julia Kohli, geboren 1978 in Winterthur, machte eine Buchhandelslehre, studierte Wissenschaftliche Illustration, Anglistik, Osteuropäische Geschichte sowie Kulturpublizistik in Zürich. Sie schreibt für Das Magazin und die NZZ am Sonntag. Ihr Roman Böse Delphine wurde 2018 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Prosadebüt ausgezeichnet. Ihr aktuelles Buch, „Menschen wie Dirk“ beschreibt ihr Verlag folgendermaßen: „Rasant, provokant und sprachgewandt, oft schmunzeln machend und plötzlich wieder schockierend – mit diesen sieben Short Storys legt Julia Kohli eine Textsammlung vor, die mitten in ein gesellschaftliches Reizthema sticht. Sie ist dabei ebenso unangepasst wie überzeugend.„
Hallo Robert, ich würde den Artikel gerne lesen, möchte mich aber nicht extra für die Seite anmelden müssen. Es gab ja in der Vergangenheit schon öfter verlinkte Artikel zu Seiten, wo man nicht ohne Anmeldung/Abo weiterlesen konnte. Das finde ich sehr schade – zumindest ein Hinweis auf solche Verlinkungen (z.B. dahinter in Klammern) wäre hilfreich.
Das finde ich auch sehr schade, weil der Beitrag zu Beginn auch noch hinter keiner solchen Schranke war, sondern für jedermann frei zu lesen. Da hat sich die NZZ gedacht, bei so vielen Zugriffen – das müssen wir ausnutzen. Ein kleiner Tipp: Dieser Link bei FB zeigt den ganzen Artikel, auch ohne FB-Account:
https://www.facebook.com/XTRA.MTM/posts/4652720111426152
bei mir kommt da leider nur eine Aufforderung, mich bei Facebook anzumelden :-(
Komisch. Ich habe es jetzt extra an meinem Laptop ausprobiert, das frisch installiert ist und garantiert keine Anmeldung drauf ist. Da kann man ihn lesen. Ich muss zwar die Cookies akzeptieren (logisch) aber beim Anmeldefenster klicke ich auf „Jetzt nicht“ dann ist es weg. Hier ein Screenshot: http://prntscr.com/1tlmtz5
Ich habe mir vor längerer Zeit auch einmal die Frage gestellt, ob sich das „Schwarz sein“ irgendwann verflüchtigen wird, wenn man nicht mehr in der Szene aktiv ist und auch äußerlich nicht mehr dem „typischen“ Bild entspricht. (Sofern es DAS typische Bild überhaupt gibt…)
Ich kam zumindest für mich selbst zu dem Schluss, daß dem nicht so ist.
Auch 25 Jahre später hat sich am meiner Lebenseinstellung und meiner musikalischen Ausrichtung grundsätzlich wenig geändert.
Auch in meinem Kleiderschrank dominiert die Farbe schwarz immer noch eindeutig.
Wenn ich auf einem Konzert das entsprechende Publikum antreffe, ist das irgendwie wie „heim kommen“. 😉
Insofern lautet meine Theorie, wer sich einmal mit dem Szene-Virus infiziert hat, der wird ihn wahrscheinlich nicht wieder los.
Aber aus welchem Grund sollte man das eigentlich überhaupt wollen? 😄
So mit 18/19/20 war es mir tatsächlich unangenehm mit der Szene in Verbindung gebracht zu werden. Ich wollte beweisen das ich erwachsen bin und weil es so viele Menschen (die von Szenen und Subkulturen keine Ahnung haben) mit Unreife assoziiert haben, passte das nicht zu dem Bild, das ich von mir entwerfen wollte. Vollkommen zwecklos, denn heute weiß ich, erwachsen werde ich sowieso nicht, nur alt ; )
Grundsätzlich ist und bleibt man derselbe Mensch, ob man nun auch bunte Sachen an hat, schlichtes Schwarz oder im totalen Gruftilook. Wobei „einmal Grufti immer Grufti“ wahrscheinlich nicht für alle gilt. Es gibt bestimmt auch diejenigen, bei denen es tatsächlich „nur eine Phase“ in der Pubertät war. Doch ich denke, dass es eher die Seltenheit ist.
Ich hab sowieso nie irgendwo dazugehört. Ob nun Szene oder Mainstream. Die schwarze Szene hat mir jedoch definitiv mehr Identifikationspotential geboten als alles andere. Und ich hab schon viel ausprobiert und gemacht. So schlägt mein Herz einfach für die Szene. Selbst dann, wenn ich eher abstinent bin, und nicht aktiv am Szenenleben teilnehme. Vielleicht kann man es mit einer On-Off Beziehung vergleichen. Die Liebe bleibt, auch wenn man gerade nicht zusammen ist. Auch der Begriff „heimkommen“, wie im Kommentar erwähnt, trifft es sehr gut!
Der „Idioten-Filter“ hat auch bei mir damals sehr gut funktioniert. Auf meinem Gymnasium ging es in den Mittelstufen-Jahren auf eine merkwürdig abstoßende Art und Weise nur um Party (Saufen, Sex & „Spaß“) oder um Konsum. Bis zum Abi kam ich nur mit PC- und Mathefreaks gut aus, obwohl ich selbst eher Romane las oder erste Essays von berühmten Toten.
Da pass ich rein! Ich war Grufti und PC-Freak in einer Person! Allerdings habe ich kein Abitur, sondern nur Realschule. Und die war während meiner Zeit sogar noch nach Geschlechtern getrennt. Heute unvorstellbar :)