Unsere Adventsgeschichte leuchtet mit der dritten Kerze. Zeit, wieder etwas über die Autorin zu erfahren. Mirjam ist ein Womo-Grufti, eine Spezies, die ich im vergangenen Jahr besser kennengelernt habe. Das sind Gruftis mit Wohnmobilen, die von Festival zu Festival pilgern und stets ihren Rückzugsraum und ihre Unterkunft dabei haben. Mal bewusst angeschafft, mal von den Eltern geerbt und manchmal todesmutig gemietet. Eine durchaus interessante Alternative zu nassen Zelten, überfüllten Hostels oder überteuerten Hotels. Ich finde das spannend, für Mirjam ist das ein zentraler Bestandteil ihres Szenelebens. Das sie heute mit dem Wohnmobil durch Deutschland reist, Festivals besucht und die Szene unsicher macht, hat sie ihrem Entschluss zu verdanken, mit Gewohnheiten zu brechen. Sie stellt sich ständig selbst in Frage und trug nach einer schwarzen Phase des Kleiderschranks auch bunte Kleidung, um sich nun ganz gezielt als leuchtendes Beispiel die Szene zu infiltrieren:
„Wenn ich jetzt Flohmarktstände und Second-Hand-Läden gezielt nach schwarzen Stücken durchforste, ist dies eine ganz neue, gezielte Hinwendung zum Schwarz. Und ich werde kombinieren. Sowohl als auch. Nichts lässt Buntes so leuchten, wie ein schwarzer Hintergrund und nichts die Schwärze so klar hervortreten, wie ein buntes Umfeld.“ Sie driftet durch ihre Identitäten und spielt mit der Sichtbarmachung aller Aspekte, die in ihr stecken. Das Schreiben und Zeichnen scheinen auch Aspekte dieser Persönlichkeit zu sein, denn Mirjams Sommermärchen geht in eine möglicherweise spannende und interessante dritte Runde.
Kein Sommermärchen für Mirjam (Teil 3)
Danach war ich in einen leichten, unruhigen Schlaf gefallen, der von Traumbruchstücken durchsetzt war. Allesamt fühlten sie sich unvollständig und unbefriedigend an, ohne dass ich mich an sie erinnern konnte. Bis eine ungnädige Stimme mich weckte: „Allgemein wird Schlaf zur Erholung genutzt. Wenn du still lägest, würde sich dieser Effekt womöglich sogar einstellen.“
Oh-ha. Da hatte ich wohl wen wachgewühlt. Wahrscheinlich hätte ich mich gemaßregelt fühlen und mich entschuldigen sollen – immerhin hatte ich schon ein paar Stunden Vorsprung, was das Schlafen anging. Stattdessen war ich froh, dass er mich aus dieser Aneinanderreihung anstrengender Träume gemäkelt hatte und nahm darüberhinaus an, dass er es überstehen würde – so oft, wie er ganze Tage und Nächte wachblieb, konnte das hier nicht so schlimm sein.
Aus einer Anwandlung des Übermutes heraus entgegnete ich: “Du kannst mich ja festhalten“ und spürte kurz darauf voller Vorfreude, wie er diesem Wunsche nachkam, sich zu mir herumdrehte und eine Hand unter meine Decke schob. Unterhalb der Rippen kam sie zu liegen, und ich wollte gerade anfangen, diese Berührung zu genießen, als die Finger seiner Linken sich in die Nackengruben beidseits meiner Wirbelsäule bohrten. Zumindest fühlte es sich so an. Ein Teil von mir wusste, dass er nur die Fingerspitzen dorthin gelegt hatte, aber dies reichte, damit der Kreis sich schloss. Und ich hatte es so gewollt.
Eisige Ketten beugten und banden mich, hielten mich in der Starre unnennbaren Zornes, dem der Ausdruck verwehrt war. Sie bannten mich in dem Moment, in dem mein Schrei dem empfundenen Unrecht Ausdruck verleihen sollte. Statt aller Welt von mir zu künden, wurde er in meiner Kehle gespiegelt, rann an den Ketten, sie damit stärkend herab und versank in dem brodelnden Sumpf, zu dem mein Leib dort geworden war, wo Sifs rechte Hand lag. Ich zuckte zusammen, wollte Luft holen um zu protestieren, da ich meinte, es so nicht gemeint zu haben, doch auch in dieser Richtung war hier Schluss, war meine Kehle etwas, worauf ich keinen Zugriff hatte.
Ich sah ein hohes, schwarzes Tor. Zwei glatte, hölzerne Flügel, die ebenso abweisend unangreifbar wirkten, wie sie fugenlos ineinandergriffen und dem umgebenden grauen Felsmauerwerk eingefügt waren.
Ein herrisches Gefühl wissenden Triumphes ließ mich wissen, dass auch ich hinter diesen Mauern Heimstatt hatte, doch jetzt riss ich mich los, rang aus dem Schlafzimmer stolpernd nach Luft und floh ins Bad, weil ich glaubte, mich übergeben zu müssen.
Dort stand ich dann schwer atmend und mit zitterigen Knien, stützte mich auf den Waschbeckenrand und versuchte mich neu zu sortieren, während ich in den Abfluss starrte und feststellte, dass es ohne Erbrechen gehen würde. Auch gut.
Aufkommenden Zorn auf Sif schob ich beiseite. Das war Quatsch. Ich hatte ihn darum gebeten und das Ganze war schließlich nicht sein Werk, sondern er hatte der Geschichte nur den Weg an die Oberfläche gebahnt. Mir war immer noch übel – nur, dass es nichts gab, was ich hätte auskotzen können. Doof eigentlich. Ich wusch mir Gesicht und Hände mit warmem Wasser ab und ging zurück.
Sif lag mit aufgestütztem Kopf auf der Seite und musterte mich skeptisch, während ich es mir wieder im Bett bequem machte. „Und? War die Flucht erfolgreich?“, wollte er wissen „Hat weglaufen genützt?“ „Ja“, flappte ich zurück „hat es. Ich hab´ zum Beispiel nicht ins Bett gekotzt.“ „In der Tat vorteilhaft.“, gestand er mir zu und ein unterschwelliges Grinsen schlich sich in die Gegend um seine Mundwinkel. „Außerdem“, setzte ich feixend hinzu, als ich diese Reaktion gewahrte, „hab´ ich im Bad die Tür zugehalten – da konnte ich nicht hinterher.“
„Professionell gelöst.“, bestätigte er, um dann, wieder in Ungeduld verfallend, fortzufahren: “ Und wenn du dich jetzt dazu bequemen würdest, dich auf den Rücken zu legen, könnten wir hier weitermachen.“
Ich wühlte mich zurecht und lag erwartungsvoll, wennauch ein wenig bange da. „Mit geschlossenen Augen“, gnarlte es von rechts. Ergeben klappte ich die Augendeckel zu.
Als nächstes spürte ich seine Linke, sich über meine Stirn und Augen breiten, und seine andere Hand bezog rechts, am unteren Rand meines Brustkorbes Stellung. ‚Leber‘, dachte ich noch, als sich ein unerbittlicher Finger in meine Galle bohrte, sodass ich zusammenzuckte.
Mit dem Schmerz, der mich quer durchzuschneiden schien, blitzten Bilder auf.
Viele, die so schnell wieder verblichen, dass ich nichts erkennen konnte, viele, die einander überlagerten, sich ablösten und sich damit einer genauen Betrachtung entzogen, doch allen war gemein, dass sie mir auf entsetzliche Art vertraut waren.
Ja. All dies war ich. Schon immer gewesen, wie es schien. Entsetzlich, allein der schieren Menge wegen, die mich weder an ein Ende, noch mehr auf Gnade hoffen ließ. Bilder von unbeherrschtem Zorn, in welchem ich Untergebene schlage, auspeitschen lasse oder einfach töte, Schüler, die für mangelnden Erfolg bei den aufgetragenen Übungen Qualen leiden, von denen ich mir nicht vorstellen konnte, sie je ersonnen zu haben und die ich voller Genugtuung trinke, mich an ihnen labe und daraus Stärke beziehe.
Alles in dem sicheren Empfinden von Wahrheit. Meiner ganz persönlichen Wahrheit. Meiner Geschichte eines Menschen auf Erden.
Mein Oberbauch verkrampfte sich bretthart und ebenso starr steckte mir ein Würgereiz im Halse fest.
Die Demütigung, den Zorn eines anderen ertragen zu müssen, ohne aufbegehren oder fliehen zu können. Aus der Luft gegriffene Anschuldigungen für Versäumnisse anderer. Die perfiden Vorwürfe eines berechnenden Sadisten, der auf ein Widerwort hofft, um dann seinen Neigungen freien Lauf zu lassen…
Alle Formen des Ausgeliefertseins, die ich je durchlebte, steigen in diesen Bildern in mir auf. Ebenso wie alle Versuche der Sühne. Flagellantenmärsche und Bußexerzitien im härenen Hemd tauchen ebenso auf, wie ganze Leben, die nichts anderem als dem Selbsthass und der Zerstörung aller Lebensfreude gewidmet sind.
‚Und genau da hänge ich jetzt fest. ‘, war der Gedanke, der sich in lähmender Schwere in mir breitmachte.
Relativitätstheorie für Anfänger
Mit einem Ruck zog Sif die Hände von mir ab. „Einstein ist lange genug tot, als dass du dich mit seinen Forschungsergebnissen hättest auseinandersetzen können!“, fauchte er mich an und es dauerte eine Weile, bis ich aus der Verflechtung in Bilder und Gefühle soweit aufgetaucht war, dass ich mich mit dieser Aussage befassen konnte. Allerdings so ergebnislos, dass es mir anzusehen gewesen sein musste. „So ergiebig die Beschäftigung mit seinen Erkenntnissen sein kann, würde es vorderhand vollkommen ausreichen, wenn du dir klarmachen würdest, dass Stillstand, relativ zu einer herrschenden Bewegung einer Abwendung vom Bewegten gleichkommt.“
Ok – Relativitätstheorie für Anfänger. Soweit schon klar und nichts Neues und immer noch stellte sich mir der Bezug zum eben Erlebten nicht dar.
Sif betrachtete mich kopfschüttelnd, schlug die Decke zurück und stand auf. „Stillstand“, ließ er im Hinausgehen über die Schulter fallen, „ist die Flucht der Feiglinge.“
Ich hätte mich ohrfeigen können. Eingelullt in Selbstmitleid, Bequemlichkeit und was auch immer sonst noch, hatte ich es im Gegensatz zu ihm, nicht gemerkt. Vermutlich hatte er auch mit Feigheit Recht. Ja, ich hatte Ausweglosigkeit gespürt. Das war das eine. Und im Anschluss hatte ich gedacht, ich hinge fest. Das war das andere.
Ich hatte es gedacht und damit für mich manifestiert, zu meiner Wahrheit gemacht.
Wohl dem, der gute Lehrer hat.
Dankbarkeit sprudelte aus meinem Herzen und badete mich in Zuversicht. Dankbarkeit ihm begegnet zu sein und jederzeit auf seine eigenwillige, oft schmerzhafte Hilfe rechnen zu können. Dankbarkeit für mein Leben, Dankbarkeit – einfach so, weil sie ist und ich gern in ihr bin.
Ich ging zum Fenster und öffnete es weit. Wann immer ich hier war, nahmen Dinge eine Wendung oder einfach ihren Lauf. Dinge, deren Richtung mir missfiel, Dinge, die ich nicht benennen konnte, die mir nicht greifbar waren und mich dennoch quälten, Dinge, die mir im Weg standen und Dinge, die an meinem Wege lagen.
Lächelnd und mit einem neuerworbenen Unverständnis dafür, vor keiner Viertelstunde noch in den Nebeln gefangen gewesen zu sein, schüttelte ich unsere Decken auf, zog das Laken glatt und lehnte die Kissen an das Kopfbrett. Mit einem nahezu feierlichen Gefühl stieg ich wieder ins Bett, setzte mich gemütlich zugedeckt hin und knautschte mir das Kissen in den Rücken.
Sif kam mit Frühstück zurück. Nicht von der Tageszeit her – es war eher Mittag – aber eben die Mahlzeit nach dem ersten Aufwachen des Tages. Ein Labortablett aus Edelstahl mit zwei Scheiben Brot und zwei Bechergläsern Leitungswasser. Er gab es mir zu halten, während auch er sich setzte und dann übergangslos zu essen begann. Ich trank in kleinen Schlucken und sah ihm zu, wie er systematisch und ohne jedes Anzeichen von Appetit oder Genuss die Bissen zermahlte, die er von seinem Brot nahm.
Oft, und so auch heute, hatte ich den Eindruck, dass er nur aß, weil er irgendeinen Schwur geleistet hatte, es zu tun. Als könnte er ebenso gut damit aufhören, seinen Körper verhungern lassen ohne es zu bemerken und eines Tages, wenn der dann tot liegeblieb, ohne ihn aufstehen und den gewohnten Geschäften nachgehen. Ich kicherte bei der Vorstellung, wie die anderen Mitarbeiter reagieren würden, wenn seine Arbeit sich eines Tages erledigen würde, ohne dass eine Person zu sehen wäre, die sie ausführte.
Sif sah mich an und schob mir das Tablett zu, das bislang in der Mitte gelegen hatte. Ich hatte deutlichen Frühstücksappetit, aber er hatte auch meine Scheibe mit der Wurst belegt. Dünne, harte Scheiben dieses Zeugs, das ich Drachenwurst nannte und von dem ich vorher nie wusste, ob es mir leidlich, gut, oder gar nicht schmecken würde. Meistens vermied ich sie und bestrich meine Brote nur mit Butter. Aber dies hier sah nach einem Essauftrag aus.
Ich überwand den Argwohn, eingedenk der Tatsache, dass auch Vermeidung eine Form von Flucht ist und biss ab. In Jubel wäre ich für den Geschmack nicht ausgebrochen, aber es war schon ok. Die süßliche Moderigkeit, die mich schon so manches Mal hatte würgen lassen, war heute sogar – naja, nicht angenehm, aber irgendwie interessant. Sie schmeckte, als sei dahinter etwas verborgen, für das es sich lohnte sie zu ertragen. Je länger ich auf dem ersten Bissen herumkaute, desto differenzierter wurde der Geschmack. Die Kräuter und Gewürze, von denen außer einer allgemeinen erdigen Schärfe nicht viel zu merken ist, wenn ich es beim Kauen mit dem Zerkleinern bewenden lasse, tauten quasi auf, sie erblühten in fremdartigen Farben und ließen ihre Aromen in meinen Körper übergehen. Ich verfolgte ihre Wege mit meiner Wahrnehmung und als ich einen nächsten Bissen nehmen wollte, stellte ich verwundert fest, dass ich längst aufgegessen hatte.
Belustigt darüber, dass ich mich so im Essen hatte verlieren können, leerte ich mein Glas und stellte es aufs Tablett zurück. Als hätte er nur darauf gewartet, nahm Sif es fort und stellte es auf der Bank an der Wand ab, auf die er seine Kleider zu legen pflegt. „Für eine Fortsetzung“, ließ er mich wissen, „müsstest du dich auf den Bauch drehen.“ Ich sah ihn an und versuchte eine Information darüber zu erhaschen, was er vorhatte, oder mich erwartete. Doch wie üblich in solchen Situationen, war sein Gesicht ausdruckslos leer und die Entscheidung lag allein bei mir. Erpicht war ich nicht auf eine Fortsetzung. Zumindest nicht auf eine Wiederholung, oder Verlängerung des vorhin Erlebten. Aber ‚Fortsetzung‘ konnte eben auch ‚nächstes Kapitel‘ und damit eine Weiterführung und Veränderung bedeuten. Einer solchen Fortsetzung konnte ich sehr wohl zustimmen und ich nickte. Während ich mich in Positur brachte, konnte ich nicht umhin, daran zu denken, was ich, so daliegend, viel lieber mit ihm erleben würde und meine Körperhaltung musste dies auch deutlich zum Ausdruck gebracht haben, denn ich hörte ihn noch ein leises: „Später – Eins nach dem anderen“ raunen, bevor er mir seine Finger in Nacken und Beckengruben legte.
Die schwarze Sonne
Entlang und auch in meiner Wirbelsäule entspann sich ein kribbelndes Flimmern feiner, agiler Lichtfäden, die vibrierend zueinanderfanden, Informationen auszutauschen schienen und eine Anzahl Verzweigungen in meinem Körper ausbildeten, als gälte es, ein weiteres Nervensystem zu installieren. An der Körperoberfläche verzweigten sich die Fasern zu einem dichten Netz, unter dem meine Haut elektrisch zu kribbeln begann und ich spürte Sifs Atem über meinen Rücken strömen. Mein gesamtes Empfinden weitete sich und ich spürte, wie die Fasern entlang der Körperachse, diese verlängerten. So hoch hinauf, wie tief hinab.
Ich Bin
das Öffnen aller Tore
und ihr Durchschreiten
das Wandeln
auf allen Wegen
und der Wandel der Zeiten
Ich griff hinter mich und zog Sifs Rechte, die er mir jetzt widerstandslos überließ, von ihrem Platz weg nach vorne, wo ich sie mir unter dem Nabel auf den Bauch legte und mich daran festhielt.
Ich sah uns auf das Tor zugehen, das ich von vorhin erinnerte. Seite an Seite, in lange schwarze Umhänge gekleidet, schritten wir darauf zu und so ewig verschlossen, wie es sich vorhin gezeigt hatte, so selbstverständlich öffnete es sich nun, als wir uns näherten.
Als ich die Schwelle überschritt und in den Torhof trat, war ich allein. Ich spürte meinen Geliebten in meinem Herzen und dankte ihm dafür, dass er mich so weit begleitet hatte, wie es anging.