Es ist ein kalter und bedeckter Mittwochmorgen auf dem Stahnsdorfer Friedhof. Als ich die weiße Türe am Eingang hinter mir schließe, blinzelt die Sonne durch eine Wolkenlücke. Eine ältere Frau, die auf einer Leiter stehend die Auslage eines kleinen Gärtnerladens drapiert, lächelt mich freundlich an, während ihr kleiner Hund argwöhnisch um die Ecke der Ladentür blickt. Ich gehe vorbei an der imposanten Kapelle des Friedhofs und an eindrucksvollen Grabmälern. Die Wege werden schmaler, die Bäume dichter. Blätter rieseln tänzelnd auf den Boden. Meine Schritte sind fast lautlos auf den von Laub bedeckten Wegen. In der Ferne rauscht die Berliner Stadtautobahn.
Der Friedhofsplan, der mich zu Feld 15a führen soll, verliert auf den kaum erkennbaren Pfaden seine Wirkung. Rutschige Wurzeln sind schlecht zu sehen, einige Pfade enden einfach im Unterholz. Die meisten meiner Schritte erfordern konzentrierte Blicke auf den Boden, die Markierungen der Felder sind verblasst und kaum zu erkennen. Winzige Grabsteine markieren die letzten „Ruhestätten unter Bäumen“. Sie stehen verstreut im Dickicht des Unterholzes, viele sind mit fortgeschrittenem Herbst kaum noch zu erkennen. Als ich einen Grabstein mit frischer Erde, ein paar Blumen und einem Grablicht entdecke, habe ich mein Ziel erreicht.
Ratte hat die Fliege gemacht – Für immer
Hier liegt Carla Fliegner alias „Ratte“, die auch als Schockfriseuse bekannt war, manchmal auch Dead Child oder Lady McBeth genannt wurde. Sie hatte viele Namen. 1985 wurde sie mit einer Foto-Lovestory in der Bravo der Star einer jungen Gothic-Szene, heute bleibt von ihr nur ein winziges Grab, neben dem eine einsame Kerze flackert. Carla starb am 21. August 2021 an den Folgen einer Krebserkrankung. Sie wurde nur 52 Jahre alt.
Gerne hätte ich Carla noch zu Lebzeiten besucht. Durch einen glücklichen Zufall konnte ich bereits vor ein paar Jahren einen Kontakt knüpfen und mich in einigen Nachrichten mit ihr austauschen. Carla, die inzwischen in Berlin lebte, bat mich, zunächst nichts von ihr in die Öffentlichkeit zu tragen, sie war sich unsicher, ob sie für einen erneuten Schritt ins Rampenlicht bereit war. Leider blieb es bei ein paar Nachrichten, irgendwann bekam ich keine Antworten mehr auf meine Mails.
Im September 2021 meldete sich ihr Lebensgefährte Marcel bei mir, um mir von ihrem Tod zu erzählen. Es war schon merkwürdig, wie sehr mich der Tod eines Menschen, den ich nicht mal kannte, traf. Ich fuhr für ein paar Tage nach Berlin, um mich mit ihm und einigen anderen Weggefährten zu unterhalten und einen Nachlass zu sichten, der mit vielen Fotos, ausgeschnittenen Zeitungsartikeln, Leserbriefen und Konzertkarten ein Gothic-Leben nachzeichnet, das so glänzend begann und so tragisch endete. In weiteren Artikeln möchte ich von Carlas Szene-Leben erzählen, von ihrer Bedeutung für die Szene, von meiner Suche nach ihr. Und ich möchte Menschen aus ihrem Leben erzählen lassen.
35 Jahre lang hat Carla alles aufbewahrt, was „Ratte“ ausmachte. Zusammen mit Marcel möchte ich ein kleines digitales Museum einrichten, in dem wir Bilder aus ihrem Leben zeigen, Zeitungsartikel ausstellen und Leserbriefe abdrucken, die sie nach ihrem Auftritt in der Bravo und in einigen anderen Zeitschriften zugeschickt bekam. Ziel ist es, für die vielen Gruftis, für die Carla ein wichtiger Einstiegspunkt der eigenen Szene-Zugehörigkeit war, eine Erinnerung sichtbar zu machen. Vielleicht finden sich einige von euch in Carlas Geschichten oder auch in den Leserbriefen wieder. Vielleicht wollt ihr von eurer Erinnerung an den wohl berühmtesten Grufti Münchens erzählen.
Was bleibt, ist der herbstlich Hofstaat der Vergänglichkeit
Heute ist der 1. November, der Tag der Toten. Marcel und ich sind uns nach langen Gesprächen einig, dass Carla es gemocht hätte, an so einem Tag von ihrem Tod zu erzählen.
Ich knie auf dem feuchten Waldboden und räume heruntergefallene Blätter beiseite, stelle frische Grablichter neben den Grabstein und entzünde die Dochte. Ich habe meinen Schnellhefter mitgebracht, in dem ich die alten Artikel aus der Bravo aufbewahre, in dem ich ein wenig blättere. „Die Grufti-Königin von München“ nennt sie die Bravo. Ich muss lächeln. Mitte der 80er-Jahre wurde sie mit der Geschichte „Ratte macht die Fliege“ zum bekanntesten deutschen Grufti und ihre Geschichte, nach London zu ziehen, um dort in einem schwarz gestrichenen Zimmer zu wohnen, faszinierte hunderte Jugendliche.
Was von der Königin bleibt, ist Stille. Ein leichter Wind kommt auf und die Wipfel der Bäumen wiegen sich knarzend im Luftzug. Wenige Augenblicke später regnet es Blätter, die die frische Erde rund um den kleinen Grabstein beinahe zärtlich zudecken. Es wirkt wie ein Hofstaat der Vergänglichkeit, der ihrer Majestät eine letzte, herbstliche Ehre erweist. Ich stehe auf, verneige mich, wie es sich vor einer Königin gehört und verlasse das Grab.
Auch ich verneige mich vor der „Königin“ die ich aus Orphis Vlog kennenlernte und finde die Idee- sie weiter zu begleiten- und auch deinen Schreibstil Robert, sehr gelungen. Vielen Dank dafür!
R.I.P. Carla – meine erste Stilikone. Hier in München hat sie jeder gekannt, schon vor der Bravo. Sie war damals schon recht unnahbar, aber das gehörte wohl auch zum Image. Only the good die young – möge sie ihren Frieden finden. 🖤
Ich schließe mich den Verneigungen einfach mal an. Ratte habe ich zwar auch nur noch durch Orphis Vlog kennen gelernt, doch will ich ihren Einfluss auf die deutschsprachige Szene deshalb nicht klein reden. Ich denke sogar ein klein wenig Ratte findet sich auch bis in die heutige Zeit in dem ein oder anderen Grufti. Vielen dank dafür.
Ruhe in Frieden Carla
Ps.: Krebs ist und bleibt ein Ars..l.ch
Danke an Alle, die Carla/Ratte gedenken und besonders an Robert für den schönen Artikel und für die viele Arbeit, die dahinter steckt.
– Marcel
Hab noch ein Foto aus der Bravo von damals gefunden, Ratte und ich im Klo vom Limit. Rip Ratte
Ich hätte sie gerne näher kennen gelernt.
R.I.P. liebe Carla
Oh krass, ich hab sie mal in Berlin kennengelernt. Mit einer Freundin vor vielen Jahren hab ich sie in so einem Eso-Laden getroffen, dort hatte sie ein bisschen gearbeitet und dann hat man sich ab und zu auf Party getroffen und gut gequatscht. Das ist ja echt traurig.
Seltsames Gefühl wenn immer mehr Menschen in deiner Telefonkontaktliste nicht mehr leben.
Den „Ratte / Königin“ Habitus hatte sie aber nicht, fand sie eigentlich auch unangehm. War halt Carla.
Ruhe in Frieden
Ja, die Sache mit der „Ratte“…dazu kann ich tatsächlich auch noch einen Beitrag leisten…ich hatte viele Jahre mit Carla zusammen gearbeitet, im Edelstein–Geschäft in Berlin, manche nennen es Eso–Laden, als sie eines Tages ganz aufgeregt ins Geschäft zur Arbeit kam und mir erklärte, vor ihrer Wohnungstür, im letzten Stock wohlbemerkt, hätte ganz ängstlich eine Ratte gesessen. Als ich ganz entsetzt sagte „oh Gott das ist ja gefährlich“, sagte Carla, „ich habe versucht ihr zu helfen und musste dabei weinen, ich bin doch auch Ratte!“ Also für Carla war „Ratte“ nie Vergangenheit auch wenn es viele Jahre her ist als ihr der Name zugetragen wurde.
Endlich in absoluter Ruhe liebe Carla!
Verdammt,ich hab mich neulich schon gefragt ob ich sie demnächst mal wieder auf einer Slaughterhouse Party sehe. Ich musst gerade echt schlucken. Wir „kannten“uns nur flüchtig von Partys,haben aber immer kurz miteinander gesprochen. Jetzt machst du wohl die dunkle Seite unsicher.
Ich kannte sie auch nur durch die Bravo-Artikel und Fotostories, und wie viele andere hat mich ihr Aussehen auch mit inspiriert, gewissermaßen.
Wenn ichs noch recht weiß war sie auch in irgendeiner Talkshow zu Gast, und auf die Frage, wieso sie sich so herrichten würde, kam ein Satz den ich, zumindest sinngemäß, nie vergessen habe – daß sie sich fürs Mittelalter und andere vergangene Epochen interessieren würde, und das ihre Kleidung und ihr Style für sie eine Verbindung dazu sei, der das ausdrücken würde und sie dem näher brächte, auf ihre eigene Weise eben.
Das war eine Sichtweise die ich selbst irgendwie gut nachvollziehen konnte und deswegen sympathisch war.
Das Video war mal auf Youtube, ich konnte es nur gerade leider nicht mehr finden, wahrscheinlich ist es inzwischen schon weg. Ich hätte es gerne nochmal gesehen.
Ich gehe mal schwer davon aus, das dieses Video gemeint ist?
https://youtu.be/-_QuqhSZtVM
Ja, ich denke das war das – hatte es etwas anders im Kopf abgespeichert und ich meine, es war die gesamte Doku mal hochgeladen …
Lieben Dank fürs ausgraben :) – ich habs partout nicht mehr gefunden …
Schöne Retrospektive. Auch wenn ich hier mit einem Off-Topic einsteige, Goth möge es mir verzeihen, aber die Frage: „Nimmst du dass in Kauf?“, dass sie keine Lehrstelle auf Grund ihres Aussehens bekommt, ist völlig falsch. Hier ist eher die Frage: „Was nimmt die Gesellschaft in Kauf“, dass sie keine Lehrstelle auf Grund ihres Aussehens bekommt, angebracht. Was das angeht, hat sich seitdem nicht viel getan, sowohl jounalistisch (abgesehen von Szene-Magazinen) als auch gesamtgesellschaftlich.
Ich kannte sie jedenfalls nicht, bin aber über die hier entdeckten medialen Quellen sehr angetan. Somit – Farewell Carla.
Ja, die Gesellschaft hat sich da deutlich weiter entwickelt. Allerdings wurde auch oftmals nur die Messlatte höher gelegt, was das Aussehen angeht und letztendlich ist auch die Anzahl der Auszubildenden immer weiter zurückgegangen. Heute können doch die meisten handwerklich orientierten Betriebe froh sein, überhaupt noch Auszubildende zu finden :)
Das ist wohl war. Damals war das Aussehen noch ein Druckmittel. Mir hat man immer erzählt, dass man als Bankkaufmann immer schön angepasst rumlaufen soll. Dabei wollte ich gar kein Bankkaufmann werden.
Was das Friseurhandwerk jedoch angeht, sollte man sich sehr gern von einer gestylten Gothic-Lady frisieren lassen, denn sie weiß ja offenkundig was möglich ist und vor allem wie es geht. Egal welche Frisur man für sich selbst bevorzugt. Da hat man damals nicht gut nachgedacht.
Ein wirklich sehr bewegender und gelungener Artikel, der hier verfasst wurde. Man bekommt das Gefühl, bei dem Besuch des Grab von Carla dabei zu sein.
Meine Lebensgefährtin hatte damals 1985 die Foto-Lovestory in der Bravo gelesen und war damals selber sehr fasziniert von ihr. Heute erzählt sie mir davon und zeigte mir auch gleich den Beitrag.
Die Idee eines Digitalen-Museum finde auch ich persönlich eine sehr schöne Idee. Nicht nur eine tolle Erinnerung, sondern auch für zukünftig Interessierte einen besonderen Einblick in die Vergangenheit gibt.
Ruhe in Frieden Carla.
Ein wirklich sehr bewegender und gelungener Artikel, der hier verfasst wurde. Man bekommt das Gefühl, bei dem Besuch des Grab von Carla dabei zu sein.
Das möchte ich auch mal ganz fett unterstreichen!
Ruhe in Frieden, liebe Carla ♡
Mit Beginn der 80er-Jahre fing es bei mir an, daß ich total fasziniert war von der Welt der damaligen Wave/-Gothicszene. Ich sammelte damals jeden Bericht und natürlich auch die FotoLoveStory, unter anderem auch wegen Carla.
Ich fand sie damals ( bis heute) stets so herausragend interessant und war total fasziniert, speziell von ihr, ihren individuellen Outfits aber auch von den anderen Mitwirkenden der jeweiligen Stories….
Obwohl ich in München aufwuchs und in die damalige Wave/Gothicszene kam, hatte ich leider nie die Möglichkeit Carla persönlich kennen zu lernen.
Sie war und blieb für mich leider stets „unerreichbar“ , vielleicht auf eine Art auch „unnahbar“…~
Dennoch bleibt sie für mich in ewiger , guter Erinnerung und eine absolute „Ikone“ dieser Zeit und Szene!
Alles Liebe, Carla *♡♡♡
Legendär war und bleibt für mich auch dieses Video, welches damals mit ihr an der U-Bahn – Station “ Münchner Freiheit“ gedreht wurde. *♡☆* ~ :)
https://youtu.be/8owYb7b7mVo
Ich verneige mich vor der Königin der Gruft. Möge sie in Frieden ruhen.
Hallo Leute.
Ich habe 1986 in München gearbeitet im Bayrischen Hof als Koch. Und habe sie in der Diskothek Rock in, Leopoldstraße, glaube ich kennengelernt. Immer mit ihrer Ratte auf der Schulter unterwegs. Wie hieß die Diskothek nochmal, die Treppe runter? LG aus Köln.
’86 müsste so die Zeit gewesen sein, wo sie in Clubs wie dem „Limit“ ,“Clip“, „Pop-Club“ und „Yellow Submarine“ unterwegs war, vielleicht war es einer dieser Clubs? LG
Die hieß Limit
🖤
Wie vielen Erinnerungen mich mit Carla verbinden würde hier sicherlich den Rahmen sprengen. Ich erinnere mich an meine erste Begegnung mit ihr Ende der 80 iger in einer Discothek namens Melodrom in Bayern. Ich selbst bin damals jedes Wochenende mit meinn „schwarzen Seelen Verbundenen“ aus Ulm dort hin gefahren. Ich hab Carla keineswegs als unnahbar kennengelernt, ganz im Gegenteil, wir haben uns äußerlich und in unserer Denkweise sehr wieder gefunden.
Unsere Wege kreuzten sich dann wieder, mitte der 90iger in München, wieder in einer gesellschaftlich nicht besonders angesehenen Szene. Ich erinnere mich noch sehr gut dass wir bei unserem ersten Wiedersehen fast 3,Stunden am Ostbahnhof saßen und uns verstanden als ob die Jahre ohne Kontakt nicht existiert hätten. Wir trafen uns immer mal wieder, bis ich 1999 nach Berlin gezogen bin.
Heute zu erfahren das Carla diese Welt verlassen musste macht mich unendlich traurig denn ich habe das Glück meine chronische Erkrankung im Griff zu haben.
Carla kennengelernt zu haben war ein absolutes Geschenk für mich… Ich wünsche ihr, den Frieden gefunden zu haben, den Sie sich so sehr wünschte…
🦇🕸🖤R.I.P. YOU BEAUTIFUL SOU🖤🕸🦇
Ich würde mich freuen, wenn das den Rahmen sprengt. Ich bin dabei eine Seite der Erinnerungen einzurichten und wenn du magst, kannst du ausführliche Erinnerungen in Form von Texten und Bildern mit uns teilen. Nutze dafür einfach ganz unverbindlich meine E-Mail „robert@spontis.de“ wenn du Lust hast.
Ihre letzten Jahre hat sie leider sehr zurückgezogen verbracht, sonst wärt Ihr Euch vermutlich auch mal in Berlin über den Weg gelaufen.
Vielen Dank für Deinen Kommentar!
Ich bin gerade etwas geschockt. Gerade habe ich mir von The Cure das Lied Cold angehört und ich hatte damals Ratte eine Mix Kassette gemacht auf der das Lied drauf war. Ich dachte mir „Da muss ich doch mal googlen was die jetzt so macht“ und dann das. Ich habe Ratte mitte der 80er kennen gelernt und eine zeitlang viel mit ihr, Max, Fisch, Tobi und ein paar anderen unternommen. Hauptsächlich das Limit und der Pop Club waren unser „Revier“ damals. Irgendwie haben wir uns Ende der 80er aus den Augen verloren.
Ich kann mal etwas in meinen alten Kisten kramen. Vielleicht finde ich noch ein paar Fotos.
P.S.:
Das mit der Bravo hat sie selbst nicht so ernst genommen, obwohl sie etwas stolz darauf war. Ich werde auf jeden Fall nie zwei Sätze aus dieser Lovestory vergessen.
Waver: „Ich find dich echt prall“
Waverin: „Ja, ich mag dich auch“
Wir haben uns königlich darüber amüsiert.
P.P.S.:
Ich habe hier mal meinen Spitznamen von damals verwendet. Merkwürdiges Gefühl, denn so hat mich seit einigen Jahrzehnten keiner mehr genannt.
Unter den Friedhofsbilder-Galerien kann man leider keinen Kommentar schreiben, daher stell ich ihn mal hier ein, zum besagten Friedhof Stahnsdorf südwestlich von Berlin, wo auch „Ratte“ begraben liegt.
Die rbb-Artikel sind leider immer nach einiger Zeit wieder offline, aber für diejenigen, die es interessiert, hier trotzdem mal ein interessanter Artikel zu diesem Friedhof:
https://www.rbb24.de/panorama/beitrag/2023/12/interview-friedhofsverwalter-olaf-ihlefeldt-suedwestkirchhof-stahnsdorf.html