Die Pandemie, die weltweit für mehr als 4,5 Millionen Todesfälle verantwortlich ist, zwingt die Menschen seit fast 2 Jahren sich intensiver mit dem Tod und der menschlichen Sterblichkeit auseinanderzusetzen. Die Professoren Nick Groom und William Hughes kommen zu dem Schluss, dass daraus eine neue Nähe zur Gothic-Ästhetik resultiert, mit der die Menschen die unfreiwillige Isolation und die zwanghafte Auseinandersetzung mit dem Tod kompensieren: „Viele Merkmale des Narrativs Gothic wie Spuk, Monstrosität und die Untoten, lassen sich leicht als soziale und politische Metaphern lesen. Das Herauskommen aus der Pandemie kann mit einem Wiederauferstehen verglichen werden, bei der man nach seiner Gefangenschaft im Grab wieder zum Leben erweckt wird.“ (Quelle) Ein Artikel im englischen Guardian aus dem Bereich „Fashion“ liest die Auswirkungen dieser Studie in der Mode der Prominenten. Stellen wir uns also die berechtigte Frage: Völliger Unsinn oder totaler Unfug?
CoronaGothic – Letztendlich doch nur ein Modetrend
In der Tat liegt Gothic-Fashion voll im Trend. Zahlreiche Stars und Sternchen verleihen ihrem Image die gewisse Spur „Edgyness“, in dem sie sich in guter alter Patchwork-Manier an den Stilen der Subkultur bedienen und Designermarken graben schamlos in den Looks der Straße und versorgen die großen Geldbeutel ihrer Kundschaft. Emma Stone wirkt in der Rolle von Cruella wie frisch aus der Gothic-Umkleide und seit Kat von D den Chulu-Goth Leafar Seyer geheiratet hat, gibts von ihr sowieso nur noch Goth-Style. Prof. Catherine Spooner, die Texte wie „Romance and the Rise of Happy Gothic“ oder das Buch „Contemporary Gothic“ verfasst hat, kommt zu der Erkenntnis: „Mit dem Gothic-Style zu flirten ist die perfekte Möglichkeit für Prominente, ihrer Identität ein wenig Würze zu verleihen.“ Ich behaupte, keine der Prominenten hat mit Gothic etwas am Hut.
In dem Dossier, von Groom und Hughes „CoronaGothic, Culture, and Crisis“, das die Autoren des Guardian als Quelle heranziehen, gehen die beiden Professoren sogar noch weiter und machen Corona dafür verantwortlich, dass Mythologie und Aberglaube wieder auf dem Vormarsch seien. Das klingt ein bisschen weniger absurd wie ihre Eingangsthese, denn der Mensch neigt Angst durch Unwissenheit und Unberechenbarkeit oft mit den verrücktesten Ansichten zu beruhigen.
Spooner, die Gothic-Expertin aus Newcastle, sieht in der aktuellen Belebung gruftiger Ästhetik auch eine Gegenbewegung zum „Cottagecore„, der „Zurück-aufs-Land-Ästhetik“, der ebenfalls viele Prominente anheimfallen. „In der Gothic-Fiktion und im Film ist das Land selten ein Ort der Ruhe und Entspannung – hier passieren ahnungslosen Städtern dunkle Dinge. Dass bedingt die Tatsache, dass sich einige der politischsten Probleme westlicher Länder auf dem Land abspielen, vom Klimawandel bis hin zum ländlichen Konservatismus.“
CoronaGothic – Alles nur ein Hirngespingst?
An jeder noch so absurden Geschichte ist meist ein Fünkchen Wahrheit. Keine Frage, Gothic ist (mal wieder) eine Modetrend, der Goth-Style in zahlreichen Genrefremden Bereichen omnipräsent und auch so mancher Promi umhüllt sich mit einer Portion Spookiness, um seinem Image einen neuen Geschmack zu geben. Das war bereits vor Corona so und ist seit den 80er-Jahren ein wiederkehrender Prozess. Dabei müssen wir aber eine klare Grenze zwischen Gothic-Style und der Subkultur ziehen, denn obwohl das erst seine ästhetische Quelle in unserer Subkultur hat, verbindet sie inhaltlich nur wenig damit.
Allerdings sind Dinge, die Gothic inhaltlich ausmachen, wie etwa Sehnsucht, Melancholie oder auch Traurigkeit in der Pandemie weit verbreitet. Das macht allein keinen Gothic aus, doch sie sind Wind in den Flügeln der Überzeugung, das Schwarz die richtige Farbe ist um auszudrücken, dass wir wieder einmal vor einem Abgrund stehen. Corona und Klimawandel schleudern Gruftis der 80er-Jahre wieder in das Gefühl, dass manche schon damals hatten, als es dank Umweltzerstörung und atomarer Aufrüstung zur subkultureller Verbitterung kam.
Ich bin mir sicher, der Gothic-Style verschwindet wieder von den Laufstegen und Bühnen, wenn der Mensch nach 2 Jahren Isolation wieder unbeschwert das Leben feiern. Vielleicht stehen wir vor einer neuen Explosion der Farben? Schließlich wartet doch jeder darauf, zu vergessen und zu verdrängen.
Wie seht ihr das? Welchen Einfluss hatte die Pandemie auf die Inhalte unserer Subkultur? Hat Corona wirklich für einen neuen Ansturm auf gruftige Ästhetik gesorgt, weil der Mensch gezwungen wird, sich mit dem Tod zu beschäftigen?
Ich finde man könnte vielleicht davon sprechen, dass die Pandemie auf unsere Subkultur in sofern Einfluss nimmt, als dass sie uns wieder vermehrt mit der düsteren, aussichtslos wirkenden Stimmung konfrontiert, die schon Jahrhunderte vor der Erfindung des Punks mit dem Begriff Gothic versehen wurde. Oder einfacher gesagt: Die Pandemie vermag hier und da wohlmöglich die Aufmerksamkeit von einer inzwischen mehrheitlich partyorientierten „Gruftieschaft“ (mal stark überspitzt ausgedrückt) zurück auf den eigentlichen Kern unserer Subkultur zurück zu lenken, der sich dann wiederum in entsprechender Musik, Denkweise oder bevorzugtem Kleidungsstil widerspiegeln kann. Zumindest potenziell. Ob wirklich mehr daraus wird, das wird sich zeigen. Oder eben auch nicht, wenn die Pandemie für beendet erklärt werden kann und alles wieder in seinen gewohnten Bahnen läuft. Ich bleibe zumindest gespannt.
In sofern finde aber ich die Verwendung eines Begriffes wie Gothic-Ästhetik im Bezug auf eine gesellschaftliche Stimmung gar nicht so abwegig. Stets vorausgesetzt diese Stimmung ist in der Gesamtgesellschaft wirklich so präsent wie es der Artikel suggeriert. Hierbei (so lese ich das jedenfalls aus dem Kontext) geht es dann eben auch nicht um unsere Subkultur, sondern eben wirklich nur um die zuvor genannte Stimmung und dem daraus resultierenden Verhalten der Menschen aus dem bunten Mainstream.
Das sich dabei von der Modeindustrie schamlos an unserer Subkultur bedient wird um in dieser gesellschaftlichen Stimmung einen kommerziell ausschlachtbaren Trend an den Menschen des Mainstreams zu bringen ist dabei natürlich ein alter Hut, der mir selbst auch immer wieder sauer aufstößt. Ich gebe dir jedoch in sofern damit recht, dass wohl bereits jetzt damit gerechnet werden darf, dass dieser „Gothic-Style“ oder wie man das auch immer nennen mag am Ende der Pandemie genauso schnell verschwunden sein wird, wie er gekommen ist.
Ich finde die Pandemie hat auch gezeigt, wie groß der Selbstdarstellungstrieb innerhalb der Szene ist und wie wichtig „sehen und gesehen werden“ ist. Ohne diese Faktor hat die Szene 2020/2021 viel an Relevanz verloren, weil einfach auch inhaltliche Dinge aus der Szene – wie die Beschäftigung mit dem Tod – überhaupt nicht sichtbar gewesen sind und irgendwo nicht stattgefunden haben. Für mich steht allerdings fest, dass die Szene – jedenfalls so wie ich sie verstehe – neue Bedeutung gewonnen hat, wenn sie denn noch die Abkehr vom gesellschaftlichen Trieb symbolisiert – so wie früher.
Das es gerade besonders trend ist sich im Gothic Stil zu kleiden ist mir im Straßenbild nicht aufgefallen. Also nicht mehr oder weniger als in den Jahren zuvor. Gothicelemente in der Mainstream Mode oder auf Laufstegen, gab‘s immer wieder und wird’s immer wieder geben. Genauso wie auch die Ästhetik von anderen Subkulturen für Trends und edgyness (aus-)genutzt wird. Regt mich ehrlich gesagt gar nicht mehr auf, solange es sich in Grenzen hält. Wird sich als Alltags-Mode für Lieschen Müller und Bernd Bürger eh nicht etablieren. Ich würde da nicht so viel Bedeutung reininterpretieren, als eine Reaktion auf die Pandemie bzw. andere Modetrends, wie in dem Guardianartikel dargestellt. Auch wenn es durchaus stimmt das Mode ein Spiegel von gesellschaftlichem Wandel und Problemen sein kann.
@Graphiel, das sich die „Partygoths“ zurück zu ihren Wurzeln besinnen, denke ich auch nicht, selbst wenn ich das begrüßen würde. Wie es so oft ist, sobald sich alles beruhigt und normalisiert hat, wird auch alles nahezu unverändert weitergehen. Die Lust aufs Feiern könnte sogar eher größer werden.
Ob die schwarze Szene durch die Pandemie mehr Inhalt und Tiefe bekommt, kann man wahrscheinlich nicht generell sagen. Es wird sicherlich einige geben, die vielleicht auch in Zukunft den Tanzflächen seltener oder gar nicht mehr einen Besuch abstatten und ihr dunkles Dasein weiter mehr im privaten ausleben. Statt auszugehen, mehr auf Introspektive setzen, ihren Gedanken nachhängen, lesen, sich weiterbilden etc. Aber davon wird man nicht so viel mitbekommen, weil sie ja dadurch auch innerhalb der Szene weniger sichtbar werden.
Die Frage ist, ob diese „Tiefe“ überhaupt stattfindet. Ich habe beobachtet, dass viele in ein völlig normales Leben aus Vergnügen, Konsum und Social-Media-Empörung verfallen. Mittlerweile bin ich also dahingehend ein bisschen „pessimistisch“ geworden, wenn es die „Tiefe“ und die „Inhalte“ der Szene geht.
Diese Beobachtung teile ich nicht. Gerade die bedrückende Stimmung, die seit Monaten herrscht (selbst wenn inzwischen wieder mehr möglich ist) in Verbindung mit dem merklich fortschreitenden Klimawandel bietet doch genug Potential für melancholische Seelen… Ich versuche das mit entsprechender Musik und viel Aufenthalt dort, wo möglichst wenig Menschen sind, zu kompensieren.
Potenzial, ja, aber neben ein paar Ausnahmen kenne ich viele, die in der Szene, in Foren, Blogs oder Internetseiten gar nicht mehr zu sehen sind oder sich offensichtlich mit völlig anderen Dingen beschäftigen, als „bedrückender“ Stimmung. Ich meine, es ist auch ein bisschen logisch, denn zu normalen Zeiten, die weniger bedrückend sind, braucht man ein Art traurige Flucht aus der fröhlichen und unbeschwerten Realität. Wenn es aber genau andersherum ist, nämlich die Realität traurig erscheint, ist diese Flucht nicht mehr notwendig. Im Gegenteil, man strebt dann häufig nach alternativen Strömungen.
Das ist aber alles nur eine Vermutung :)
Das ähnelt meiner Vermutung. Die melancholischen Seelen, die ihren Weltschmerz mit Rückzug, trauriger Musik auf den Kopfhörern und Aufenthalten in der Natur und Gedichte schreiben, fotografieren etc. ausleben, sind einfach nicht sichtbar.
Wer allerdings das „fröhliche Feiern“ auf schwarzen Parties vermisst hat, der wird das natürlich umsomehr ausleben. Und das Szenebild stärker prägen. Deshalb läuft das Potenzial für Tiefe und Inhalt vielleicht erstmal ins Leere. Zumindest bis diejenigen die sich zurückgezogen haben, mit ihren kreativen oder sonstigen Ideen,denen sie evtl. in aller Stille nachgegangen sind, zurückmelden.
Im Großen und Ganzen lässt mein düsteres Weltbild aber eher den Schluss zu, dass es einen Trend zu oberfächlichen und schnelllebigen Freuden geben wird. In der Szene und in der Allgemeinheit. Denn Szene und Mainstream sind gar nicht so weit von einander entfernt.
Das die Pandemie aufgerüttelt hat, auch den letzten Hinterbänklern verständlich gemacht hat, wie viel Ungerechtigkeit und Ungleichheit auf allen Ebenen herrscht (dazu zähle ich auch den Klimawandel durch menschliche Ausbeutung der natürlichen Ressourcen) bleibt wohl Utopie. Hauptsache der Alk haut rein und das neue Smartphone macht tolle Selfies.
Mich würde interessieren welche alternativen Strömungen du vermutest, Robert? Glaubst du Leute aus der schwarzen Szene wechseln zu anderen Szenen mit mehr „Spaßfaktor“?! Oder eher Strömungen innerhalb der Szene?
Wobei ich diese Einstellung dann doch schon auch ein wenig arg albern fände. „Wenn jetzt ganz viele eine bedrückende Stimmung verspüren, dann muss ich jetzt aber nach Alternativem suchen. Weil sonst funktioniert meine Flucht nicht mehr. Ich flüchte mich dann wieder in Zeiten des allgemeinen Frohsinns in die Melancholie zurück.“ – oder wie muss man das dann deuten?
Bei allem Verständnis zur Abgrenzung, aber das fände ich dann schon auch ein wenig inkonsequent. Für mich sind solche Zeiten eher eine Gelegenheit zum „Seht ihr? Genau wegen all dem Elend der Gesellschaft, welcher jetzt in dieser Krisenzeit sogar für euch Buntlinge sichtbar wird hülle ich mich in schwarz und trage auf diesem Weg durchgehend meine innere Weltsicht nach außen.“ Ich finde da kann man auch als eigentlich abgrenzungsbedürftiger Szenemensch ruhig mal Kante zeigen und zur inneren Einstellung stehen. Zumal die Wahrscheinlichkeit in meinen Augen ohnehin recht hoch ist, dass am Ende dieser Krise eh wieder alles beim alten ist, die allgemeine Fröhlichkeit einher zieht und keiner mehr das Elend sehen will, dass unter dem Mäntelchen des „es funktioniert doch.“ klein geredet wird. Nur mal so meine Vermutung. ;)
Einige „alte“ Künstler haben ja die Pandemie genutzt, um wieder aus dem Nichts hervorzukommen, um mal wieder ein Album oder was auch immer zu machen. Da gab es sicher auch Anknüpfungspunkte, die ohne Corona nicht möglich gewesen wären. So geht es sicher auch der normalen Ottilie und dem normalen Otto, die/der jetzt mal Zeit hatte, sich an die „guten alten Zeiten“ zu erinnern. Ob da die/der eine oder andere wieder Freude an der Szene gewonnen hat, ist ne individuelle Sache, die man so genau nicht herausbekommen wird. Da kann man echt nur vermuten.
Die Leute, die die Szene nicht als Künstler gestalten, haben die Zeit genutzt, um neue Sachen zu entdecken bzw. sich zu freuen oder auch nicht, dass Künstler XY aus damaligen Zeiten noch da ist und wieder was produziert wurde. Da spielt der individuelle, persönliche Geschmack und die persönliche Einstellung eine Rolle. Ergo: wieder Vermutungen.
Weitere Vermutungen was den Nachwuchs der Szene angeht, sehen sicher ähnlich aus. Ich finde, dass wenn jüngere Leute sich für die Szene interessieren, sollte man sich mit ihnen darüber unterhalten. Sowohl den Ernst, den Spaß und bei Interesse die Geschichte der Szene vermitteln.
Einfach mal ne halbe Stunde jemanden zuhören und sich ne halbe Stunde zuhören lassen, dann entsteht Interaktion und lässt die Szene leben – natürlich meine ich das für alt und jung in allen Konstellationen gleichermaßen. Ich freue mich immer, mit Leuten zu quatschen, die ich noch nie gesprochen habe. Jedenfalls sollte man jüngere Menschen mit einbeziehen und sie nicht als „ahnungloses Etwas“ stehen lassen, das wurde schon so oft falsch gemacht.
Eine Welle, dass jetzt die Szene wieder mehr wahrgenommen wird, kann ich jedenfalls nicht großartig spüren. Wenn die Mode das Thema mal wieder aufgreift, wird es demnächst wieder vorbei sein und irgendwann wieder entdeckt. Das Einzige was ich jetzt aktuell erlebe, ist, dass ein Freund wieder seine DJ-Tätigkeit aufgenommen hat und dadurch wieder Leute zusammenkommen und andere angesteckt werden, mal wieder in schwarzen Klamotten auszugehen. Da spielt auch die Beschäftgung mit dem Tod keine große Rolle, sondern mehr zwischenmenschliche Interaktion – tanzen, quatschen, was miteinenader trinken. Aber das passiert im kleinen Umfeld und vielleicht wächst da wieder was schön langsam. Das ist eh der nachhaltigste Weg. Wir sind dabei und werden es erleben.