Das Webformat „Hooked On The Look“, was man wohl mit Stylesüchtig übersetzten könnte, beschäftigt sich mit Menschen, die außergewöhnlich viel Wert auf ihr Äußeres legen. Im skurrilen, extremen und bizarren Sinne. Die meisten Protagonisten der Sendung scheuen selbst chirurgische Eingriffe nicht, um ihrer Idealvorstellung eines perfekten Äußeren gerecht zu werden. Nehmen wir beispielsweise Vinny Ohh (23), der plant, seine primären Geschlechtsorgane entfernen zu lassen, um als „geschlechtsloser Alien“ wahrgenommen zu werden oder Rodrigo Alves (34), der sich bereits 4 Rippen entfernen ließ, um seine Corsagen noch enger schnüren zu können.
Jude und Rosie, die ebenfalls bei „Hooked On The Look“ vorgestellt wurden, nehmen es nicht ganz so extrem wie die meisten anderen, bestechen dafür aber durch eine ziemlich skurrile Liaison. Jude, äußerlicher Vollblut-Goth, deren Einrichtung NUR aus schwarz-weißen Dingen besteht und Rosie, die sich selbst als 80s Space Baby bezeichnet und in einer quietschbunten Einhorn-Regenbogenwelt lebt, haben sich einer kontrastreichen Wohngemeinschaft zusammengeschlossen. Ihr Umkleidezimmer teilt sich -im wörtlichen Sinne- in zwei Hälften, der die Sinne eines normal-sterblichen kommentarlos in die Reizüberflutung werfen.
Zwischen Selbstverwirklichung und Provokation
Rosie und Jude leben ihren Style aus und sind ihrem ästhetischen Idealbild offenbar ziemlich nahe. Eine der häufigsten Fragen, so verraten sie uns im Interview, sei die Frage nach dem „Warum?“, die sie stets damit beantworten, „so zu sein, wie sie eben sind“. Mit Anfang 20 schon am Ende der Selbstverwirklichung?
Schnell wird klar, das es sich weniger um eine Verwirklichung sondern vielmehr um eine Flucht handelt, der realen Welt zu entfliehen. Natürlich leben beide in scheinbar idealen Verhältnissen, denn als blutjunge Studenten sind sie von der realen Welt noch relativ gut abgeschirmt. Immerhin haben sie hier zwei Seelenverwandte getroffen, die sich in ihrer Andersartigkeit unterstützen und verstehen, was diese WG schon irgendwie spannend macht.
Wie viel Provokation dahinter steckt, lässt sich nicht erkennen. In wie weit sich Jude beispielsweise mit „Goth“ als Subkultur identifiziert, bleibt ebenfalls offen. Getragen wird ihr penibler Wunsch nach Andersartigkeit von einem ausgeprägten Fluchtverhalten. Ehrlicherweise muss man zugeben, dass „Gothic“ schon immer genau das war: Eine Realitätsflucht. Provokation, so finde ich, steckt und steckte fast nie dahinter.
So bleibt, gerade wenn man die andere Videos von „Barcroft TV“ anschaut, die Frage, wohin uns das Rennen um die Andersartigkeit noch führt. Nachdem 2018 Piercings und Tattoos längst zum guten Ton gehören und selbst die sprichwörtliche Kassiererin im Supermarkt jeden Grufti aus den 80er locker übertrumpft, wird es immer schwieriger „anders“ zu sein. Mit schwarzen Klamotten, Pikes, Kajal und toupierten Haaren bist du allenfalls ein Urgestein, aber schon lange nicht mehr das, was die nachwachsende Generation unter „Goth“ versteht. Um als äußerlich „Extrem“ gesehen zu werden und seine Andersartigkeit zu unterstreichen, muss man heutzutage schon tiefer in die Trickkiste der Body-Modification greifen. Ohne ausrasierte Haare, Tattoos, Piercings, gespaltener Zungen und Elfenohren ein Gothic sein? Ist das überhaupt noch möglich?
(Danke an Simone für den Hinweis!)
Ich habe mir das jetzt mal ohne Ton angeschaut, da ich gesprochenes Englisch eh kaum verstehe und mir das Gequatsche dann schnell auf den Keks geht. Ansonsten kann ich nur sagen: stylesüchtig trifft es ganz gut. Normal ist das jedenfalls bei beiden nicht mehr, ich würde mal sagen Selbstdarstellung trifft Provokation, trifft Realitätsflucht trifft Karneval. Selbst dem Look des „schwarzen“ Mädels kann ich nicht viel abgewinnen, ist halt typischer Ami-Grufti-Klamotten-Look einschlägiger Marken (lustig übrigens die permanente „Zensur“ ihres Shirt-Aufdrucks im Video) und was sie sich da ins Gesicht malt, hat wirklich mehr Fasching-Attitüde. Und wenn ich die gespaltene Zunge der Bonbon-Tante sehe, wird mir übel. Sorry, nicht meine Welt, weder die S/W-Trulla noch die Pastell-Puppe. Dann lieber weniger Faschingskostüm und Schaulaufen, das wirkt authentischer als dieser Zirkus.
„Ohne ausrasierte Haare, Tattoos, Piercings, gespaltener Zungen und Elfenohren ein Gothic sein? Ist das überhaupt noch möglich?“
Natürlich ist das möglich, und es gibt ja auch gerade unter vielen jüngeren Goths einen Nostalgie-Trend, der dazu führt, dass man wieder häufiger hochgestellte Haare, Pikes und weiteres aus dem Oldschool-Look zu sehen bekommt. Sicher nicht sehr innovativ, aber immerhin ein Statement.
Umgekehrt gibt’s eben diese Modekatalog-Girlies, die sich der neueren Stereotypen bedienen, wie typisch für viele „Goths“ aus Amerika, die nie den Zugang zu den Wurzeln aus London und dem Punk fanden, sondern eigene Kreationen schufen. Man kann schon ziemlich deutlich erkennen, welche Goths vom europäischen Festland und dem UK stammen und wer aus Übersee. Das ist nicht wertend gemeint, aber auffällig ist es doch.
Muss mich Tanzfledermaus anschließen, ist auch nicht meine Welt. Allerdings finde ich es schön, dass die beiden sich anscheinend gesucht und gefunden haben und sich gut verstehen.
Realitätsflucht ist etwas ganz Wunderbares, sofern sie auf gesundem Boden gelebt wird, und das ist bei den beiden Süßen doch der Fall. Sie haben aktuell die Gelegenheit und die Power, leidenschaftlich anders zu sein. Ein Erlebnis, das sie ganz sicher durch ihr ganzes Leben tragen wird. Ich bin dankbar für jeden Charakter, der nicht mit der Herde rennt und die Welt auf „Was die Nachbarn sagen“ reduziert. Hoffentlich können die beiden noch lange so leben und sich ausprobieren. Ich gönne es ihnen von Herzen.
Und die Frage, ob man auch ohne wahnsinnig auffälliges Äußeres ein Gothic sein kann, ist vermutlich eher an die jüngere Generation gerichtet. Altgruftis hatten noch nie Elfenohren.
Gruftis sind von Natur aus anders als die Vertreter des Mainstream – mit und ohne Elfenohren, mit und ohne Tattoos und mit und ohne gespaltene Zunge. Ich kann berichten, dass ich auch ohne besonders auffälliges Äußeres und selbst dann, wenn ich wirklich versucht habe, nicht aufzufallen, immer sofort als Mitglied einer Subkultur „entlarvt“ wurde. Und ich hab nicht einmal ein Piercing ;-)
Da ist etwas Wahres dran…. „wird es immer schwieriger „anders“ zu sein“. Was haben meine Frau und ich nach einem Umzug…. vom Dorf ins Dorf, Gedanken gemacht…. gut, eigentlich mehr meine bessere Hälfte…. über Vermieter, neue Nachbarn etc…. aber du kannst keinen mehr shocken…. Zitat „Ich sehe ja, ihr hört eher Rockmusik. Musik hören ist hier im Haus kein Problem.“ Das eine ist ja das auf dem Lande…. zumindest wars damals mal so, eh jeder jeden um 3 Ecken kennt…. oder zumindest Vater, Mutter, Oma, Schwester von…. Das andere ist, dass es wirklich liberaler geworden ist in „bestimmten Kreisen“. (Doch ein Erfolg von 68 und Co.) Man kommt ja nicht vom Mond, und wenn man sozial nicht vollkommen unbegabt ist, kriegt man ja jeden irgendwie positiv zu fassen, (fast) egal wie man rumläuft. Ich denke momentan haben Gemeinschaften andere Sorgen, als Menschen nach dem Styling in Schubladen auszusortieren. Da sind andere Dinge im Umgang wichtiger negativ zu bemängeln oder positiv wertzuschätzen. Meine Meinung kurz und bündig: Aufbrezln erhöhen und nett dabei sein, ist besser als aufbrezln im selben Maße zu senken wie das Niveau der Kinderstube. Zur Flucht aus der Welt kann ich nur erwähnen, dass jedes Steigen auf einen Hochsitz, jedes Sitzen im Angelstuhl, jede Fahrt mit dem Motorrad etc, eine Art Realitätsflucht ist. Jeder flüchte soweit er/sie kann, solange es gesund bleibt und er/sie danach wieder aufzufinden ist.
Ich schließe mich Tanzfledermaus ebenfalls an und wie auch Orphi Eulenforst werde ich permanent als „Anders“ wahrgenommen – egal wie sehr ich mich „bemühe“ normal zu erscheinen.
Mittlerweile versuche ich das auch nicht mehr soweit es mein Beruf nicht betrifft.
… andererseits habe ich auch keine Piercings, (kommt vielleicht irgendwann Mal) keine Tätowierungen, (kommt noch) auch keine gespaltene Zunge (stell ich mir unpraktisch vor) oder Fangzähne.
Ich wirke wohl auch ohne das alles schon anders genug, vielleicht die schwarze Aura …
„Ohne ausrasierte Haare, Tattoos, Piercings, gespaltener Zungen und Elfenohren ein Gothic sein?
Ist das überhaupt noch möglich?“
Ganz klar, und das ist sehr einfach – denn es geht nicht um das optische Auftreten eines Menschen das darum entscheidet was er ist, sondern wie er handelt, was er denkt, wie er die Welt sieht …
Bloß weil ich jemanden in schwarze Pikes, viktorianischer Hose, Gehrock und Dreispitz stecke, ihm noch nen Gehtstock in die Hand drücke und vielleicht noch 15 Ringe mit Totenköpfen an die Finge stecke ist er deswegen kein Grufti, egal wie er sich anzieht oder stylt.
Es hätte mich auch sehr gewundert, wenn die schwarze Szene das Vorrecht für Nietenhalsbändern und Co. behalten hätte.
Liebe Grüße
Lellistera