Hi, ich bin Flo, ein Grufti aus Bremen, und das hier ist mein erster Artikel bei Spontis, um euch von meiner Reise nach Athen und musikalischen Fundstücken zu erzählen. Vielen lieben Dank an Robert für die Unterstützung beim Veröffentlichen!
Im Februar 2025 habe ich, wohl ziemlich untypisch mit Schal und Mütze, eine Woche in Athen verbracht. Die griechische Underground-Szene hatte mich schon lange neugierig gemacht und ehrlich gesagt hätte es keinen besseren Monat geben können, um dort Zeit zu verbringen. Die Orte der Antike, wie etwa die Akropolis, waren nicht total überrannt und 35°C und mehr taugen mir im Sommer eh nicht.
Erst diesen Winter, im November 2024, erschien bei Geheimnis Records mit “Path to Nowhere“ eine schöne Compilation von aktuellen griechischen synth/wave Bands, die sich hauptsächlich während oder nach den Covid-19 Lockdowns formiert haben. Geheimnis Music Productions wurde 2010 von Panos Dread gegründet und bietet stets spannende Veröffentlichungen. Schlendern wir also durch das winterliche Athen und werfen einen Blick auf zeitgenössische, aber auch auf ältere musikalische Geheimnisse aus dem Land der Philosophen, der großen Denker und der Demokratie.
Wo soll ich anfangen? Es gibt unglaublich viel zu entdecken! Die im Athener Fabrika-Label beheimatete Band Selofan ist den meisten sicherlich ein Begriff und bedarf keiner erneuten Vorstellung. Zusammen mit den anderen beiden Duos She Past Away und Lebanon Hanover sind sie fester Bestandteil der Szene weit über Griechenland hinaus. Spannend ist daher ein Besuch in der Athener Selofan Bar (Σελοφάν Μπαρ), in der auch regelmäßig passende Musik gespielt wird (danke für den Tipp an Chloé von Persona Grata).
Die von mir meistgehörteste Band aus Griechenland ist wahrscheinlich ΟΔΟΣ 55 (ODOS 55) mit dem Track Αττική Βικτώρια (Attiki Victoria). Passenderweise war ich dank meinem Kumpel Timon sogar in der Nähe der Victoria Station untergebracht und konnte den dystopisch programmierten Sound der 2010 in Athen gegründeten Band in der Metro auf mich wirken lassen.
Leider sind ΟΔΟΣ 55 nicht mehr aktiv und lassen sich auch nicht auf einen Repress ihres gleichnamigen Albums ein. Immerhin konnte ich die 7 Inch ausfindig machen, womit wir auch schon bei meinem nächsten Reisetipp wären:
Im eher hippen Stadtteil Kypseli befindet sich Stellage, ein Vinyl-Store und ein Ort für Live-Performances. Zur Zeit gibt es dort einmal pro Woche einen Performance Abend und als ich dort war, gab es Experimental Noise von Nihilist Ambush, Lorenzo Abattoir und Sister Overdrive. Shop-Inhaber Dimitris Papadatos aka Jay Glass Dubs kennt sich bestens in der Athener Szene aus und wusste auch direkt, wie mir mit meinem Wunsch nach einer ΟΔΟΣ 55 Platte geholfen werden konnte. Es macht einfach Spaß, Plattenläden von und für die Szene zu besuchen.
Beim Auftreiben einer Platte der nächsten Band hatte ich leider kein Glück und vielleicht hätte es dazu einen Exkurs nach Thessaloniki gebraucht, wo das Minimal-Synth-Projekt Regressverbot bekannt geworden ist. Besonders “Kids of December” hat Charme. Leider hat es seit 2020 nichts Neues gegeben und mit dem Umzug von Pantelis Theodoridis nach Athen ist er nun als Athens Computer Underground unterwegs und hat seinen Stil nun eher im Drum and Base gefunden.
Wenn wir schon dabei sind wild die Orte zu wechseln: Night in Athens ist das Soloprojekt der in London lebenden griechischen Solo-Künstlerin Tina Boleti. Der Titel “Metropolis” findet sich auch auf der eingangs erwähnten Geheimnis Records Compilation. Als Besucher des Grauzone Festivals 2025 in Den Haag hatte man das Glück, Night in Athens live sehen zu können und ich möchte auch ihr neuestes Album “Wasted Reflektions” empfehlen. Vor allem ihre melancholischen Vokals bei “Words Unspoken” haben es mir angetan.
Athen Exarchia
Kommen wir zurück nach Athen und vor allem ins Exarchia Viertel, in dem die alternative Szene zuhause ist und das als Zentrum von anarchistischen Autonomen gilt. Plakatierte und mit Graffiti bemalte Häuserwände prägen hier das Straßenbild. Im November 1973 begann hier der Aufstand an der Polytechnio Universität gegen die Herrschaft der Militärjunta, der nach einigen Tagen blutig niedergeschlagen wurde. Bei Ausschreitungen im Jahre 2008 starb der 15-jährige Alexandros Grigoropoulos durch den Schuss eines Polizisten. Noch heute finden dazu jährlich Gedenkdemonstrationen statt.
Mittlerweile hat Exarchia aber auch von vielen Reisemagazinen den Status erlangt, eines der coolsten Viertel der Welt zu sein und daher ist die Hochburg anarchistischer Bewegungen heute auch ein touristischer Hotspot. Proteste gegenüber Airbnb-Wohnungen sind nicht zu übersehen und auch der Bau einer U-Bahn-Station auf dem zentralen Platz von Exarchia stößt auf Widerstand.
Ich finde, dass es sich in diesem rebellischen Viertel trotz vermehrten Tourismus wunderbar leben lässt und die zahlreichen Bars, Cafés und Bücherläden eine kulturelle Vielfalt bieten, die Athen wirklich besonders lebenswert machen.
Von hier lohnt sich zudem ein Spaziergang auf den Strefi-Hügel, um einen guten Ausblick auf das weit ausgedehnte Athen zu bekommen.

In Exarchia befindet sich auch Le Disque Noir, ein weiterer Plattenladen, den ich hier besonders hervorheben möchte, da ich mich wirklich gut austauschen konnte und mir einige Schätze sogar aus dem Keller geholt worden sind. Darunter eine signierte Platte der 1985 gegründeten Band ΣΥΝΘΕΤΙΚΟΙ (Synthetiki). Ich habe nicht allzu viel herausfinden können, allerdings wurde wohl 2023 beim Thessaloniki Film Festival sogar eine Dokumentation über die Band vorgestellt. Bei mubi ist der Film nicht mehr verfügbar, vielleicht hat jemand von euch ja einen Hinweis für mich.
In einem Interview von 2018 erzählt Synthetiki, wer in “Stavros Kosma Petris” gemeint ist. Es sei der Name eines Aussteigers, den es auf eine Insel zieht, um nicht länger den Bedürfnissen der Gesellschaft gerecht werden zu müssen. Schließlich hielt er es aber nicht mehr in der Isolation aus und begann eines Wintermorgens Selbstmord. Diese Legende wurde der Band 1991 von einem Cafébesitzer in Drapetsona erzählt. Daraufhin gingen Synthetiki sofort in ihr nahegelegenes Studio und haben in nur einem Tag zuerst den Text geschrieben und dann die Musik. Seht und hört selbst:
Erster Athener Friedhof

Ich wäre natürlich kein Klischee-Grufti, wenn ich nicht noch über Friedhöfe reden würde. Neben der Akropolis und anderen antiken Bauwerken sind nämlich auch die Friedhöfe Athens sehenswert. Timon und ich haben uns den Ersten Athener Friedhof angeguckt und haben viele Katzen und noch mehr Marmor gesehen. So viel Marmor, dass neben uns auch regelmäßig Student*innen der Bildhauerei dort zu finden sind.
Der Bildhauer Giannoulis Chalepas hat eine besonders sehenswerte Skulptur “Die Schlafende” in Form der liegenden Sofia Afendaki hinterlassen, die wie viele Skulpturen auf dem Friedhof vom Klassizismus des Antonio Canova beeinflusst sind.
Disko-Terrorista im Gagarin Club
Zum Abschluss meiner Woche in Athen erwartete uns im Gagarin Club noch ein kuratierter Abend vom Jung-Vampir Eddie Dark, der mit Disko-Terrorista im November 2024 ein Album veröffentlicht hat in dem er all seine Wut gegen Athen, die griechische alternative Musikszene, enttäuschte Liebe, Bars & Partys, und vor allem gegen sich selbst heraus lässt. Das ist schon deutlich mehr EBM als noch bei seinen Debüt und da ich gerade sehr verliebt in Athen bin, bleibe ich eher Fan von seinen früheren Stücken “Plastiko” oder “Λουλούδια”. Das Publikum konnte Eddie Dark aber vollumfänglich für sich begeistern, auch durch seine starke Bühnenshow; die Stimmung war wirklich sehr ekstatisch.
Zum Line-Up zählten an diesem Abend außerdem Blakaut, Dancing Plague und Kalte Nacht, die ich alle sehr empfehlen kann. Besonders Nychta Skia von Kalte Nacht gefällt mir richtig gut und ich freue mich schon, wenn ich sie im Sommer live auf dem Prague Gothic Treffen wieder sehen kann.
In Trance 95
Neben ΟΔΟΣ 55 ist mein absoluter Favorit aus Griechenland In Trance 95. Gegründet im Mai 1988 von den damals 18-jährigen Alex Machairas und Nik Veliotis, die sich zufällig auf einem Konzert von Blaine L. Reininger getroffen haben. Bis 1992 veröffentlichten sie die 7inch “Desire to Desire/Brazilia” und die LP “Code Of Obsession”. Dann war es lange still geworden, aber wie bei so vielen obskuren elektronischen Bands der 70er und 80er ist es Veronica Vasicka vom Minimal Wave Label zu verdanken, dass es 2011 zu dem remastered Album “Cities of Steel And Neon” gekommen ist und In Trance 95 wieder ausgegraben wurde. Im Dezember 2024 waren In Trance 95 dann sogar als Trio mit Doric live auf der Bühne des Ombra Festivals in Barcelona.
Dokumentationsfilme von Nikos Chantzis
Richtig toll ist, dass sich der Videograf und DJ Nikos Chantzis der griechischen Underground-Szene widmet und neben Musikvideos für griechische Bands wie Doric, Incirrina, Kalte Nacht, oder Paradox Obscur bisher schon zwei Dokumentationsfilme produziert hat. Seinen ersten Film “Music For Ordinary Life Machines” (2019) stellt er mittlerweile sogar auf YouTube frei zur Verfügung. Ein echtes Juwel griechischer Minimal Synth & Synth Punk Geschichte in der wir auch die von mir bereits angesprochenen Bands Οdos 55, Blakaut, In Trance 95, Kalte Nacht, Regressverbot, Selofan und viele weitere wieder finden.
Leider habe ich zu spät gesehen, dass Nikos Chantzis Ende März 2025 im Babylon Berlin seinen zweiten Film “Return of the Creeps” als Teil des dort stattfindenden Greek Film Festival zeigen wird. Die beiden Vorstellungen sind leider bereits ausverkauft. Chantzis reist hier zurück in das Athen von 1982, wo irgendwo zwischen den Stadtteilen Kypseli, Patisia und Exarchia das unabhängige Plattenlabel Creep Records geboren wurde. In den vier Jahren seines Bestehens hatte Creep Records einige der wichtigsten Bands der griechischen New-Wave-, Post-Punk- und Dark-Wave-Szene im Programm. Neben den persönlichen Erzählungen des Gründers von Creep Records, Babis Dallidis, kommen in dem Film auch Mitglieder der Bands zu Wort, die mit dem Label aufnahmen. Hoffentlich wird der Film auch noch an anderer Stelle zu sehen sein! Den Trailer findet ihr auf YouTube.
Diskografie
Ich bin mittlerweile wieder zuhause in Bremen, aber ich hinterlasse euch hier nochmal chronologisch zum Stöbern eine Liste der Bands, die mir aufgefallen sind und die mich auf meiner Athen-Reise begleitet haben. Zum Reinhören habe ich einen Mix auf Mixcloud hochgeladen. Schreibt mir gern in die Kommentare, was mir unbedingt noch so aus Griechenland fehlt! Es wäre schön mal wieder Musik zusammen zu sammeln statt das ständig den Empfehlungsalgorithmen zu überlassen.
- Κλόουν (Clown, Athen, 1981)
- Lena Platonos (Athen, 1981)
- Metro Decay (Athen, 1981)
- Statues In Motion (Athen, 1981)
- Χωρίς Περιδέραιο (Choris Perideraio, 1982)
- Alive She Died (Athen, 1984)
- Αρνάκια (Arnakia, 1984)
- ΣΥΝΘΕΤΙΚΟΙ (Synthetiki, Piraeus, 1985)
- Fear Condition (Thessaloniki, 1986)
- In Trance 95 (Athen, 1988)
- ΟΔΟΣ 55 (ODOS 55, Athen, 2010)
- Selofan (Athen, 2012)
- Strawberry Pills (Athen, 2012)
- Doric (Athen, 2013)
- Regressverbot (Thessaloniki, 2016)
- Blakaut (Athen, 2017)
- Convex Model (Thessaloniki, 2017)
- Data Fragments (Athen, 2017)
- Grey Gallows (Patra, 2017)
- Ηχοτοπία (Hxotopia, Athen, 2017)
- Incirrina (Athen, 2017)
- Kalte Nacht (Athen, 2017)
- The Man & His Failures (Athen, 2018)
- Dramachine (Athen, 2019)
- Radio Sect (Athen, 2019)
- The Black Comedies (Thessaloniki, 2021)
- Night In Athens (Athen/London, 2021)
- Eddie Dark (Athen, 2022)
Labels: Creep Records, Fabrika, Geheimnis, Werkstatt, uvm.
P.S. Das Death Disco Athens Open Air Festival findet jährlich statt, dieses Jahr am 20. + 21. September 2025. Vielleicht seid ihr ja nun inspiriert nach Athen zu reisen. Jásas!
Grufti aus Bremen.
Ein sehr interessanter Artikel, werde die genannten Bands auf jeden Fall mal akustisch unter die Lupe nehmen (Kalte Nacht und Incirrina, Grey Gallows und Selofan kenne ich bereits). Synthwave mag ich sehr!
„Night In Athens“ sind auch nicht schlecht! Die hatte mir YouTube vor einer ganzen Weile Mal vorgeschlagen. Und wenn ich das gerade richtig auf dem Schirm habe, spielen die sogar dieses Jahr auf dem WGT! 😉
https://youtu.be/0C5ERltif4U?si=x9OrCgtQ8X5Tn5Sw
Hmmm…die hatten mir beim Durchhören der WGT-Liste irgendwie nicht so zugesagt…. weiß nicht mehr, woran es lag, aber ich hatte sie bei mir in der Liste durchgestrichen.
Wunderbarer Bericht, danz herzlichen Dank dafür! War letztes Jahr auch zwei Wochen in Athen, bin an Disque noir vorbei usw. Das ist eine Musik-Szene, die hier in D kaum wahrgenommen wird. Ich denke, ich werde mir mal einige der von dir genannten Acts anhören.
Dankeschön fürs Mitnehmen auf diese interessante Reise in die griechische Musikszene. Davon war ehrlich gesagt bis Selofan noch nicht viel zu mir durchgedrungen. Umso eindrücklicher gleich der düstere Einstieg mit ODOS 55. Krass auch der Experimental Noiseabend. Auf „Nights in Athens“ bin ich auch beim Reinhören ins WGT Line-up gestoßen. „Words unspoken“ hat mich da gleich sehr positiv eingenommen.
Insgesamt eine sehr vielseitige Szene. Schön, durch diesen umfangreichen Bericht einen Einblick erhalten zu haben!