Nomen est Omen! Das Wort Gothic steckt voller Überraschungen, im letzten Artikel habe ich zusammengetragen, welche musikalische Bedeutung das Wort hat und wie es von einem rein musikalischen Genre zu einer Bezeichnung für Menschen kam. Jetzt beginnt der spannende Teil des Wortes Gothic, den was in den späten 70ern begann reicht chronologisch nun viel weiter zurück und das Wort erschließt sich nun Bereich der Literatur, filmischen Kunst, Lyrik und Architektur.
Das Siouxsie & The Banshees, Joy Division, Bauhaus, The Cure und die Sisters of Mercy den Begriff Gothic nicht erfunden haben dürfte auf der Hand liegen, auch in musikalischer Hinsicht fand dieses Wort schon vereinzelt Verwendung, so veröffentlichten The Doors 1967 ihr gleichnamiges Debüt, das John Stickney dann Four Doors to the Future: Gothic Rock is their Thing betitelte 1 und damit auf die düster dunkle Stimmung anspielte, die auf dem Album erzeugt wurde. Es wundert daher nicht, das Eingangs erwähnte Gothic-Größen The Doors immer wieder als ihre Inspirations-Quelle nennen.
Doch was hat Gothic mit Düster, Dunkel und Geheimnisvoll zu tun? Im zweiten Teil meiner Artikel-Reihe Die Geschichte eines Wortes beschäftige ich mich mit den illustren Goten, der Gotischen Architektur und den Gothic-Novels, die nicht nur den Term Gothic gemeinsam haben. In einem dritten Teil ziehe ich mein abschließendes Fazit.
Die Goten
Die Goten, ein ostgermanisches Volk mit skandinavischen Wurzeln machte sich im 3. Jahrhundert auf, Europa in Angst und Schrecken zu versetzten. Im Jahre 238 überschritten sie erstmals die Donau und überfielen römische Provinzen, ihr archaisches Auftreten verbreitete bei den kultivierten Römern Angst und Schrecken. Vielleicht fiel hier der Grundstein für die Assoziation mit Dunkel und Brutal, denn so müssen die Goten den Römern vorgekommen sein. Im Mittelalter nutzen die später ebenfalls besiegten Spanier die Goten als Legitimation, die einst besiegte Ländereien zurückzuerobern (Reconquista), die Schweden machten es ein paar Jahre später ähnlich.
Da sich niemand der damaligen Zeit wirklich mit dem Volk der Goten beschäftigte, wird das dunkle, mystische und Unerklärbare in den Köpfen hängen geblieben sein. Man beachte das Bild auf der rechten Seite, das mit seinem Titel Invasion of the Goths into the Roman Empire die visuelle Umsetzung dessen ist, worauf diese Erklärung beruht. Die letzten Länder, die die Goten auf dem Gebiet des Imperium Romanum eingenommen hatte, gingen 711 unter. Was zurückbleibt sind Legenden und Sagen, die letztendlich auch Nährboden für spätere Kulturen waren.
Gotische Architektur
Woher der Zusammenhang zwischen der Architektur und dem ursprünglich skandinavischen Volk liegt ist unbekannt und lässt sich nur vermuten. Die Goten waren berühmt für ihre ausgedehnten Wanderungen durch Europa, konnten aber zu keiner Zeit nennenswerten kulturellen und vor allem architektonischen Einfluss geltend machen. Dazu war schlicht und ergreifend keine Zeit. Eine möglich Erklärung sind italienische Humanisten der Renaissance, die „den Begriff gotisch als Synonym für barbarisch verstanden“ 2 und so „alles was an Kunst zu ihrer Zeit nördlich der Alpen hervorgebracht wurde und von dort her zu ihnen kam, […] in diesem Sinne für sich (als) gotisch“ 2 erachteten. 1140 waren es die Franzosen, die erste gotische Bauwerke errichteten.
Sie kennzeichneten sich durch Spitzbögen, Ornamente und Figuren die auch als Stilelemente in einer Vielzahl von literarischen und filmischen Werken Verwendung fanden, die sich mit dem Phantastischen und Übernatürlichen beschäftigen. Eine Verbindung zur heutigen Vorstellung von Gothic ist naheliegend, da einzelne Elemente aus der gotischen Architektur sich in einer Vielzahl von Formen in der Szene wiederfinden (Schmuck, Make-Up). Musiker und Bands nutzen ihre Möglichkeiten in Form von Inhalt und Auftreten um diese Verbindung zu festigen und verwendeten gotische Bauwerke auf eine Vielzahl von Plattencovern und Musikvideos.
Gothic Novels
Ein ganz anderen Einfluss auf die Bedeutung des Wortes haben die Gothic-Novels, bei denen es sich grob gesagt um romantische Gruselgeschichten handelt, die ab dem 18. Jahrhundert vor allem von britischen Schriftstellern geschrieben wurden. Das Schloss von Otranto von Horace Walpole gilt als erster Vertreter und ist gleichzeitig als Begründer des Genre beschrieben. Es folgten zahlreiche Autoren, die diese Art der Geschichte für sich aufgriffen: Mary Shelley (Frankenstein), Bram Stoker (Dracula), Sheridan LeFanu (Carmilla) und letztendlich auch H.P. Lovecraft mit zahlreichen seiner Werke. In den Gothic Novels werden neben den düster-romantischen Texten auch Elemente für die spätere Szene gelegt. So spielt der Friedhof und die Motive von Gräbern, Gruften und Grabsteinen eine wichtig Rolle. „...das Interesse an allem Alten, Dunklen, Unerklärlichen war stark; man begann in den Winkeln der Welt und des Bewusstseins zu stöbern, die das Licht der Aufklärung nicht hatte erhellen können. Es formte sich eine Strömung in der Dichtung, die man die Graveyard School“ nannte, und in der Tat kreisen diese Werke primär um die Motive von Grab, Gruft und Urne […], um mit vergleichsweise wenig Aufwand existentielle Gefühle hervorzurufen.“ 3
Hier entstehen auch die ersten direkten Verbindungen zum musikalischen Genre Gothic, denn letztendlich sich es die Musiker und Bands die diese Thematik musikalisch aufgreifen und in ihren Texten und Liedern verarbeiten. „Das englische Gothic […] stand damals für Schauer und Düster-Melancholisches. Die seinerzeit neu aufkommenden Horrorroman hießen Gothic Novel. Es gab auch schon Melancholiker, die auf Friedhöfen dichteten (Thomas Gray) und in Beinhäusern herumsaßen, es entstanden Youngs Night Thougts oder Novalis Hymnen der Nacht.“ 4 Später war es dann die Szene selbst, die über Thematik der Lieder wieder Interesse für eben diese Autoren zeigten und der Literatur zu einem neuen Stellenwert verhalfen.
- Gothic – Die Geschichte eines Wortes (1) – Musikalische Geburt und Einfluss der Künstler
- Gothic – Die Geschichte eines Wortes (2) – Die Goten, Architektur und Romane
- Gothic – Die Geschichte eines Wortes (3) – Zusammenfassung, Fazit und Evolution
(Bildquellen: Invasion of the Goths – Wikipedia | coverbrowser.com)
Einzelnachweise
- Four Doors to the Future: Gothic Rock is Their Thing, John Stickney, Williams College News 1967[↩]
- Internetseite Fachwerk.de: Gotische Architektur vom 12. bis 16. Jahrhundert[↩][↩]
- Aus dem Wikipedia-Artikel: Schauerliteratur zur Geschichte der Werke[↩]
- Daniela Tandecki: Nachtsaiten der Musik. Grauzonen und Braunzonen in der schwarzen Musikszene, Konrad Adenauer Stiftung, 2000, S.5[↩]
Der Artikel ist wirklich sehr interessant. Die reine Assoziation mit der Musik oder dem Kleidungsstil gibt es ja ohnehin nur bei uns, da in englischsprachigen Ländern „gothic“ ja ganz normal den gotischen Stil bezeichnet. Daher finde ich es schön, dass die Ursprünge hier auch einmal ausführlich erläutert werden. Gerade die gotische Architektur ist ja in vielen der berühmtesten Bauten zu finden.
@Andi:
Mehr noch, im englischen Sprachraum ist das Adjektiv „gothic“ nach wie vor stark mit der in der Romantik entstandenen Gothic-Kunst (vor allem eben der Literatur) verknüpft. Die Bedeutung scheint zumindest geläufig genug, als dass viele Menschen erst daran denken, bevor irgendwelche Asoziationen zur modernen Subkultur auftauchen.
Man wird also im Rahmen der Szene immer wieder über das Phänomen stolpern, dass diese meist als „Goth“ bezeichnet wird, und dass man z.B. über die historisierende Samtlappenfraktion (der ich selbst mich auch zugehörig fühle) sagt, sie orientiere sich mehr am „originalen viktorianischen Gothic“ – man nimmt also oft eine Unterscheidung vor zwischen „Goth“ und „Gothic“, was ich selbst etwas übertrieben und gekünstelt finde.
Also während meiner Ausbildung ist uns das auch so vermittelt worden, dass der Urspung des Wortes „Gotik“ in der Architektur eigentlich eine Beleidigung war, da diese neue Baukunst vor allem den Italienern nicht geheuer war. Die Gotik war dort ja praktisch das genaue Gegenteil von dem, was man in Italien (und auch woanders) jahrhundertelang zelebrierte.
Anstelle der massiven, kleinfenstrigen, romanischen Bauten, wurden die gotischen Gebäude immer höher und größer und schienen kaum mehr aus Wänden zu bestehen, weil man es durch die Spitzbögen schaffte, sämtliche Gebäudelasten über Streben in den Boden zu leiten und man deswegen keine massiven Wände mehr brauchte. Dazu kamen dann noch die, für Außenstehende, sehr erschreckend wirkenden Ornamente.
Die Gotik hat sich in Italien (meiner Meinung nach) kaum nennenswert durchgesetzt, sondern dort fing man relativ zeitig mit der Renaissance an, wo man (auch ein bisschen als Gegenbewegung) versuchte, sich auf die alten Werte zu berufen. Zu dem Zeitpunkt wurden bei uns die wohl beeindruckendsten Bauwerke der Gotik geschaffen.
Das wollte ich eigentlich nur loswerden :D Ich hör jetzt auf, bevor das in einem Kunstgeschichtsreferat ausartet :-P
@Andi: Ja, die englische Version des gothic ist wieder anders als unsere – Karnstein hat das ja anschaulich ausgeführt. Man ist, so meine Erfahrungen, umgangssprachlich eigentlich nur von Goth, der Terminus Gothic wird selten verwendet.
Karnstein: Samtlappenfraktion :D Historisch anmutenden Goths wurden im Zuge eine Diskussion Victorians and Elizabethans genannt. Aber in England selbst sieht man das nicht so eng.
@Ricarda: Stimmt, diesen Eindruck habe ich auch. Die Italiener fanden den Baustil „barbarisch“ und fanden wohl das alles nördlich der Alpen schrecklich ausgesehen hat. Aber die statisch Gründe für Gotische bauten sind wirklich interessant. Haben auch die damals regional unterschiedlich verfügbaren Materialien eine Rolle gespielt?
Die damals verfügbaren Materialien haben wohl in allen Epochen (bis auf den Barock) eine entscheidende Rolle gespielt und regionale Zweige der jeweiligen Epoche geprägt. Der Dom in Köln (auch wenn er erst 19irgendwas fertiggestellt wurde) ist aus Oberkirchner Sandstein, dieser Stein wir mit dem Alter immer fester. Unsere gotischen Gebäude hier sind aus Grünsandstein. Dieser zerfällt im Alter (das ist aber eine andere, tragische Geschichte) die Bauten in Italien sind größtenteils aus Marmor und in der Deutschen Sondergotik (einem rein deutschen Zweig der Epoche) verwendete man Formziegel, die man, wie bei Lego einfach übereinander stapeln musste.
Ja der statische Hintergrund ist eigentlich der entscheidende und hat das Bild der Gotik maßgeblich geprägt. Rundbögen leiten die Last nach rechts und links weiter und erfordern deswegen je nach Größe und Anzahl der Bögen mehr oder weniger massive dicke Wände, weswegen romanische Bauten immer einen sehr klobigen Eindruck vermitteln. Spitzbögen leiten die Lasten senkrecht nach unten, man braucht also eigentlich lediglich Streben, die dick genug sind, diese Lasten nach unten zu tragen. Alles was zwischen den Bögen befindlich ist, kann man frei gestalten und in der Gotik hat man diese Flächen dann für Glasfenster verwendet. Dieser Höhendrang hatte aber auch noch einen anderen sozialen Effekt auf die Menschen. Diese haben Zuhause meist in kleinen, beengten Räumen gelebt. Betraten sie dann eine gotische Kirche (die ja meist aus diesem einen, riesigen Raum besteht), dann müssen sie überwältigt und beinahe erschlagen gewesen von diesem Raumerlebnis. Das hat praktisch die Ehrfurcht vor Gott und der Kirche weiter bestärkt, denn sie kamen sich vor wie im Paradies. Alles war groß offen und mit buntem Licht durchströmt.
So Kunstgeschichtliche und architektonische Epochen haben die Menschen in allen Lebenslagen beeinflusst. Sie haben ausgedrückt, wie die Leute zu dem Zeitpunkt dachten und auch haben sie das Denken beeinflusst. Das ist das spannende an Geschichte. Man kann kein Ereignis isoliert betrachten sondern kann immer den Zusammenhang herstellen und dann kann man sich super in das Denken der Menschen von damals hineinversetzen.
@Ricarda:
Genau so habe ich das auch mal gelernt, ja. Man empfand vor allem (aber nicht nur) den Baustil des hohen und späten Mittelalters als plump und „barbarisch“, und für sowas verwendete man eben sehr oft die Namen von germanischen Völkern (und macht man ja auch heute noch gerne).
Plötzlich gab es also ein „Mittelalter“, das zwischen der verehrten Antike und der Moderne stand (wo man wieder antike Vorbilder verwendete), und das war „barbarisch“, „teutonisch“ oder „gotisch“.
Übrigens wurde mir gerade in einem englisch-sprachigen Forum vorgeworfen, ich würde immer Gothic und Goth durcheinanderwerden, die beiden Dinge hätten rein garnichts miteinander zu tun.
Ich habe jetzt einfach mal gefragt, ob Martin Hennet, Siouxsie und Ian Astbury den Begriff dann also einfach frei erfunden hätten, ohne sich auf traditionelle Gothic-Kunst zu beziehen – die Atmosphäre bei beiden „Gothic“s ist dann wohl nur zufällig so ähnlich. An den Motiven in Bauhaus‘ „Bela Lugosi’s dead“, Cures „A Forest“ und Siouxsies „Candyman“ habe ich dann mal versucht zu verdeutlichen, wie gothic Goth eigentlich ist.
Aber ich habe das Gefühl, da werde ich letztlich auf Granit beißen…
Ich muss sagen, dass ich bislang noch nie etwas davon gehört habe, dass diese beiden Begriffe verschieden genutzt werden bzw mit verschiedenen Bedeutungen behaftet sind.
Allerdings ist mir die Gothic-Szene außerhalb Deutschlands sowieso ein bisschen suspekt.
@Ricarda: Vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar. Passenderweise habe ich gerade in der ZDF Reihe „Superbauten“ (bescheuerter Titel) einen Reportage über den Kölner Dom verfolgt, der ja eine bewegte Geschichte hat. Ich weiß aber nicht, ob die Bauten von damals unbedingt auf die Menschen dieser Zeit schließen lassen, ich denke, das oftmals solche „Prunkbauten“ auf dem Rücken der Menschen dieser Zeit erbaut wurden und erst durch spätere Generationen entsprechend gewürdigt wurden. Aber gut, vielleicht haben das die Menschen damals wirklich anders gesehen.
Die internationale Gothic-Szene ist in der Tat von Land zu Land verschieden und wird immer wieder anders interpretiert. Die amerikanische unterscheidet sich grundlegend von der britischen und schon recht von der deutschen, die aber einige Ableger in Italien, Frankreich und Spanien getrieben hat, dort aber auch wieder anders interpretiert wird.
Karnstein: Wenn Gothic die Erde wäre, dann bist du mit deiner Vermutung nahe dem Kern. Es wird undurchsichtig, fließend und schwer zu begreifen. Meine Vermutung läuft eher dahingehend, das es nicht die Künstler selber waren, sondern die Presse die die visuellen Eindrücke zusammenzählten. Der Verwendung des Wortes ist dann im beidseitigen Einvernehmen erfolgt und schon Anfang der 80er verstärkten neue Bands dieses Bild in dem sie es aufgriffen und weiterführten.
Dass die Würdigung erst später erfolgte, ist sogar recht sicher. Die meisten Epochen wurden erst rückwirkend zu solchen erklärt. Man erkennt eine Epoche meist erst dann wenn sie abgeschlossen ist und etwas Neues begonnen hat.
Zumal man als Baumeister der Romanik und Gotik sein fertiges Bauwerk nie gesehen hat, da der Bau von Kirchen zB länger als ein Menschenleben dauerte und somit sowieso immer mehrere Generationen in den Bau involviert waren.
Ich glaube schon, dass man von der Architektur auf das Leben und Denken von damals schließen konnte. Denn die Leute damals haben ja nicht nur die Architektur und Kunst geprägt, sondern sich auch von ihr beeinflussen lassen. Viele architektonische Stilmittel sind einzig und allein zur Beeinflussung ihrer Betrachter da gewesen. Meist sollten Macht und Überlegenheit symbolisieren. Heutzutage hat Architektur meiner Einschätzung nach eher den praktischen und funktionellen Charakter, wobei es natürlich viel Virtuoses gibt, mit dem ich mich allerdings nicht anfreunden kann.
Auch wenn mich jeder Architekt jetzt sicher köpfen wird, fand ich, dass allein der Bauhausstil (mit dem ich persönlich wirklich auf Kriegsfuß stehe) unser künstlerischer Untergang war. Aber das ist sicher auch wieder Geschmacksache. Zu irgendwas wird sicher auch Bauhaus gut gewesen sein ;)
Robert: Ohne jeden Zweifel wird es vor allem die Presse gewesen sein, da gebe ich dir völlig recht. Ich finde aber, dass sie das sehr treffend getan hat.
Ich glaube nicht, dass irgendeiner der klassischen Gothic-Künstler sich je groß hingesetzt hat mit dem Ziel „ich will jetzt Gothic schreiben“, aber getan haben sie es dennoch – gewollt oder ungewollt, bewusst oder nicht bewusst. Und mit den Musikern in der New Wave war es wohl einfach ebenso.