Gonzo-Journalismus. Aufstieg und Fall des Skandal-Magazins VICE

Die ARD Dokumentation „Die Vice-Story – Gosse. Gonzo. Größenwahn“ handelt vom Aufstieg und Fall eines der kontroversesten Magazine der letzten Jahre. Bei dem als „Gonzo-Journalismus“ bezeichneten Format ging es darum, „nach den vergessenen Gruppen in der Gesellschaft zu fragen. Nach den abgedrehtesten Geschichten zu suchen und aus den dunkelsten Ecken der Gesellschaft herauszukehren„, wie die ehemalige Autorin Thembi Wolf, die jetzt bei Stern arbeitet, in ihrem Artikel schreibt.

Gonzo-Journalismus wird populär

Neuer und ungeschönter Journalismus. Das Erleben im Vordergrund, radikal subjektives Spiel mit Emotionen und Moralvorstellung. VICE machte Ende der 90er-Jahre dieses Format zum Gewinner. Es geht fast immer um Drogen und Kriminalität, um Sex und Style, um Absurdes, Abseitiges und Ekliges. Thembi Wolf dazu:

Ein Redakteur wirft darin den Saugnapf-Dildo dreimal über die Schulter. Zuerst auf ein Whiteboard, das „arme Länder“ aufführt (Kuba, Syrien), dann auf die „Minderheiten“ (Geflüchtete, Menschen mit Behinderung), zuletzt auf die „Drogen“ (Xanax, LSD). Heraus kommt eine Reportage über: Transgender Ketamin-Dealerinnen in Venezuela.

Als in den 2000er ein deutscher Ableger gegründet wird, sucht man unter jedem noch so abseitigen Stein in Deutschland nach einer Story. Man sprengt moralische Grenzen mit Ansage und radikalisiert den Journalismus in Deutschland für Auflage und später für Klicks und Views. Als die Konkurrenz nachzieht und auch öffentlich-rechtliche damit ihr Zielpublikum erreichen wollen (wie beispielsweise mit „Wild Germany„) geht es nur noch um die Superlative, um ständige Steigerungen der Skandalisierung.

Die ARD-Dokumentation fasst die ganze Story und den Gonzo-Journalismus hinter VICE nochmal in einem Mehrteiler zusammen. In 3 Folgen erzählt man von „Humor & Hedonismus“, „Coups & Cash“ und letztendlich von „Alleingänge & Absturz“. Sehenswertes, das ein klein wenig nachdenklich macht.

Man besucht Diktatoren in Asien, spricht mit IS-Terrorkämpfern, fragt Überlebende des Holocaust, „ob sie in Auschwitz auch gute Momente erlebt hätten“ und zeigt Menschen, die sich absichtlich mit HIV infizieren wollen. Es gibt nichts, was man nicht ins Licht der Öffentlichkeit zerrt. Und während sich die Leute verbal und moralisch darüber empören, schauen sie mit dem anderen Auge hin. Millionenfach.

Allerdings scheint in diesem Jahr alles vorbei. Bereits 2023 ist der amerikanische Muttern-Konzern pleite, der deutsche Ableger schließt im März seine Pforten. Schluss mit Voyeurismus. Schluss mit Spannen, Staunen und Starren?

Aber nicht etwa, weil die Menschen sich jetzt plötzlich an Moral erinnern oder sich über die Empörung empören, sondern weil die Art der Berichterstattung offensichtlich die Schlange von innen zerfressen hat. Toxisches Arbeitsumfeld, Machtmissbrauch, Abhängigkeitsmissbrauch. Die Finanzierungsgrundlagen brechen weg, weil Werbepartner für die kontroversen Inhalte vielleicht kaum noch zu finden sind und Geschäftspartner möglicherweise fürchten, mit der nächsten Skandal-Story selbst auf Gleis der Absurditäten zu geraten.

Dennoch: Ich glaube, der Zeitgeist schreit (leider) nach solchen Formaten. Ich könnte jetzt die moralische Instanz mimen, aber im Grunde genommen gucke ich wohl auch hin, wenn Formate wie VICE die menschlichen Abgründe ans Tageslicht zerren – vielleicht um zu staunen, mich zu empören oder einfach ein bisschen besser zu fühlen als die „Anderen“.

Wie geht es Euch? Erinnert ihr Euch an besonders aufwühlende Artikel und Videos von VICE? Wie sieht mit Eurer Moralverstellung aus? Gibt es Dinge, die nicht ans Licht der Öffentlich gezerrt werden sollten?

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Fantôme Noir
Fantôme Noir (@guest_65999)
Vor 8 Stunden

Da kann ich beruhigt feststellen, daß ich von VICE bis zum heutigen Tag rein gar nichts mitbekommen habe :-) Derlei „Kunstaufreger-Journalismus“ meide ich allerdings auch, ich kann damit absolut nix anfangen. Was RTL und Co. so als „Nachrichten“ betiteln, reicht mir schon vollkommen zur Auslösung eines Würgreizes…

Fantôme Noir
Fantôme Noir (@guest_66000)
Antwort an  Fantôme Noir
Vor 8 Stunden

PS –  Robert Wenn ich auf den Link in der Abonnementbestätigungsmail klicke, kriege ich immer nur einen „Not found“-Fehler. Die URL „https://www.spontis.de/wp/wpdiscuzsubscription/confirm/“, die Dein Bestätigungslink nutzt, gibt es offenbar nicht auf Deinem Server, oder sie ist nicht von außen zugänglich.

Letzte Bearbeitung Vor 8 Stunden von Fantôme Noir
Marquis
Marquis(@marquis)
Vor 19 Minuten

Noch nie etwas von vernommen, auser Gonzo, der spielt in der Mupped Show.

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