1990 sieht es im Leipziger Stadtteil Connewitz immer noch so aus, als wäre der Krieg gerade erst vorüber. Zusammen mit einigen befreundeten Punks und Gruftis hat die damals 14-jährige Isabel ein abbruchreifes Haus besetzt. Es gibt keine Jugendclubs und keine anderen Möglichkeiten sich zu treffen, deshalb haben sie ihr Glück selbst in die Hand genommen. Kurz nach dem Fall der Mauer ist ihre Zukunft noch ungewiss, sie freuen sich auf die D-Mark und glauben fest daran, dass es bald zu einer Wiedervereinigung kommt. Die sozialistische Heimat gibt es nicht mehr, die Werte, mit denen die Jugendlichen aufwachsen sind, gelten plötzlich nicht mehr. Isabel läuft scheinbar mit ihrer ganzen Jugendlichkeit ins Leere. Auf die Frage, was sie mal werden möchte antwortet sie: „Och im Kapitalismus wachsen Haare – werd ich Friseuse.“ Sie möchte sich bemühen ihr Leben zu schaffen, sagt sie, doch mit dem sächsischen Dialekt, der unsicheren Fröhlichkeit und Ihrer melancholischen Ausstrahlung klingt es eher nach dem Wunsch zu überleben. In Leipzig ist es für sie als „Gruftsohle“, wie sie sich selber nennt, nicht sicher. „Mich wollten sie schon öfter zusammennieten, vor allen Dingen die Rechten eben.“
Filmemacher Andreas Voigt skizziert in seiner Dokumentation „Alles andere zeigt die Zeit„, die im Rahmen der 58. Leipziger Dokumentarfilmwochen im Oktober 2015 vorgestellt wurde, das Leben Dreier Menschen, die mit Ende der DDR vor völlig neuen Herausforderungen und einer ungewissen Zukunft stehen. Er besucht seine Protagonisten kurz nach der Wende, noch einmal Mitte der 90er Jahre und hat sich auch in jüngster Vergangenheit aufgemacht, um herauszufinden was aus Sven, Isabel und Renate geworden ist.
Neben fantastischen und gleichzeitig bedrückenden Aufnahmen der Vergangenheit gelingt Voigt durch seine Herangehensweise ein intimes Stück aus dem Leben der Menschen auszubreiten, das den Zuschauer vermutlich an seinen Vorurteilen packt, durchrüttelt und ratlos zurücklässt. Die Dokumentation zeigt sehr deutlich, dass das Leben immer ein wenig komplexer ist, als man es sich gemeinhin wünscht und das sich Feindbilder und Ängste nicht unbedingt in Schwarz und Weiß einordnen lassen.
Das Video über Isabel, die Gruftsohle aus Leipzig, habe ich aus Teilen der Dokumentationen zusammengeschnitten. Sie zeigen lediglich die Aufnahmen aus den Jahren 1990 und 1996, das vollständige Porträt bleibt dem Film vorbehalten, der neulich beim MDR zu sehen war und auch als DVD erhältlich ist.
Das Video wurde auf Wunsch der Protagonistin gelöscht. Ich habe anstatt dessen den offiziellen Trailer zum Film eingefügt.
Isabel hat Leipzig Anfang der 90er Jahre verlassen, sie hat nicht nur ihren Dialekt abgelegt, sondern auch ihre Prophezeiung von damals in die Tat umzusetzen: „Mir wird nichts anderes übrig bleiben als mein Outfit zu ändern und mich denen eben anzupassen.“ Aus dem sächselnden, verunsicherten Mädchen, das in Connewitz auf Konservendosen schießt, ist eine schwäbelnde Frau geworden, die sportliche Autos mag und sich um die Abwicklung gescheiterter Existenzen kümmert. Und dennoch: Die Gruftsohle 1 von damals bleibt in jeder Faser spürbar, auch wenn das Äußere ihrer Profession gewichen ist und Isabel selbstbewusst und erwachsen wirkt. Ich stelle mir beim erneuten Ansehen immer noch die Frage, ob da nicht etwas im Laufe der Zeit kaputt gegangen ist.
Was war anders für Dich, so aus dem Osten kommend? – Die Einstellung der Leute zueinander ist hald nicht so herzlich. Hier guckt man schon danach, wenn man irgendwas macht, was für eine Gegenleistung bekommt man dafür. Hier ist es nicht so, dass einer irgendwas macht, weil er es hald toll findet, sondern man guckt schon danach, dass man was davon hat. (Isabel 1996)
Einzelnachweise
- Es konnte nicht abschließend geklärt werden, was Isabel tatsächlich sagt. Auch zwei lokal Experten sind sich nicht wirklich sicher. Sollte es jemand besser wissen, werde ich es umgehend korrigieren[↩]
Wizard of Goth – sanft, diplomatisch, optimistisch! Der perfekte Moderator. Außerdem großer “Depeche Mode”-Fan und überzeugter Pikes-Träger. Beschäftigt sich eigentlich mit allen Facetten der schwarzen Szene, mögen sie auch noch so absurd erscheinen. Er interessiert sich für allen Formen von Jugend- und Subkultur. Heiße Eisen sind seine Leidenschaft und als Ideen-Finder hat er immer neue Sachen im Kopf.
Ich habe die DVD schon länger und muß sagen – wirklich ein schöner Rückblick und etwas nostalgisch zugleich.
Schade das es nur sehr wenig Aufnahmen wie diese gibt.
Sehr zu empfehlen !!!
Hallo Robert,
nimm bitte mit mir Kontakt auf.
isabel.jauernig@5zwerge.com
Danke.
Isabel