Die meisten sozialen Kanäle konzentrieren sich auf ein freudiges Ereignis. Das 23. Wave-Gotik-Treffen in Leipzig ist in greifbare Nähe gerückt. In Leipzig gibt es nahezu keine bezahlbaren Unterkünfte mehr, immer mehr bestätigte Band-Zusagen fesseln potentielle Besucher zum Probehören und unzählige Outfits werden vor dem Spiegel dem kritischen eigenen Blick unterworfen. Ich frage mich, wann die Vorfreude, dich auch mich in ihren hypnotischen Sing-Sang gelullt hat, abklingt. Nach wie vielen WGTs hat man den Zenith überschritten? Ist man irgendwann zu alt für den ganze Kram? Hängt einem das hektische Reisen zwischen den Veranstaltungsorten irgendwann zum Halse heraus? Wo wir gerade bei der Vorfreude sind. Sicher könnte man sich jetzt durch einen der unzähligen schlecht gemachten Dokumentationen auf den Boden der Tatsachen zurückholen. Anschließend jammert man dann unisono über den Unwillen und die Unfähigkeit gute Filme zu machen.
Doch manchmal holt einen auch einfach die Tatsache ein, dass man noch nicht alles kennt und einige der wahren Perlen unter einer lauten Oberfläche schlummern. So landete die Dokumentation „Maskenball“ von Ruth Stolzewski in meinem Nachrichtenstrom. 2009 setzte die junge Regisseurin, Filmemacherin und Autorin ihre Vorstellung von einer Dokumentation über das WGT um und drehte für ihren Abschluss des Studiums „Film- und TV-Design“ den 52-minütigen Film, der auf dem WGT 2010 erstmals der Öffentlichkeit präsentiert wurde. (An dieser Stelle ärgert sich übrigens der Autor dieses Artikel intensiv darüber, genau dieses Ereignis verpasst, verpennt oder verschlafen zu haben. Er hat sogar kurz darüber nachgedacht, von einer Veröffentlichung abzusehen um sich nicht der Blöße des „Nicht-Kennens“ hinzugeben. Hat er aber nicht.)
Ich vermute, dass der ein oder andere von Euch diese Dokumentation bereits zu Gesicht bekommen hat. Umso glücklicher bin ich nun, dass die Doku Ende 2013 (vermutlich von ihr selbst) auf Youtube hochgeladen wurde um so einem noch breiteren Publikum zu Verfügung zu stehen. Ich habe sie mir natürlich angesehen. Bis jetzt drei mal. Eine feine Auswahl an Protagonisten, die die Faszination des Wave-Gotik-Treffens auf eine ganz eigene Weise rüberbringen. Die Sichtweise aus den unterschiedlich Blickwinkeln vermittelt etwas von der Internationalität der Menschen, der Vielfältigkeit der Inhalte und dem ständigen Wechsel zwischen der glänzenden Oberfläche und der nachdenklichen Tiefe. Die Musik-Auswahl unterstreicht den Charakter und macht den „Maskenball“ zu einem schönen Erlebnis. 52 Minuten Vorfreude.
Das Wave Gotik Treffen ist mit etwa 20 000 Besuchern und 190 Bands das größte Festival der schwarzen Szene weltweit. Es findet bereits seit über 20 Jahren an Pfingsten in Leipzig statt. In dieser auf dem Wave Gotik Treffen 2009 gedrehten Dokumentation werden verschiedene Akteure des Festivals porträtiert, u.a. der amerikanische Musiker Frank the Baptist, die Berliner DJs Thomas Thyssen und Ian P. Christ und der Autor Sascha Blach. Wie haben sie die schwarze Szene kennengelernt, welche Rolle spielt sie in ihrem Leben und wie sehen sie ihre Zukunft? Dabei soll ein Einblick in diese Subkultur gegeben werden jenseits von allen Klischees und Vorurteilen anderer Reportagen und Fernsehberichte über dieses Thema. Der Film enthält Ausschnitte aus Konzerten von Frank the Baptist, Telegram Frank und Sanity Obscure, aus der Lesung von Sascha Blach, aus der „When We Were Young“ Party und viele Aufnahmen der Festivalbesucher in verschiedenen Locations. (Von der Internetseite von Ruth Stolzewski)
Fazit: Das WGT ist einzigartig. Die Dokumentation macht deutlich, dass das jährliche Treffen in Leipzig der Schmelztiegel sämtlicher Einflüsse der Szene ist. Ein überdimensionaler Topf von dem jeder satt wird und der auch noch so absurde Geschmäcker bedient. „Gothic“ ist ein überladener Überbegriff für all die Splitterkulturen, die auf dem WGT mehr oder weniger friedlich koexistieren. Ruth Stolzewski versucht nicht, etwas zu erklären, sondern überlasst die Interpretation dem Zuschauer selbst. Das lädt dazu ein, sich irgendwo wiederzufinden. Ich finde, die bislang beste Dokumentation über das Wave-Gotik-Treffen, auch wenn sich mittlerweile 5 Jahre auf dem „Bückelchen“ hat.
Sehr schicke Dokumentation, danke fürs drauf Aufmerksam machen!
Das wird dies Jahr mein erstes WGT werden und ich bin schon überaus gespannt und voller Vorfreude! :)
Ich hab diese endlich mal gute Doku übers WGT auch im Jan zum 1. Mal entdeckt und war begeistert. Wunderbar. Wir haben es hier mit einer sehr seltenen Spezies zu tun. ;)
Nach wie vielen WGTs hat man den Zenith überschritten? Ist man irgendwann zu alt für den ganze Kram?
Für mich wird es in diesem Jahr das 14. WGT sein und mittlerweile bin ich weniger hibbelig und in Vorplanung als noch vor ca. 3 Jahren. Das hat sich ziemlich gelegt, ich habe meine Outfits, sicher kommt auch ab und zu was Neues hinzu, aber ich mache mich da nicht mehr so verrückt wie früher. Wobei ich mich trotzdem schon wieder sehr darauf freue und es auch durchaus prima finde, wenn man Monate vorm WGT schon Klamotten schneidert, Outfits plant, Bands recherchiert etc. Hab ich alles auch irgendwann gemacht, aber mittlerweile lass ich es eher auf mich zukommen. Es hat dann etwas mehr Überraschungseffekt, was nach so vielen Jahren WGT auch seinen Reiz hat. Zu alt werde ich dafür (hoffentlich) nie. FÜr mich gibt es kein besseres Festival und jedes Jahr ist es auch irgendwie anders.
Zwischenzeitlich dachte ich auch schon hin und wieder, ich wäre wohl fehl am Platz auf dem Treffen. Aber man wird nicht zu alt, sondern älter und reifer (und muss ja nicht jede neue Volte des schwarzen Mainstreams noch mitmachen). Schöne Doku. Frank hat völlig Recht: Es ist unser Treffen!
Wohltuend, einfach wohltuend…vor allem da bei den sonstigen Dokus gerne die Knicklichter vor der Kamera stehen und meist eher mit Unwissenheit über die Ursprünge glänzen. Hier is hingegen einfach ne gewisse Tiefe zu spüren.
Man dankt…
GF
Wow – die Doku ist wirklich toll gemacht. Ich werds mir nachher gleich nochmal anschauen. So tief gehend hab ich noch keine andere Zusammenfassung gesehen. Danke fürs Aufstöbern!
… und jetzt hab ich Sehnsucht. Der Raps ist schon fast gelb – das ist unser persönlicher Vorbote, nur dieses Jahr passen Frühlingsgefühle und WGT-Countdown nicht zusammen – gemein!
Dokumentationen zu Themen, mit denen ich selbst auch mal näher in Berührung gekommen bin, messe ich gerne daran, ob sie sich so ähnlich „anfühlen“ wie das, was sie zeigen möchten. Wenn sich beim Anschauen ein ähnliches Gefühl einstellt wie zu der Zeit, als ich an der Stelle der Kamera war und ich am Ende sagen kann „ja, das ist die Essenz dieses Themas“, ist eine Dokumentation gut.
Daran gemessen ist diese Doku großartig: Nachdem ich sie mir angesehen habe, kann ich guten Gewissens sagen „Ja, so ist das WGT“. Was schon mal völlig im Gegensatz zu dem steht, was man sonst so gerne an merkwürdigen Karneval-Klickstrecken oder „Reportagen“ sehen und lesen kann. Eine besonders hohe Hürde ist das nicht, zugegeben.
Auch davon abgesehen macht die Doku aber vieles richtig, unter anderem etwas, was ich doch ganz erstaunlich finde. Selbst, wenn einem nicht eine körperlose Stimme das vorkaut, was man über das Thema zu denken hat, sondern tatsächlich das eigene Gehirn anstrengen muss, um in einer Doku getätigten Aussagen einordnen zu können, haben Dokus dennoch gern eine gewünschte Stoßrichtung. So ist es dann auch nicht verwunderlich, wenn die Bewertung des Themas durch verschiedene Zuschauer ähnlich ausfällt. Gut, es mag auch sein, dass ich ansonsten einfach die falschen Dokus schaue. In dieser Doku ist es aber nun so, dass wohl jeder Zuschauer bei unterschiedlichen Aussagen zustimmend nicken oder den Kopf schütteln wird (bzw. sich Zustimmung und Ablehnung auf die eigene Gedankenwelt beschränkt). Ich vermute, dass die Protagonisten wohl durchaus unterschiedlich bewertet werden.
Neben der schon von Agricola erwähnten Aussage, dass das Treffen ist, was man selbst daraus macht, hat mich letztes Jahr bei meinem ersten WGT insbesondere ein Aspekt erstaunt und erfreut: wie sehr doch die unterschiedlichen „Splitterkulturen“, wie es Robert so schön ausdrückte, nicht nur friedlich koexistieren, sondern sich auch „vermischen“. Wie es der Mann von Sanity Obscure schon richtig ausdrückte, hat man auf Konzerten außerhalb des WGTs doch ein deutlich homogeneres Publikum. Gleiches erwartete ich eigentlich auch vom WGT, schon, wenn man an so vielen Orten (unter anderem auch hier) liest, wie sehr doch die einzelnen Splittergruppen nichts miteinander zu tun haben. Nein, also dafür waren dann doch zu viele Gruftis auf so manchem Metalkonzert und zu viele Metaller auf dem Neofolk-Abend. Von den ganzen anderen Gruppen ganz zu schweigen. Selbstverständlich, wenn man den Blick über das Publikum schweifen lässt, kann man anhand der Gruppe, die die einfache Mehrheit bildet, meist ganz gut auf das Genre des Konzerts schließen. Aber es ist eben eine einfache Mehrheit, keine deutliche absolute. Und ja, ich habe jetzt einfach mal nach Aussehen in Schubladen einsortiert. Ich habe das auch nicht gerne getan ;)
À propos Metal: Ja, da mag ja jeder anders zu stehen, und ganz ehrlich, so toll fand ich das Gezeigte von Sanity Obscure auch nicht. Aber ich finde, die Autorin der Studie hat auch den musikalischen Aspekt des WGTs (der ja auch irgendwie wichtig ist) ganz gut getroffen, und da gehört nun mal auch Metal dazu. Alle musikalischen Ausprägungen trifft man eh nicht, aber das war schon nicht schlecht. Gut, in so manch anderer Reportage läuft auch gerne mal nur Mainstream-Metal, es hätte aber ja sein können, dass man lieber nur Goth Rock und Wave zeigt.
Großartige Doku! Man lässt die Leutz zu Wort kommen, und versucht nicht, durch strunzdumme „Offs“ in das Gesagte etwas hinein zu interpretieren. Als Altgrufti, der sich noch gut erinnern kann, wie sich besoffene Metalheads in den Clubs breit machten, um sich über die Szene lustig zu machen, geht mir die penetrante Präsenz von Metal in der Szene auf den Keks, und ist letzten Endes einer der Gründe, warum mich Festivals nicht anmachen. Dass es um den Elektro kaum besser bestellt ist, will ich gar nicht verschweigen!
Ich habe auf solchen Großveranstaltungen (zumal, wenn vieles parallel statt findet) immer das Gefühl, etwas zu verpassen.
Ich finde jeder, der diese Doku schaut, kann sich ein Bild vom WGT machen – und by the way:
Ha! Ein Pressesprecher! Da setz´ich mich doch spontan neben den Schnorrpunk, der immer vor unserem Supermarkt hockt. Der ist mittlerweile authentischer als diese Gotische Großindustrie…
Danke Robert, dass du uns diese Reportage zur Verfügung stellst. Es ist doch überraschend wie einfach man auch mal eine aufrichtige Momentaufnahme der Szene erhalten kann, wenn man sich Mühe gibt hinter die Fassade zu schauen.
Sehr gerne! Wenn Streaming-Plattformen es zulassen, versuche ich den Schatz, solange wie möglich für alle verfügbar zu halten. :)