Für das Pfingstgeflüster zum Wave-Gotik-Treffen 2011 wurde mir eine besondere Ehre zuteil. Ich sollte einen Artikel mit dem Rückblick auf 20 Jahre WGT schreiben, aus Sicht der Presse. Diese nicht allzu leichte Aufgabe stellte mich vor einen Haufen Recherche-Arbeit, die mir dank des Archivs der Jugendkulturen und der akribischen Vorbereitung des Herausgebers des Pfingstgeflüsters, Marcus Rietzsch, erleichtert wurde. Die Auswahl der Zitate war damit aber noch nicht getroffen, es war eindrucksvoll, wie man ein und das selbe Ereignis für sich vereinnahmte und das herauspickte, was der Leser vermeintlich lesen wollte.
Zu Start eines neuen WGT Jahres, das vom 25.5. bis zum 28.5.2012 seinen Höhepunkt feiert, möchte ich euch den Artikel in voller Länge präsentieren 1. Zum schmökern, lesen und staunen. Als Appetithappen für die Zweifler, als Bestätigung für die Entschlossenen und als Balsam für die Süchtigen.
Ich möchte euch auch das Pfingstgeflüster selbst, dass ich bereits in diesem und diesem Artikel ausführlich beschrieben habe, ans Herz legen. Als angenehmen und gelungenen Rückblick auf ein Jubiläum und als Aussicht auf das Kommende ziert es jede Sammlung. Das 92-seitige Meisterwerk erhaltet ihr zum Preis von 8,90€ im Shop der Pfingsgeflüster-Seite. Ich würde mich über zahlreiche Kommentare zum Thema freuen, denn letztendlich ist es Interpretaionssache, wie man die Zitate deutet.
20 Jahre Wave-Gotik-Treffen
Zum 20. Mal seit 1992 versammelte sich nicht nur die schwarze Szene in Leipzig, sondern auch Berichterstatter, Kamerateams und Fotografen, um Magazine, Zeitungen, Nachrichtensendungen und Reportagen mit Inhalt zu füllen. Alle auf der Suche nach DER Geschichte, nach DER ultimativen Erklärung. Was in den Anfängen als Schaulaufen untereinander begann, ist im Zuge eines immer größer werdenden Interesses zum Spießrutenlauf zwischen Kameralinsen geworden.
Für das Pfingstgeflüster habe ich mich durch unzählige Presseausschnitte der vergangenen Jahre gewühlt, um herauszufinden, wie und ob sich die Berichterstattung verändert hat. Im Folgenden widme ich mich also einem – meiner Meinung nach – repräsentativen Querschnitt aus nunmehr 20 Jahren, der keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, da viele ähnliche oder einfach nur kopierte Artikel ganze Jahrgänge verwässert haben. Ich möchte einen schwarz-bunten Fächer entfalten, der neben polemischen und vereinnahmenden Artikel auch immer wieder differenzierte Perlen enthält, die dem Auge des geneigten Betrachters vielleicht bisher entgangen sind.
„Drei-Wetter-Taft liegt in der Luft, Herzen flimmern unterm Lackkorsett und kleine Pentagrammeinritzungen auf weißen Oberarmen strecken sich der Sonne entgegen, das Wave Gotik Treffen öffnet seine Pforten und eine Jugendkultur lässt bitten.“ (Kreuzer 6/2000)
Meine Annahme, dass sich an der Sicht der Presse auf das WGT im Laufe der Jahre etwas geändert hätte, hat sich nicht bestätigt. Die Präsenz des Treffens in der Presse ist zwar kontinuierlich größer geworden, das Verhältnis zwischen guten und schlechten Artikeln erscheint mir jedoch unverändert. Wie sagt man? Wo viel Schatten ist, da ist auch Licht:
„Und weil sie alles Finster-magische lieben, gab´s inszenierte Hexenverbrennungen, mittelalterliche Ritterspiele, Märkte und vampireske Schauspieler. Wenn die meisten Gäste morgen wieder zu Hause (…) sind, tragen sie wieder Jeans. Denn im Job haben die friedfertigen Individualisten keine Zeit, Vorurteile abzubauen..“ (BILD, 20.5.1997 – geschätzte Auflage: 4.800.000 Stück)
„Das Treffen (…) war nie ein bloßes Musikfestival im Stile der populären Musikkultur, sondern immer eines, das dem Festivalbesucher die Möglichkeit belässt, sich sein Programm nach den eigenen Interessen zusammenzustellen. Mit phantasievollen Ideen bemühen sich die Veranstalter, dem weit über Musik herausreichenden Kulturverständnis der Gothic-Szene Raum zu geben. Aufs Geld wird weniger geschaut, wie die Veranstalter diesmal auch zugestanden.“ (Junge Freiheit, 30.5.1997 – geschätzte Auflage: 1500 Stück)
Vergleicht man die geschätzten Auflagen 2 beider Zeitungen, wird deutlich, wer das Bild der breiten Masse prägt. Der Wille, etwas differenziert und objektiv darzustellen, war „damals“ bereits vorhanden, es war nur niemand da, der es lesen wollte.
Auch die Sichtweise auf das, was die Schwarze Szene bedeutet, hat sich nicht verändert. Angst, Unverständnis und Spott sind keine Dinge, die sich im Laufe der Jahre herausgewachsen haben, sondern sind immer noch Garanten für zufriedenes Zielpublikum und daher Mittel zum Zweck.
Es gibt Dinge die ändern sich nie, auch nicht aus Sicht der Presse. „Sie musterten, sie mäkelten, sie kommentierten die schwarze Konkurrenz. Dies war die Lieblingsbeschäftigung der 3000 Gruftis am Pfingstwochenende in Connewitz. Sehen und gesehen werden“ schrieb Peggy Prien in einem Artikel 1993. 17 WGTs später konstatiert die LVZ „die schrillsten Klamotten, Korsagen, barocke Kleider, da wird stolziert und posiert. ‚Das sei für einige das wichtigste Element auf dem WGT – sich zu zeigen‘“ stellt auch die darin befragte Sarah fest.
Erklärungsversuche – was ist die schwarze Szene?
Seit den Anfängen des WGT versucht die Presse, das Phänomen des Treffens und das der Szene zu erklären. Dabei ist es ist kein Geheimnis, dass die Szene selbst sich nicht zu erklären vermag. Zu unterschiedlich sind die Auffassungen von Musik, Ästhetik, Lebensweise und Individualität. Der Begriff „Heterogenität“ wird als allgemeingültige Definition für das benutzt, was man nicht ganzheitlich definieren kann.
„Entstanden ist Gothic Anfang der 80er Jahre als Auflehnung gegen bestehende Sittenvorstellungen und Religionen. Und vor allem als Gegenbewegung zur heilen Welt des Pop. Die Musik feiert die Dunkelheit und die schattenhafte Seite des Lebens und hat eine deutliche Faszination für das Thema Tod.“ (Young Miss 9/2002)
„Schwarz heißt das Abwenden von der Welt. Aus dem Abwenden folgt die Suche nach etwas Neuem. Gothics suchen nach Auswegen aus der Entfremdung in den Industriegesellschaften. (…) Sie wollen die eigene Welt nicht ändern, denn das ist uninteressant und auch nicht möglich ‚Der Mensch ist ein böses Tier‘, zitiert die 20-jährige Vivien aus der satanischen Bibel des Church-of-Satan-Gründers Anton Szandor Lavey. Getreu dem Vanitas-Motiv des Barock: alles menschliche Mühen ist vergeblich. Die Konsequenzen daraus sind damals, wie heute die gleichen: wilde Feste und spirituelle Sinnsuche.“ (TAZ, 1. Juni 2004, 13. WGT)
„Die prägende Farbe in Leipzig, alljährlich zu Pfingsten, ist Schwarz. Es ist die schwarze Kleidung, die man vom „Grufti“ mit Staunen oder Kopfschütteln zuerst wahrnimmt: Doch fragt man, was dahinter steckt, bekommt man so viele Antworten, wie Besucher auf dem weltgrößten Dark Wave Festival weilen. Anderssein ist das Gemeinsame.“ (Bühne Leipzig, 1. Juni 2004, 13. WGT)
„Gothic ist ein Tanz. Ein Tanz ohne Musik. Denn diese interessiert nicht, solange die Sonne scheint, solange man sehen kann. Es ist ein Tanz der Blicke. (…) Bei dieser Zusammenkunft geht es weniger um Musik oder Bands. Hier vergewissern sich Menschen, die sich selbst zu Außenseitern erklären, dass auch sie zu etwas dazugehören. Es geht um das Sehen und gesehen werden. (…) Das andere Aussehen, der ästhetische Protest und die Farbe Schwarz hält die Szene mehr zusammen, als es das von außen aufgedrückte Prädikat Gothic je könnte. (…) Es ist zunächst das Betonen der Oberfläche, die vereinigt, was nichts miteinander gemein hat. Oberfläche sollte jedoch nicht mit Oberflächlichkeit verwechselt werden. (…) Äußerlichkeiten halten nicht so lange zusammen. Zumal krasse Widersprüche der Szene überbrückt werden müssen: das Nebeneinander einer gewaltlosen Hippie-Attitüde und sado-masochistische Praktiken, konservative Werteinstellungen und Satanismus. In Leipziger Straßenbahnen machen mit Metallstacheln übersäte Zwei-Meter-Kerle Platz für alte Omas, auf den Zeltplätzen peitschen sich, mal mehr, mal weniger ernsthaft, Menschen gegenseitig.“ (TAZ 1. Juni 2004, 13. WGT)
20 Jahre Wave-Gotik-Treffen Leipzig
Was macht das Treffen in Leipzig überhaupt aus? Der Stadt Leipzig ist es eine Ehre, das WGT seit 1992 austragen zu dürfen, Pläne, es in andere Städte zu verlagern, wurden im Keim erstickt. Dabei ist „Treffen“ wörtlich zu nehmen. Nirgendwo sonst gerät die Festivalatmosphäre so in den Hintergrund, nirgendwo sonst ist es scheinbar möglich, so viele Szeneangehörige ohne populäre Headliner in die Stadt zu locken. 2001 eröffnete DIE WELT in einem Artikel das Treffen mit den Worten:
„Der Himmel hat eine perfekte Kulisse geschaffen. Wolkenfetzen schieben sich zu grauen Türmen zusammen, die die Sonne verbergen, der scharfe Wind peitscht Regen über das Land. Es ist nicht richtig hell, nicht richtig dunkel, trotzdem muss man eine Sonnenbrille aufsetzen, weil das diffuse Licht die Augen quält. Die Götter scheinen auf die Erde gekommen zu sein, sie tragen schwarz, gelassen schreiten sie durch den Morast und die Pfützen, während ihre langen Gewänder schwer werden vom Nass, das sie aufsaugen. Aber die Frisuren sitzen. Komplizierte Verflechtungen von Strähnen, zu Kronen aufgetürmt oder zu kriegerischen Mongolenzöpfen geflochten, mit Haarlack so lange fixiert, dass selbst Windböen Stärke sieben nichts daran ausrichten können. Den Trägern erlaubt das eine übernatürliche Eleganz. Sie bewegen sich wie in einer Aura aus Windstille durch die Stadt, Tausende von ihnen im Straßenbild, während die Normalbürger mit Hüten kämpfen, Regenschirmen und Frisuren.“ (Die Welt, 5. Juni 2001)
Welches Wort könnte das WGT treffender beschreiben als Vielfalt? Egal, wie absurd die Artikel manchmal verfasst sind, letztlich enthalten sie immer das Fünkchen an Wahrheit, mit dem sie spielend unter den Schirm eben dieser Vielfalt passen und mitunter auch neue Sichtweisen eröffnen.
„Auf der Tanzfläche in der Nachbarhalle taumeln sie mit ein paar Tausend Schwarzleuten zur Musik elektronischer Dudelsäcke und wummernder Bassgitarren. Über ihnen lodert ein Wort des allseits verehrten Dunkelmannes Edgar Allen Poe an der Wand: „Alles, was wir sehen und scheinen, ist nur ein Traum in einem Traum.“ (FAZ, 25. Mai 1999)
„Es zeigt sich erneut, dass die Szene an sich keine konkrete Aussage liefert. Die verkörpert jeder für sich – geistvoll oder stumpfsinnig – und nur das ist selbstverständlich individuell. Wenn sich die Szene trifft, verbirgt sich dahinter kein besonderes Unterstatement. Dann ist das vielmehr entspanntes Feiern & Ficken. Und genau das sollte es auch sein.“ (Kreuzer 6/2000)
Schwingt in derber Wortwahl eine subjektiv empfundene Ablehnung, ein Unverständnis oder Effekthascherei mit? Worte lenken die Aussage jedes Artikels und zeugen unter der Oberfläche der Objektivität von subjektiv empfundenen Meinungen. Viele unvoreingenommene Autoren, die zum ersten Mal über das WGT schreiben, gehen mit einer bleibenden Sympathie für die skurrilen Menschen, die sich einmal im Jahr über Leipzig ausbreiten wie ein schwarzes Netz.
„Kaum ein ‚Normalo‘ glaubt mir, wenn ich ihm von Tausenden durch die Stadt ziehenden schwarz gekleideten und geschminkten, nach Erde riechenden jungen Menschen, von durch die Straßen düsenden Leichenwagen, von Hexenverbrennungen und Ritterkämpfen, von zerrissenen Netzstrumpfhosen und blutschwarzen Lippen, von Vampirzähnen und meinem Erlebnis mit Frankenstein erzähle.“ (Das Teil, August 1997)
„Währenddessen feierten die Industrials mit ihren kurzgeschorenen Haaren und den Gummiklamotten in einer hübschen, mit buntem Glas verzierten Halle ihre Helden. Es heißt, die tiefen Bässe von Techno oder Industrial wirken sich positiv auf die Darmtätigkeit aus. Und tatsächlich: der Sänger von „Poupée Fabrikk“, Industrial-Superstars aus Schweden, litt nach dem Konzert an akuter Diarrhöe. Wenigstens ein Gerücht, dass sich bestätigt.“ (Die Welt, 5. Juni 2001)
„Den Leipzigern ist die Pfingstinvasion dieser Spezies längst vertraut. (…) Vor allem ältere Mitbürger scheinen von den sanften schwarzen Gästen ausgesprochen angetan. ‚Ist ihnen nicht schrecklich warm?‘ fragt mitleidvoll eine Dame zwei Bräute der Nacht, die der Mittagssonne in langen, samtenen Gewändern trotzen. Rüstige Rentner unterhalten sich angeregt mit kettenbehängten Kerlen in schwarzen Röcken, und ganze Familien stehen mit dem Fotoapparat am Straßenrand.“ (Berliner Zeitung, 30. Mai 2007)
„Das Wichtigste am Wave-Gotik-Treffen, und da sind sich viele Fans einig, ist und bleibt das Treffen selbst – die vielen Details, das rundherum und die schwarze Vielfalt. Eine schöne Tradition.“ (OZelot 28. Mai 2003)
Wehret den Anfängen!
Um die Anfänge des WGT ranken sich Mythen. Viele Besucher meinen: „Früher war alles besser.“ Dabei hätte wohl niemand 1992 damit gerechnet, dass das WGT einmal das wird, was es heute ist. Es scheint, als ob mit der steigenden Anzahl der Nostalgiker auch die Zahl derer wächst, die eine Vergangenheit ablehnen, mit der sie sich nicht identifizieren können. „Vom Pathos der 80er Jahre ist ihnen viel abhandengekommen.“ urteilt die LVZ im Mai 2005 und sorgt damit für zustimmendes Nicken bei den einen und verständnisloses Schulterzucken bei den anderen. Wie spiegelt die Presse die Vergangenheit?
„‚Zu Zeiten der DDR (…) haben wir in dunklen Kellern leiernde Cure-Bänder zum zwanzigsten Mal abgespielt, Kerzen angezündet und Wein getrunken. Doch wenn nur drei von uns ein Eis aßen, war das für die Polizei eine unerlaubte Zusammenrottung.‘ Die Distanz zum Staat habe in der DDR den Zusammenhalt begünstigt; nach 1989 drohte die alte Szene zu zerfallen. Brunner versammelte deren Reste 1992 beim ersten WGT. Die dafür engagierten Musikgruppen zogen auch Anhänger aus Westdeutschland an.“ (Michael Brunner in der FAZ, 1. Juli 2000)
„‚Früher‘, weiß eine Veteranin, ‚musste man sich die Sachen selber nähen. Jetzt gibt es in Leipzig drei einschlägige Läden, wo man vor dem Treffen hingehen und sich einkleiden kann.‘ ‚Früher‘ wird oft beschworen. Früher in Leipzig, als es noch den gemeinsamen Feind gab und Punks, Gothics und andere ‚Randständige‘ sich verbündeten, weil es anders gar nicht ging. Früher, als das Treffen tiefsinnige Gespräche bei Rotwein verhieß und Kultbands wie Das Ich oder Deine Lakaien auftraten. Früher, als man für sein WGT-Bändchen fünf Stunden anstehen musste und Gigs, die auf Mitternacht angesetzt waren, morgens um vier stattfanden.“ (Berliner Zeitung, 30. Mai 2007)
„Das Materielle stand im Hintergrund. „Wir haben unsere Klamotten selbst geschneidert, wir waren mit viel weniger zufrieden. Wir hatten uns, die Musik und die Gespräche.“ Der Zusammenhalt war größer, sagt Silvia Müller. „Die Jungen haben viel höhere Ansprüche als wir damals, vielen sind Gothics, weil es Mode ist.“ (LVZ 12. Mai 2007)
Gothic ist mit der Zeit gegangen. Das Treffen hat sich entwickelt. Früher war es anders. Ob es besser war, bleibt dem Betrachter überlassen. Was früher als Treffen zur geliebten Musik begann, ist heute ein kulturelles Highlight, das ein internationales Publikum anzieht. Wo früher selber angefertigt werden musste, weil das Angebot klein war, wird heute im breiten Sortiment zahlreicher Shops konsumiert. Besser oder schlechter? Nichts von beidem, einfach nur anders.
Vereinnahmung
Immer, wenn Zeitungen etwas Skandalöses zu berichten fanden, stieg die Wahrnehmung. Vor allem dann, wenn Autoren begannen, das Treffen für ihre Leser zu instrumentalisieren. Vorwürfe einer politischen und ideologischen Unterwanderung 1998/99, sowie die Insolvenz des Veranstalters 2000 rückten das WGT in das öffentliche Licht, ruinierten den Ruf einer unpolitischen und toleranten Veranstaltung jedoch nachhaltig.
„Als Zugabe spielen die italienischen Musiker (Camerata Mediolanense) das schöne und heute noch traurig anmutende deutsche Soldatenlied Lili Marleen – auf Deutsch! Eine rührende Geste, eine großartige Reverenz (sic!) an das deutsche Volk und seine gefallenen Söhne. Als der letzte Ton verklungen ist, ist der Beifall riesig; alle sind wie verzaubert und im innersten berührt von dieser Hommage an Volk und Vaterland.“ (Deutsche Stimme – NPD, August 1999)
Jede Zeitung versucht, die Artikel zum Geschenk an seine Leser zu machen. Das Treffen wird so lange durch das Sieb eingeschränkter Sichtweisen geschüttelt, bis etwas herausfällt, was den Leser in seiner Meinung bekräftigt und der Orientierung des Blattes gerecht wird.
„Auf dem Leipziger Festival fand eine geplante ZILLO-Diskussion „Braune Flut?!“ über rechte Tendenzen nicht statt. Linke Bands wollen sich mit den angeblich rechten Bands nicht an einen Tisch setzen. Die Mitteilung der Veranstalter über die Absage wurde mit der Mahnung kommentiert, wachsam und kritisch zu bleiben, immer alles zu hinterfragen und sich die Dinge offen anzusehen.“ (Tattva Viveka, Oktober 1999, S. 75)
Es ist fatal, der Szene die nötige Intelligenz abzusprechen, sich selbst ein Bild von dem zu machen, was man in sie hineinträgt. Es bleibt wichtig, kritisch zu sein und seine Meinungsbildung durch Wissen zu stützen. Zu hinterfragen und zu verstehen ist wichtiger, als zu resignieren und zu akzeptieren.
„(Es) steht jedenfalls fest, dass deutschen Zensurbehörden und andere Alarmisten den Hype um Nazi-Pop nicht verhindert, sondern überhaupt erst ausgelöst haben. Nicht jeden Skin ist gleich ein Fascho, nicht jeder an Esoterik interessierte Gruftie gleich ein Opfer düsterer Nazi-Ideologien. Gerade weil in der öffentlichen Wahrnehmung aber immer noch nur eine mangelnde Bereitschaft herrscht, derartige Subkulturen differenziert wahrzunehmen, können aufklärende Texte nur begrüßt werden.“ (TAZ 3. März 2003)
Die Musik dient der Beschallung einer Veranstaltung mit eindeutigem Treffen-Charakter und gerät unfreiwillig, aber ein Stück weit gewollt, in den Hintergrund. Was 1992 mit 10 Bands begann, formierte sich 2011 zu einer unmöglich zu koordinierenden Menge von über 300 auftretenden Künstlern.
Gothic ist als Musikgenre im Mainstream angekommen, „da überrascht es nicht, dass sich mittlerweile viele Gothic-Bands von der Originalität ihrer Arrangements und ihrer Texte nicht wesentlich vom deutschen Schlager unterscheiden …“ (Jungle World, 11. Juni 2009) umso konzeptioneller erscheint die konsequente Linie des WGT, auf Headliner gänzlich zu verzichten und den Besuchern ein differenziertes Programm zu bieten, das der Szene gerechter zu sein scheint als die Szene selbst. „Solange Bands eingeladen werden, die sich vermutlich nie hätten träumen lassen, einmal auf einem Gothic-Festival zu spielen, und dann auch noch vom Publikum dankbar angenommen zu werden, laufen das Festival und seine Besucher jedenfalls nicht Gefahr, einer selbstreferenziellen Nabelschau zu erliegen.“ (Jungle World, 11. Juni 2009)
Fazit
„Der Fehler des Neulings ist es, Verstehen mit ordnender Deutung gleichzusetzen. Was heißt es, wenn sich jemand ein Pentagramm um den Hals hängt? Je nachdem; womit er dieses Zeichen aus dem gemeinsamen Vorrat auflädt, ist in jedem Fall wichtiger als ein vorauszusetzender objektiver Gehalt.“ (SZ, 7. Juni 2006)
Die Presse hat gelernt. Regional starke Zeitungen wie die LVZ haben das Treffen mittlerweile als städtische Institution auf dem Programm und versuchen seit Jahren, einen differenzierteren Blick hinter die geschminkten Gesichter zu wagen. Überregionale Zeitungen mit Anspruch sprachen dem WGT gerade zu Beginn die Relevanz ab und rücken das Treffen seit der Jahrtausendwende, nicht zuletzt wegen der Vorwürfe politischer Unterwanderung und der Insolvenz des ursprünglichen Veranstalters, stärker in den Fokus und belohnen es mit zum Teil wunderschönen Artikeln mit viel Tiefenschärfe. Den Versuch, eine Szene zu erklären, die sich selbst nicht in Worte fassen kann, hat man aufgegeben und vielleicht ist das auch gut so.
„Am Ende eines langen Tages hat man gelernt, unter allen Skurrilitäten den Grundzug im Willen zur gänzlich unbrauchbaren Schönheit zu erkennen. Dies allein genügt schon, um selbst den wenig spektakulären Kostümen die Anmutung des Erotischen zu verleihen; sie umhüllt den Träger wie eine dünne Schicht Samt. Hierin, und nicht in ihren diversen und oft konfusen historischen Zitaten, wurzelt die traditionelle Eigenart der Szene. Man gewöhnt sich rasch daran, diesen höheren Standard wie einen allgemeinen am Werk zu sehen. Nach einem Tag auf dem WGT wirkt der gewöhnliche Leipziger, wie er einkauft oder seinen Hund ausführt, daneben zerknittert, farblos und generell vernachlässigt.“ (SZ, 7. Juni 2006)
Einzelnachweise
- Ein großer Dank gilt Marcus Rietzsch, der mir freundlicherweise gestattete, den Artikel auch hier zu veröffentlichen. Auch vielen Dank für das Bild, dass auch aus seinem Fundus stammt und auch den originalen Artikel im Pfingstgeflüster schmückt.[↩]
- Nach Zahlen der IVW geschätzte Auflagen beider Blätter, die auf Zahlen aus 1998 (BILD) und 2007 (Junge Freiheit) beruhen.[↩]
An dieser Stelle nochmals danke, dass Du Dich der großen Aufgabe gestellt hast, Dich durch einen Berg von Artikeln zu wälzen und noch dazu daraus eine textliche Essenz zu kreieren.
Ist der Blick von innen auf eine vielschichtige (und mittlerweile teils sogar gegensätzlichen) Szene und Veranstaltung schon problematisch, scheint der Blick von außen fast zum Scheitern verurteilt zu sein. Umso mehr hat es mich gefreut, dass Du auch Beispiele gefunden hast, in denen kein klischeehaftes Bild gezeichnet wurde. Und ebenso kann man manchem kritischen Satz nicht absprechen, voll ins Schwarze getroffen zu haben („…da überrascht es nicht, dass sich mittlerweile viele Gothic-Bands von der Originalität ihrer Arrangements und ihrer Texte nicht wesentlich vom deutschen Schlager unterscheiden…“) Oft will man aber wohl gar nicht „tiefer graben“, bleibt neben den bunten Bildchen doch auch gar nicht viel Platz. Und zu sehr drängt sich den scheinbar einzig über das Agragelände huschenden Reportern das Bild der in der Szene Einzug gehaltenen oberflächlichen Konsum- und Spaßgesellschaft auf. Ein Bild, dass leider ein Stück Wirklichkeit widerspiegelt. Aber eben nur ein Stück. An anderen Stellen in Leipzig trifft man oftmals auf ein – wie ich jedenfalls finde – gegenteiliges Bild. Was sicherlich verwirrend ist – sofern sich Pressevertreter die Arbeit machen, unterschiedliche Veranstaltungsstätten unter die Lupe zu nehmen und sich verschiedenen Besuchern zu widmen. Schwierig. Eigentlich sollte ich den Reportern gar keinen Vorwurf machen. Letztendlich scheinen diese auch nur das abzuliefern, was von den Lesern gewünscht wird. Oder?
Sehr sehr schöner Artikel, Robert.
Sieht nach einer Menge Arbeit aus und ich weiß gerade nicht, ob ich die darum beneiden soll, dass du so viele Artikel gelesen hast.
Das WGT ist eine phänomenale Sache für sich.
Gerade weil der Festivalcharakter in den Hintergrund rückt mag ich es so sehr. Dennoch findet man mich jedes Jahr – ja nach Bandauswahl – hetzend von einer Bühne zur nächsten.
Die Kritik an dem Schaulaufen selbst findet man ja in der Szene auch sehr oft. Das finde ich per se nicht verkehrt, dennoch möchte ich den Leuten die sinngemaß sagen: „Diese Faschingsveranstaltung tue ich mir nicht an!“ hin und wieder gerne unterstellen, dass sie auch nur auf der Agra spaziert sind. Aber da ich mich damit auf dünnes Eis begebe, bleibt es meist ein unausgesprochener Gedanke *g*
Denn mal abgesehen davon, dass es auch genug Besucher gibt, die sich mit Hose und Bandshirt zufrieden geben, sollte man nicht allen die 3 Stunden vorm Spiegel stehen unterstellen, dass sie einzig und allein zur Selbstinszenierung zum WGT gehen. Ich habe eher das Gefühl, dass dahinter einfach nur der Wunsch steht, sich uneingeschränkt auszuleben und wenn nicht das WGT diese Möglichkeit bietet, was denn dann?
Auch diese politische Sache bringt mich oft ins Grübeln, es fällt mir schwer, mich da zu positionieren. Denn einerseits sind schwarze Sonnen auf Festivaltickets fragwürdig, im allgemeinen das herumspielen mit Symbolen, die von den Nazis verwendet wurden.
Andererseits finde ich es Schade, dass man diese Symbole nur darauf reduziert, denn viele von denen haben eine lange Geschichte auf dem Buckel.
Bei diversen Bands bin ich immer zurückhaltend, da mir einige Nichts sagen oder weil ich bisher nie über eine total fragwürdige Textstelle gestolpert bin. Aber gut, vielleicht muss ich mich wirklich mal hinsetzen und einige genauer unter die Lupe nehmen, wobei auch da die Gefahr besteht, dass man so lange sucht, bis man etwas findet *g*
ElisaDay:
Diesen Gedanken hatte ich auch schon des Öfteren und finde ihn im Übrigen gar nicht so verkehrt. Ich denke, dass die Medien an diesem Schaulauf-Phänomen, das man auf dem Agra-Gelände beobachten kann, einen nicht unerheblichen Anteil haben. Durch die Berichterstattung werden eben keine Besucher, die sich beispielsweise für unbekannte Bands, Lesungen und Ausstellungen und gerne zwischenmenschliche Kontakt pflegen, der über das gemeinsame Konsumieren von Alkohol und das gegenseitige Bewundern ausgefallener Äußerlichkeiten hinausgeht, angelockt.
Yay, ich verstehe was du meinst, aber ich finde eben Schade, dass die, für die das Treffen ja eigentlich „gemacht“ ist, selbst anfangen es darauf zu reduzieren. Sicher sind genug dabei, die 4 Tage lang einfach ihre Bühne genießen und dabei ordentlich viel Met konsumieren, aber an denen kann man ja gerne auch lächelnd vorbeilaufen, während man zu einer Ausstellung geht ;)