Gothic ist der unumstößliche Oberbegriff unserer Subkultur. Ein schwarzer Regenschirm, unter dem sich viele kleinere Szenen versammeln, um gemeinsam in eine andere Welt zu tauchen. Vielen ist der Begriff mittlerweile ein Dorn im Auge, weil er ebenfalls für die Kommerzialisierung einer Subkultur steht, trotzdem bleibt es das Label, dem wir uns unterordnen lassen müssen.
Eigentlich kennzeichnet dieses Wort in der Form Gotik einen Baustil alter Gemäuer die in der relativ kurzen Epoche von 1150 bis 1500 hauptsächlich Kirchen geprägt hat. Der Kölner Dom ist zum Beispiel so ein gotischer Bau. Das der Begriff Gothic mit Baustilen dieser Zeit zu tun hat, bezweifele ich doch sehr stark. Den Ursprung hat dieses Wort im italienischen gotico das so viel wie fremdartig und barbarisch bedeutet und von einem Kunsttheoretiker Namens Giorgio Vasari als Schimpfwort missbraucht wurde, um seinerzeit seine Geringschätzung für Bauten in diesem Stil zu äußern.
Fremdartig charakterisiert die Gothic Szene schon mal ganz gut aber barbarisch? Nein, das ist Unsinn genau wie die 1000 anderen Gerüchte die diesem Begriff hinterhergeistern. Neben vielen anderen Schriftstellern schrieb auch Edgar Allan Poe Schauerromane, die im englischen als Gothic Novel bezeichnet wurden und damit ein Genre für Romane bezeichnen. Da kommen wir der Sache natürlich schon näher, so könnte man den Kleidungsstil und die eventuelle Verwendung von weißer und schwarzer Schminke in die Kategorie schauerlich einordnen.
Die eigentliche Bedeutung der heutigen Verwendung dieses Wortes verdankt es aber der Musik, denn wie die meisten Subkulturen identifizieren sich die meisten Menschen über die Musik. Im Januar 1978 benannte sich die Band Warsaw in Joy Division um. Auf die Frage eines BBC Reporters, welche Stilrichtung Joy Division denn bedienen würde, antwortete der Manager A. Wilson dann „gothic music“. Vermutlich war Wilson begeisterter Leser von Edgar Allen Poe. So kam es dann, dass Joy Divsion die erste Gothic Band waren.
Die Jugend ende der 70er Jahre, brannte sowieso wie die zu kurze Zündschnur einer Dynamitstange, witterten doch viele eine musikalische Revolution die die Punk-Bewegung auslöste. Anfang der 80er war dann die europäische Musiklandschaft eine brodelnder Fluss aus Lava in dem unablässig neue Musikstile und Spielarten emporragten.
Musik von The Cure, Christian Death und Bauhaus setzten sich von der schnellen und lauten Punkmusik ab und spielten melancholisch und düster klingende Stücke, die zusammen mit Ihren hauptsächlich schwarzen Outfits Stilprägend waren.
Nachdem Punk auch nur ein Oberbegriff für viele Gruppierungen innerhalb dieser Szene ist, so ist es bei Gothic ähnlich. Am deutlichsten wird das, wenn man typische Szene Clubs oder Veranstaltungen besucht. Prinzipiell beherbergen diese Veranstaltungen die gesamte Bandbreite der schwarzen Musik. Neben Gothic und Gothic-Rock wird dort auch Industrial, EBM, Electro, Wave, Synthpop und mittelalterliche Musik gespielt. Um einen möglichst breiten Teil der schwarzen Musik anzusprechen, greifen die meisten Veranstaltungen und Festivals die oben genannten Musikrichtungen auf und bringen diese unter einen Hut. Genauso wie beim Musikgeschmack zählt auch bei den Klamotten der Individualismus und die Abgrenzung von den Normalos. Jede Musikrichtung hat dabei ihren eigenen Kleidungsstil, oder anders gesagt, zeig mir was du trägst und ich sag Dir was du hörst.
Weltanschauung, und wie die Welt uns anschaut
Es gibt keine allgemeinverbindliche Weltanschauung der Gothic Szene. Bis auf ein paar unrühmliche Ausnahmen distanzieren sich die meisten Gothics strikt von Satanismus und Rechtsradikalismus. Im Gegensatz zu vielen Gerüchten sind die meisten friedlich und haben auch mit den Linkradikalen wenig am Hut, Gothics sind eher pazifistisch eingestellt und nicht gewaltbereit.
Die Vorliebe für religiöse Symbole führt bei den meisten Mitmenschen zu der Vermutung, wir würden dem Satanismus fröhnen, so denken die meisten doch beim (umgedrehten) Pentagramm an den Teufel, obwohl es als solches damit nichts zu tun hat und in früheren Religionen eher ein Symbol für Heilung war.
Wir mögen Friedhöfe, vereinen sie doch Einsamkeit und Ruhe und sind Nährboden für jede christliche und nicht-christliche Mythologie. Jedoch behandeln wir die Gedenkstätten der Verstorbenen mit Respekt und nur die verkorkste Sichtweise der breiten Masse, wir wären alle Satanisten führt zu der sonderbaren Annahme, wir würden unsere eigenen Rückzugsgebiete schänden und entweihen. Das die Leidenschaft für mystisches und melancholisches jetzt gleich mit depressiver und pessimistischer Grundstimmung oder gar Todessehnsucht zu verbinden liegt mir Fern und obendrein halte ich das persönlich für Quatsch. Tod und Trauer sind kreative Quellen und die Auseinandersetzung damit heißt nicht gleich, das wir allen bald sterben möchten. Wahr ist jedoch, dass viele sich in ihrer eigenen dunklen Welt verfangen und dann soziale Kontakte meiden und den „bürgerlichen Anforderungen“ des Lebens nicht mehr gewachsen sind.
Eigentlich formen wir unsere ganz eigene individuelle Sichtweise der Dinge und erweitern dabei den Horizont gerne durch Elemente aus Okkultismus, Esoterik und Symbolik sowie Sichtweisen aus dem Nihilismus und Atheismus. Im Klartext: Wir glauben an das, was wir selbst für richtig halten und beugen uns dabei keinen gesellschaftlichen oder religiösen Zwängen. Für die meisten Gothics oder für die, die sich dafür halten, ist aber die Musik und die optische Abgrenzung vom Mainstream Grund genug sich für einen solchen zu halten.
Das äußere Erscheinungsbild spielt bei den meisten ein wichtige Rolle. Die bewusste Provokation und die Abgrenzung von unserer Konsumorientierten Spaßgesellschaft stehen dabei im Vordergrund. Schwarz ist bestimmende Farbe für die Kleidung der Gothics. Eine gewisse Affinität für Körperschmuck, Piercings oder Make-up darf uns gerne zugesprochen werden. Wie Goethe schon sagte: „Nur Kinder und einfache Leute mögen lebhafte Farben.“
Gothic in Deutschland
Wie viele Gothic Anhänger es in Deutschland gibt, kann man schwer sagen. Besucherzahlen einschlägiger Festivals oder des Wave-Gotik-Treffens (WGT) geben nur schwerlich Aufschluss darüber, werden sie doch auch von vielen Gästen aus dem europäischen Ausland besucht. Beim diesjährigen WGT zählten Veranstalter und Polizei etwa 20.000 Besucher. Nimmt man die Verbreitung der einschlägigen Zeitschriften Orkus, Sonic Seducer und Zillo unter die Lupe, würde ich mich bei etwa 200.000 Anhängern einpendeln, zählt man die ganze Untergruppierungen mit. Ordnet man die Clubs geographisch ein, so wird eine Konzentration im Ruhrgebiet, im nördlichen Bayern und in den Ballungszentren deutlich.
Durch die Möglichkeiten des Internets bietet sich vielen Anhänger erstmals die Möglichkeit sich zu organisieren und informieren, große Communitys zählen über 20.000 Mitglieder. (German Gothic Board) Es gibt einige Clubs, die schwarze Veranstaltungen in Ihr Programm aufgenommen haben. Reine Gothic Clubs sind eher selten und hauptsächlich in den Metropolen zu finden.
Quellen und weiterführenden Links:
- Der Religionswissenschaftliche Medien und Informationsdienst e.V. bietet auf seiner Internetseite Remind interessantes über die Subkultur Gothic. Auf der Seite Gothic Info von Philipp Kiszka findet man außerdem noch viel mehr Informationen, auch wenn diese ein bisschen Überarbeitung gebrauchen könnten. Die TU Dortmund hat zusammen mit MTV Networks die Seiten Jugendszenen ins Leben gerufen, die eine Fülle an Informationen bietet.
- Stichwort lesen. Es gibt einige (teilweise auch fragliche) Literatur über die Subkulturen oder über Gothic. Die Werke von Klaus Farin, Generation Kick.de und Die Gothics zählen zu den besseren Vertretern. Außerdem hat Dieter Baacke mit Jugend und Jugendkulturen ein schönes Werk fabriziert. Außerdem findet man zu fast allen Begriffen bei Wikipedia lesenswertes.
- In eigener Sache: Bei flickr habe ich Aufnahmen von einem der schönsten Friedhöfe Londons, dem Highgate Cemetery abgelegt.
Warum bemerke ich diesen Beitrag denn erst jetzt? ^^
Lustigerweise habe ich dieses Semester ein Anglistik-Seminar „The Gothic Tradition“, in welchem es genau um die fast 300-jährige Geschichte des Gothic geht. Gelesen habe ich selbst schon viel darüber, aber es von einer Dozentin vermittelt zu bekommen ist dann doch nochmal etwas ganz anderes.
Jedenfalls glaube ich nicht, dass Wilsons Bezeichnung von Joy Division als „dance music with gothic overtones“ irgendein konkreter Bezug zu Poe zu Grunde liegt. Einige Engländer mit einem auf Mittelalter, Mystik und Düsternis aufbauenden Ästhetikempfinden benutzten schon im 18. Jahrhundert das Adjektiv „gothic“ für diese Ausprägung, sich des von dir erwähnte negativen Beigeschmacks sicherlich völlig bewusst. Horace Walpole hat Gothic dann zu einer düsteren Strömung in der romantischen Literatur ausgeprägt und damit ein umfangreiches Genre geprägt.
Sicherlich ist Poe herausragend (ich liebe seine Gothic-Werke, die meisten anderen seiner Texte lassen mich dagegen meist erstaunlich kalt) und bahnbrechend in seinen Neuerungen in der Gothicliteratur, aber er stand bereits in einer gewissen Tradition, und ihm folgte der viktorianische Gothic, der sich auch vermehrt in der Malerei manifestierte.
Im 20. Jahrhundert war es dann vor allem das neue Medium Film, dass weiterhin Gothic verarbeitete (der Horrorfilm. Max Schreck, Bela Lugosi, Boris Karloff, Christopher Lee, Vincent Price,…), aber auch entsprechende Literatur und Malerei gab und gibt es noch immer, und (und jetzt komme ich zum Punkt ^^), im Englischen nennt man das bis heute „gothic“ (also primär als Adjektiv).
Wenn Timothy Spall den „Sweeney Todd“-Film als „gothic opera“ bezeichnet, und Poppy Z. Brite auch in den 1990ern „gothic novels“ schreibt, dann ist damit genau das gemeint (nicht Poe, und nicht die Szene).
Es ist ein Adjektiv, bzw. die Bezeichnung für ein großes Feld an künstlerischen Ausdrucksformen, und dies hat Ende der 1970er eben zum ersten mal so richtig die künstlerische Disziplin der Musik erfasst.
Der Begriff mag in diesem Kontext das erste mal bei Joy Division gefallen sein, aber ich denke, z.B. Bauhaus und Siouxsie werden schon bewusst alte Gothic-Elemente aufgegriffen haben. „Bela Lugosi’s dead“ etwa strotzt nur so davon, und Siouxsies „Candyman“ greift die Erzählpraxis auf, aus der Sicht des Übeltäters über ein grenzwertiges düsteres Thema zu berichten (was zugegebenermaßen erstmals bei Poe auftauchte, glaube ich ^^).
Dass sich daraus dann eine Subkultur entwickelte, die teils nicht viel mit „Gothic“ im strengeren Sinne zu tun, ist ein ganz anderes Thema ^^ Wenn man sich aber anschaut, dass z.B. ein großer Teil der Anhänger der Szene die gleiche Art von Film und Literatur bevorzugt, dann erscheint einem der Begriff „Gothic“ doch eigentlich wieder recht angemessen, auch wenn man gänzlich unterschiedlichen Kleidungs- und Musikgeschmack haben mag.
Oh Gott, und ich wollte mich doch kurz fassen…
Hihi, soo kurz war es nicht.
Ich denke, daß der Begriff „Gothic“ sich zu einem mehr oder weniger eigenständigen Dings entwickelt hat, das auch zunehmend unter gewissen Nicht-abgrenzungen leidet. Unter anderem in den Medien.
@Vizioon: Gothic ist meiner Meinung nach zu einem Oberbegriff verkommen und definiert nicht mehr allein eine Szene sondern eine ganze Maschinerie aus Kleidung, Musik, Outfit, Kommerz und Vermarktung. Deswegen kann ich den Wunsch nach Abgrenzung nur unterstreichen. „Zurück in die Dunkelheit“ wäre vielleicht eine treffende Formulierung.
Man darf natürlich nicht vergessen das Gothic zwar populär geworden ist und für viele nur einen „Trend“ darstellt, aber dennoch auch über diesen Einstieg viel kreativer Nachwuchs in die Szene kommt, der für das Fortbestehen der eigenen Ideale unerlässlich erscheint.
Kreativer Nachwuchs: Junge Menschen die Gefallen an der Szene finden ohne sich dabei auf das konsumieren zu versteifen, sondern hinterfragen und aufnehmen um dann etwas zurückzugeben, Impulse setzen, Meinungen in Frage stellen und Energie darauf verwenden beispielsweise Musik zu machen. Der kreative Nachwuchs sorgt immer noch für neuen Szenen innerhalb der Szenen, mischt Stile und erfindet sich neu. Nicht alles müssen wir gut finden, aber ohne einen gewissen Nachwuchs würde die Goth-Szene irgendwann aussterben und sich selbst überholen. Wenn es zwischen 100 unkreativen, unmotivierten und rein konsumierenden Jugendlichen auch nur einen gibt, der aktiv mitgestalten möchte, ist das schon eine Bereicherung.