Mittelalter für ein Wochenende – Zwischen Fantasy und Living History

Auch 2014 war der „Trend“ Mittelalter ungebrochen. Nicht nur Gothics lieben die Reise in die Vergangenheit, die Besucherzahlen vieler Veranstaltungen sprechen dafür, dass die Faszination für die Vergangenheit auch die übrige Bevölkerung in ihren Bann gezogen hat. Rund 1500 Veranstaltungen in ganz Deutschland hat es im letzten Jahr gegeben, die meisten davon sind jedoch ohne historisch korrekten Charakter. Mittelaltermärkte oder Fantasyspektakel, wie das Spectaculum, haben mit dem tatsächlichen Mittelalter nichts zu tun und sind vielmehr aufwendig inszenierte Feste, die Unterhaltung und Kurzweil bieten. Seit den Fantasy-Filmen über den „Herr der Ringe“ oder Serien wie „Game of Thrones“ erleben wir einen regelrechten Ansturm auf alles, was irgendwie mittelalterlich scheint. Die dunkle Epoche zwischen Antike und Renaissance ist längst zur kommerziellen Alltagsflucht mutiert, das wird auch immer wieder von den Mitglieder der Mittelalterszene kritisiert, die sich um eine möglichst authentische Darstellung des Mittelalters bemühen.

So findet sich unter der Oberfläche bunter Mittelaltermärkte eine lebendige Szene von Enthusiasten, die sich mit Dingen wie Living History, Reenactment oder auch experimenteller Archäologie beschäftigen und nichts unversucht lassen, dem tatsächlichen Leben im Mittelalter ein wenig näher zu kommen. Der Bayrische Rundfunk hat sich mit seiner Sendereihe „Jetzt mal ehrlich“ genau diesem Teil des Trends gewidmet und versucht in der Sendung „Mittelalterboom: Keine Lust Gegenwart“ dieser Szene der authentischen Mittelalter-Fans auf den Grund zu gehen und die Differenzen zwischen Fantasyspektakeln und Mittelalter darzustellen:

Er trägt Kostüm, er schläft auf einem Heusack, er isst mittelalterlichen Frühstücksbrei und lauscht Minneliedern – Rainer Maria Jilg reist ins Mittelalter. Er will wissen: Warum fasziniert uns so sehr eine Zeit, die als düster, kalt und grausam gilt? Dazu reist er mit einem Münchner Mittelalterfan nach Schaffhausen in die Schweiz. Hier messen sich Europas beste Turnierreiter im Lanzenstechen. Und 80 Mittelalterdarsteller aus ganz Europa schlagen für zehn Tage ein Söldnerlager auf – Rainer Maria Jilg mittendrin.
Die Zahl der Mittelaltermärkte geht inzwischen in die Tausende. Mittelalter-Romane stehen regelmäßig auf der Bestseller-Liste. Die Mittelalter-Fantasy-Serie „Game of Thrones“ feiert riesigen Erfolg. Diese Epoche hat in Deutschland seit Jahren Hochkonjunktur. Doch warum? Verklärung einer düsteren Zeit? Flucht vor der Gegenwart? „Das echte, einfache Leben spüren“, sagen viele Mittelalterfans. Rainer Maria Jilg lernt Menschen kennen, die sich das Mittelalter in den Alltag und in die Familie holen. Aber auch, dass mancher Mittelalterfan mit sich und seinem Hobby hadert.

Ich bin tatsächlich ein wenig beeindruckt, wie hier an die Thematik herangegangen wird und wie man es schafft, dem Anspruch aus Unterhaltung und Information gerecht zu werden. Auch wenn ich nicht zur Szene gehöre, halte ich diesen Beitrag für sehr gelungen. Die „jugendliche Frische“ des Moderators gepaart mit den dennoch kritischen Fragen lassen mich nach rund 45 Minuten ein Stückchen schlauer zurück. Jetzt werde ich mich das nächste mal auch darüber echauffieren, wenn ich auf einem Mittelaltermarkt so geschwollen zugetextet werde:

Nichts desto trotz werde ich auch weiterhin den ein oder anderen Mittelaltermarkt besuchen und das Spectaculum am Fühlinger See ist schon fast obligatorisch. Wohlweislich, dass ich hier nicht das Mittelalter kennen lerne, sondern vielmehr einer gewissen ästhetischen Lust nach Vergangenem und Außergewöhnlichem nachgehe. Was tatsächlich gewachsen ist, darf man an dieser Stelle ruhig als Neugier einordnen, denn tatsächlich bin ich schwer angetan von dieser Form der Alltagsflucht und dem Anspruch, etwas historisches auch entsprechend darzustellen. Ich bin mir sicher, dass einige von Euch bereits Erfahrungen auf einem der Gebiete machen konnten, denn – und das zeigt meine Erfahrung – die Begeisterung und thematische Nähe ist in unserer Szene besonders groß. Oder etwas nicht?

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Schatten
Schatten (@guest_50173)
Vor 9 Jahre

Hab mir das Video noch nicht angesehen, wird aber noch nachgeholt bei Gelegenheit.
Aber bezüglich deines letzten Absatzes kann ich nur zustimmen, warum sollte man auch jegliche solche Veranstaltungen meiden? Ich selbst finde, dass in entsprechenden Fällen eine gewisse Authentizität schon angemessen ist, namentlich, wenn es um Historische Darstellungen in diversen Medien oder der Realität geht, aber man kann dennoch auch Spaß an den ganzen Pseudomittelalterlichen Veranstaltungen haben, die erheben schließlich auch nicht den Anspruch in irgendeiner Form die Realität anderer Zeiten darzustellen. Man sollte sie halt auch nicht als mehr sehen, als das, was sie sind: Veranstaltungen für und von Leuten, mit Spaß an freigiebigen Interpretationen des Mittelalters.

Dass der Durchschnittsbürger da herzlich wenig reflektiert und alles für bare Münze nimmt, was dann mit unter zu so Späßen, wie der Einordnung von allem zwischen Antike und ~1820 in die Mittelalterschublade, führt, ist zwar irgendwie bedauerlich, aber kaum änderbar.

Aristides Steele
Aristides Steele (@guest_50174)
Vor 9 Jahre

Auch ich muss das Video noch nachholen, habe aber den Artikel schon gelesen.
Natürlich fühle ich mich bei den „Reenactern“ auch mit angesprochen, auch wenn ich selbst nie im Mittelalter unterwegs war, was das angeht. Es gibt ja nach dem Mittelalter noch ein paar Epochen.
Ich habe mich mehr im 18. Jahrhundert rumgetrieben, da ist der Einzugskreis eben generell kleiner, bzw bei nahezu allen neuzeitlichen Epochen, man könnte sagen, irgendwann kennt man den harten Kern.

Im Grunde genommen gibts das Phänomen das Du, Robert, da schon angesprochen hast, auch in anderen Sparten. Der größere „Einzugskreis“ treibt sich in einem mehr oder minder fantasielastigen Umfeld rum. Meistens ist Halbwissen schuld, und sicher auch ein wenig das „Prinzessinnenphänomen“, denn Kunstfaser-Gewand, maschinengenäht, ist billiger als – wenn man standesmässig in der gleichen Liga spielen will – das handgenähte Seidengewand mit echter Golstickerei und freilich echtem Schmuck. Ausserdem stellt der Adel trotz allem nur eine kleine Bevölkerungsschicht dar, die meisten Hardcore-Reenacter kommen, mit steigendem Wissen in der Materie, immer mehr zu einfacheren Darstellungen. Eben weil nüchtern betrachtet der Großteil so lebte, und nicht im großen Schloß in allem Luxus.

Andererseits bin ich mit ein paar Leuten die im mehr halb-historischen Bereich unterwegs sind, auch befreundet und in manchen Dingen sind die eindeutig entspannter.

Wie der Schatten ja schon schrub – es kommt einfach immer auf den Zweck an. Ein kommerziell veranstalterer Markt kann niemals den Anspruch auf Authentizität erheben. Die richtigen „A“-Veranstaltungen sind meist so organsieriert daß man „Gewandete“ garnicht erst reinlässt, sofern die Veranstaltung für Besucher zugänglich ist. Klingt erstmal gemein, soll aber verhindern daß nicht passende Besucher,von weniger Informierten als völlig authentisch für die dargestellte Zeit und eben selbst als Darsteller wahrgenommen werden. Man will ja ein Bild der damaligen zeit wiedergeben, und daher werden auch die Darsteller meistens entsprechend penibel ausgesucht.
Was anderes sind dann natürlich die Mittelaltermärkte und die barocken Bälle die es mancherorts gibt. Was ,man da als Klamotten sieht ist teilweise – wenn man mit „A“-Blick hinschaut“ die komplette Katastrophe, aber gut, die Leute wollen da in erster Linie Ambiente haben, bisschen was anderes sehen. Ich finde auch nicht daß dagegen was einzuwenden ist, es wäre eben höchstens nicht schlecht wenn der Unterschied zwischen „A“ und Ambiente irgendwie mehr im Hirn mancher Leute wäre. Un dim Gegenzug dürfen manche Hardcore-Reenacter auch etwas entspannter werden.
Ich kenne den Konflikt zwischen beiden Lagern nun seit fast 10 Jahren, und wenn man sich in die Wolle kriegt, dann meistens wegen zwei Dingen – die Ambiente-Leute finden die Reenacter doof, weil die alles so ernst nehmen und – angeblich – allen verbieten wollen irgendwie historisch rumzurennen wenns nicht super – „A“ ist, umgekehrt finden die Reenacter die Ambienteleute blöd weil, wenn man mit Fachwissen aufwartet, wird man angeschnauzt als Besserwisser, obwohl man einfach nur gerne Wissen weitergibt.
Beides ist verallgemeinernd und trifft natürlich nicht grundsätzlich auf alle zu, bzw basiert auf gegenseitigen Vorurteilen. Ich war immer in beiden Lagern unterwegs weil beides seinen Reiz hat. Keine Frage. Ich mag auch Mittelaltermärkte sehr gerne und das hiesige „Festival Mediaval“ ist neben dem WGT mein Lieblingsfestival, eigentlich auch gerade weil es da eher kreativ zugeht und ich die Leut – für fränkische Verhältnisse :P – extrem offen und nett halte.

Stichpunkt Geschwurbel – also ernsthafte Reenacter halten – egal welche Epoche – allgemein nichts davon, auf den veranstaltungen auf denen ich unterwegs war (alles von der Sorte privat und abgeschlossen organisiert), redete man ganz normal und hat sich lediglich am Riemen gerissen, neumodische Erfindungen und allzu flapsige Wendungen zu erwähnen. Ich bin auch das Gelaber nämlich auch immens allergisch.

Alsuna
Alsuna (@guest_50181)
Vor 9 Jahre

Das richtige Mittelalter interessiert mich historisch gesehen sehr…nur von der geschichtlich korrekten Darstellung muss ich eh die Finger lassen…Rollstuhl und gewissen behinderungsbedingten Komfortansprüchen geschuldet.
Mir ist ja auch klar, dass ich im „richtigen“ Mittelalter, krankheitsbedingt, schon sehr früh gestorben wäre.

Deswegen bin ich ein Fan von „mittelalterlichen Fantasyveranstaltungen“, weil dann ist mein Elektro-Gelände-Rollstuhl bzw. mein Elektromobil einfach ein großes, dämonisches Lama, dass mich überall hin trägt..und gut.

Gruftzuckerl
Gruftzuckerl (@guest_50184)
Vor 9 Jahre

Ahhh…. ich hab mich über den Beitrag furchtbar gefreut. Endlich mal eine Reportage, die nicht auf Klischees rumreitet. Und noch mehr hab ich mich gefreut, dass ich einige der Akteure kenne und noch noch viel mehr Bekannte im Hintergrund entdeckt habe.
Ich gehöre ja zu den Spaßbefreiten Reenactern, mit einigen der Leute im Beitrag hab ich selbst schon – kann man das jetzt sagen – zusammengearbeitet.
Was uns – ich sprech jetzt für die A-Fraktion – nervt, sind nicht Kostümsäufer, Fantsyelfen, Gromis oder sonstwas, sonder die, die sich mit ihren Steckstühlen und Leonardo Carbone Klamotten hinstellen und behaupten „Ja so wars“ und den Leuten einen vom Pferd erzählen. DAS macht einen fuchtig. Ich renn ja selbst ab und an in Fantasy-Gruft-Klamotten rum… nur behaupt ich halt dann nicht, das war so und das sei richtig.

Tobi Panic
Tobi Panic (@guest_50202)
Vor 9 Jahre

Das hat zwar gar nichts mit dem Thema zu tun,
aber vielen Dank für die Paranoia. Ich dachte mir wäre ein Aneurysma im Kopf geplatzt als ich es plötzlich schneien sah.

Zum Thema: Das Mittelalter ist ja bekanntlich das dunkle Zeitalter, ob der fehlenden wissenschaftlichen Erleuchtung. Da taugt ein Mittelaltermarkt doch gut, um einer Welt zu entgehen in der nichts mehr geheimnisvoll scheint. Vieles haben wir erforscht, an vielem forschen wir, aber ein richtiges Mysterium gibt es nicht mehr. Das wäre für mich die Motivation beim Mittelaltertrubel mitzumischen.

Aristides Steele
Aristides Steele (@guest_50212)
Vor 9 Jahre

Nun ja, ich – mal von Standpunkt des Wissenschaftlers gesprochen – sehe nicht daß die Grad an Erforschung schuld dafür ist daß nichst mehr „mysteriös“ erscheint, sondern einfach der Zeitgeist, es gibt, zumindest bei uns, viele Leute die heute Religionen und alle Formen von Glauben (auch der mit dem „Aber“ davor) kritisch hinterfragen, und entsprechend auch die Dinge die heutzutage noch unerforscht sind oder zumindest nicht enstprechend von der Wissenschaft komplett entschlüsselt wurden, nicht durch ein Glaubenskonstrukt ersetzen wollen.
Und im Grunde finde ich das auch sehr gut, was passiert wenn sich Menschen, insbesondere kollektiv in anderen Kulturen, auf den Glauben als „einzige Wahrheit“ berufen, sieht man als andere Seite der Medaille auch heute ja noch gut genug.
Wenn man heute meint, das Mittelalter wäre eine Zeit gewesen wo noch viel „Mystik“ vorhanden war, dann sieht man da, nüchtern betrachtet, viel von dem im Grunde menschenfeindlichen Kack der heute noch im Namen des Glauben vor sich geht, wenn man in der Zeit „Mystik“ sucht, sieht man das schon durch eine rosa Fantasy-Brille, und natürlich gehts auch den härtesten Reenactern im Grunde nicht anders, nur vielleicht auf andere rangehensweise, im Prinzip hat das Hobby einen recht wissenschaftlichen Einschlag, durch Recherche und Nachbau.

Und damit zurück zu Roberts Antwort auf meinen ersten Kommentar – könnte eine „Gala Nocturna“ nur mit einem Lager funktionieren? Tut sie im Grunde seit Anfang an. Historisch korrekte Klamottage wirst Du da suchen müssen wie die Nadel im Heuhaufen. Ich hab aber schon festgestellt daß allgemein irgendwie historisch aussehende Klamotten per se als „authentisch“ wahrgenommen werden, wenn man sich nicht weiter auskennt, daher sagte ich ja auch – wer ersnthafter in das Hobby einsteigt, landet mehr und mehr bei einfachen Ständen, je mehr Lametta jemand an sich ranklebt, umso sicherer kannste sein daß das mehr fantasievolle Interpretation ist denn historisch auch nur annähernd korrekt.
Freilich mischen sich auch Leute darunter die Reenactment betreiben, aber dann genauso in einer fantasievollen Neuinterpretation, die A-Klamotten bleiben im Schrank.

Sprich, beide lager mussen sich nicht ausschließen, da geb ich Dir vollkommen recht, oftmals aber scheint der Zwist zwischen beiden künstlich geschaffen, eben auch durch Halbwissen.
Und was das Thema angeht – doch, es stört mich. Und damit meine ich nicht die Tatsache daß eher auf Fantasy ausgelegte Veranstaltungen eben genau das sind – zwanglos, kreativ und mal was anderes als Alltag, sondern da wo ernstgemeinte Wissensvermittlung sein sollte, oder man das vermutet, aber Fantasy drinsteckt. Ich bin jetzt nicht so intensiv in dem Hobby unterwegs wie Gruftzuckerl, kenn aber dennoch genug Geschichten und Begebenheiten auch aus eigener Erfahrung.
Der springende Punkt ist ja genau der auf den Du da jetzt auch reingefallen bist – daß Veranstaltungen die nie auf „Authentizität“ ausgelegt waren, genau das sind – Fantasy und mal ein bisschen Parallelwelt zum Alltag, ich kenne da auch kaum einen Reenacter der da wirklich was dagegen sagt, wenns denn klar ist daß da keine Ambitionen vorhanden sind, etwas korrekt darzustellen, aber das im Gegenzug dennoch immer wieder Sachen als historisch korrekt angepreisenw erden, die es hinten und vorne nicht sind, und da Leute dann falsche Information abspeichern. So eine Darstellung hat auch immer die Komponente der Wissensvermittlung, zB wenn Gruppe in Museen stehen und da am „lebenden Bild“ erklären wie das Alltagsleben ausgesehen hat, und da stören mich Plastikperücken und Polyesterkleider über Reifröcken – als krasses Beispiel – weil das Bullshit ist, aber die leut die das unbedarft sehen, als „so wars“ hinnehmen. Aber das hat Gruftzuckerl ja auch schon selbst ausgeführt – also Sorry für die Wiederholung :) – ich hoffe aber der Unterschied wird da klarer worum es eigentlich geht.

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