Was machen eigentlich zwei düstere Europäer, die nach Shanghai gezogen sind und dort keine „Szene“ finden? Ist doch ganz einfach, sie gründen selber eine. Vor einer Weile stieß ich auf die Seite Gothic-Shanghai, die in Chinas pulsierender Metropole schwarze Parties und andere Events organisiert. Für mich stand fest, dass ich die beiden Köpfe hinter dieser Idee unbedingt kennenlernen muss. Janina (26) stammt aus Hessen und organisiert die Veranstaltungen und pflegt die Internetseite, während ihr Ehemann Nikita (26), der in Russland geboren ist, als DJ die Ohren der Zuhörer verwöhnt. Die beiden haben schon zahlreiche Parties oder kleine Treffen organisiert und konnten im Laufe der Zeit einen gleichgesinnten Kreis um sich scharen. Für Spontis hat sich Janina die Mühe gemacht, ihre Wahlheimat einmal aus einem düsteren Blickwinkel zu betrachten und verfasste ein spannendes und äußerst informatives Porträt über eine der größten Städte der Welt.
Shanghai ist mit einer Bevölkerung von bis zu 30 Millionen Menschen eine der größten Städte auf dem Globus. Eine moderne, internationale, bunte, chinesische Metropole im Spannungsfeld zwischen Tradition und Kommerz. Bunte Neonlichter treffen auf chinesische Pagoden und bei Starbucks gibt es mehr Tee- als Kaffeesorten. Aber auch Shanghai hat seine ganz eigene „düstere“ Seite und auch im „Paris des Ostens“ gibt es eine schwarze Szene. Man muss sie nur finden…
Spätestens seit der Expo 2010, für die sich die Stadt besonders „aufgehübscht“ hatte, ist die „Perle des Orients“ weltweit als moderne und bunte Metropole berühmt. Sicherlich wurde dieser Eindruck des internationalen Publikums auch durch gezielte Maßnahmen der Regierung geformt. So wurden beispielsweise im Vorfeld in öffentliche Verkehrsmitteln Videos gezeigt, die die Umgangsformen der Bevölkerung (u.a. in der Metro erst andere aussteigen lassen und dann selbst einsteigen, in geschlossenen Räumen nicht auf den Boden spucken, Abfall nicht einfach auf den Boden werfen usw.) schulen sollten. Aber auch die Stadt selbst legte sich ins Zeug und verwirklichte verschiedene Bauprojekte. Unter diesen war auch die Neugestaltung der Uferpromenade „Bund“ am westlichen Ufer des Huangpu-Flusses seit 2008. Neben den zahlreichen eindrucksvollen europäischen Kolonialbauten erstreckt sich hier nun direkt am Flussufer eine gepflegte Promenade mit Blick auf den ultra-modernen Stadtteil Pudong mit seinen imposanten Wolkenkratzern und dem Oriental Pearl Tower als Wahrzeichen der Stadt. Auf dieser kann man nun auf 2,6 km Länge flanieren – solange es die Massen an Touristen und Besuchern zulassen, die nach Einbruch der Dunkelheit einfallen, um die spektakulär beleuchtete Skyline zu bestaunen. Der Bund war auch für mich eine der ersten Sehenswürdigkeiten, die ich in Shanghai besucht habe. Und noch immer fasziniert mich dieser Ort als Spiegelbild Shanghais. Denn hier treffen Geschichte und Moderne auf eine wirklich eindrucksvolle Art aufeinander und ich habe beim Anblick der illuminierten Skyline immer eine Idee im Hinterkopf „Alles ist möglich!“.
Chinesische Kultur – Eine Entdeckungstour mit Zick-Zack
Ein ähnlicher Satz fällt einem auch ein, wenn man an chinesisches Essen denkt. Denn in China gibt es tatsächlich kaum etwas, was nicht auf dem Teller landen kann. Die chinesische Küche ist eine der reichsten der Welt und für jeden Geschmack gibt es viel zu entdecken. Interessant ist dabei, dass in einem chinesischen Restaurant nicht jeder Gast sein Gericht auf seinem Teller bekommt. Stattdessen bestellt man zusammen mehrere Gerichte, welche für alle gemeinsam auf den Tisch kommen und jeder bedient sich. Ich esse (fast) alles und gehe daher auch gerne in kleine Restaurants, welche keine bebilderte oder englische Speisekarte anbieten. Hier deute ich dann einfach auf verschiedene Schriftzeichen und lasse mich überraschen. Ein wenig „Mut“ gehört dann schon dazu. Aber bis auf Seegurke hatte ich bis dato noch nichts, was mir so gar nicht geschmeckt hat. Doch auch wenn man bestimmte Dinge nicht mag, kommt man kulinarisch mit Sicherheit auf seine Kosten. So gibt es beispielsweise mit unterschiedlichen Tofu- und Sojafleisch-Sorten auch für Vegetarier mehr als genug Gerichte auf jeder Speisekarte.
Und wem dann nach chinesischem Essen der Sinn auch noch nach chinesischer Kultur steht, der kann dem Yu-Garten und seinem Teehaus eine Chance geben. Der Steg, der zum Teehaus in einem Goldfischteich führt, ist übrigens im Zickzack angelegt, damit Dämonen (die angeblich nur gerade aus gehen können) das Gebäude nicht erreichen können. Aber: Dieser Garten gilt als einer der schönsten in ganz China und ist deshalb eine der wichtigsten Touristenattraktionen. Daher ist er normalerweise recht überlaufe und in der gesamten Umgebung versuchen lokale Händler sich daran, vollkommen überteuerte Artikel (Souvenirs, Tee, Spielzeug, Kleidung, Schuhe, Snacks, Getränke, Weihnachtsdekoration und mehr) an den Mann zu bringen. Daher kann ich den Yu-Garten nicht uneingeschränkt empfehlen. Deutlich idyllischer (vielleicht, weil er deutlich schwerer zu finden ist) ist beispielsweise der Qiuxia Garden im Norden Shanghais. Dieser gehört zu den fünf schönsten chinesischen Gärten der Stadt und hier kann man wirklich ungestört einige Stunden in einer bereits im 15. Jahrhundert erstmals angelegten Landschaft genießen.
Zuhause – Der einzig wahre Underground
So findet man in Shanghai Moderne, kulinarische Genüsse und chinesische Idyllen. Aber auch in Sachen Weltoffenheit muss sich das „Tor zur Welt“ nicht hinter anderen internationalen Metropolen verstecken. Bis zu einem Drittel der Bevölkerung in Shanghai besteht aus Ausländern. Und wenngleich man in kleineren Restaurants und Geschäften sowie im Taxi noch immer vergeblich nach englischsprachigem Service sucht, ist Shanghai eine der westlichsten Städte Chinas. Westliche Küche und Kultur gibt es an nahezu jeder Ecke und auch die Wünsche partywütiger Europäer werden zur Genüge bedient. Während Chinese sich lieber mit Whisky und grünem (Eis-)Tee in einer KTV Bar beim Karaoke vergnügen, zieht es die meisten Ausländer in die einschlägigen Clubs und Bars, wo hochpreisige Cocktails und Hip Hop, House oder Techno-Beats an jedem Wochentag locken. Und gefeiert sowie getrunken wird hier dann mehr als genug. Spätestens wer einmal die müden Gesichter seiner jüngeren Kollegen beobachtet hat, die an höchsten drei Tagen der Woche NICHT verkatert im Büro erscheinen, weiß mit Sicherheit, weshalb Shanghai auch eine DER Partymetropolen der Welt ist. Und mit Drum&Base, Dubstep oder Trance in den populären „Underground“-Clubs gibt es auch noch ausreichend abwechslungsreiche Vergnügungsmöglichkeiten für jeden, dem „Black Music“ oder House alleine zu eintönig ist.
Was aber macht man hier, wenn man nicht allzu viel für kunterbunten Kommerz übrig hat, „Underground“ ein wenig anders als die hiesigen Promoter definiert und mit ziemlicher Sicherheit weiß, dass nicht jeder Goth Metal hört und sich auch nicht zum Zeitvertreib Zigaretten auf der Haut ausdrückt (ja dieses dämliche Klischee wurde mir hier von Ausländern tatsächlich schon an den Kopf geworfen). Nun, zum einen finden sich in den unzähligen Parks und Gärten der Stadt wahre Perlen, die es sich immer wieder zu besuchen lohnt. Und auch die Museen und sonstigen Attraktionen der Stadt stehen einem auch dann offen, wenn man schwarz trägt. Aber abseits davon wird es schon ein wenig schwieriger, seine Freizeit in Shanghai so zu gestalten, wie man es vielleicht in Deutschland tun würde…
Während ich in Europa normalerweise jedes Wochenende ausgegangen bin, verbringe ich in Shanghai deutlich mehr Abende mit meinem Mann und unseren zwei Katzen zu Hause. Schließlich bestimmen hier wir, was aus den Lautsprechern kommt und die Getränke kosten ein Zehntel dessen, was ein Club oder eine Bar verlangen würde. Und selbst die Deko ist „düsterer“ als sonst wo in der Stadt.
Aber auch wenn es um das leibliche Wohl geht gibt es in China eine „Spezialität“ die wenigstens mit einem Augenzwinkern als „düster“ bezeichnet werden kann. Damit sind jetzt nicht die fast schwarzen Tausendjährige Eier (die übrigens ganz gut schmecken) gemeint. Und auch der letzte große Lebensmittelskandal (Rattenfleisch wurde als Lammfleisch getarnt) oder gar streng verbotene „Speisen“ (auf die ich nicht näher eingehen möchte, weil es sonst selbst den Hartgesottene ganz anders werden würde) haben damit nichts zu tun. Aber bei uns beginnt das Wochenende normalerweise freitagabends nach Einbruch der Dunkelheit. Denn erst dann erscheinen sie: die netten Chinesen, die mit ihren Fahrrädern Kühlboxen und einen langen Grill herankarren und damit beginnen, „night barbecue“ oder – wie wir es nennen – „nocturnal food“ an nahezu jeder Straßenecke (oder in kompletten Straßen, in denen es dann kaum ein Durchkommen mehr für die Autos gibt) anzubieten. Über Holzkohle werden hier Lamm, Huhn, Fisch, Meeresfrüchte, Tofu, Pilze und anderes Gemüse gegrillt und mit verschiedene Gewürzmischungen abgeschmeckt. Super lecker, sehr günstig. Aber bis auf die „Öffnungszeiten“ wirklich nur mit einem Augenzwinkern „düster“…
Gothic Shanghai – „Made in China“ – Maßgeschneiderte Kleider zum Schnäppchenpreis
Interessanter wird es, sobald es ums Einkaufen geht. Praktisch alles, was die einschlägigen Gothic-Stores in Europa anbieten, ist „Made in China“. Bei uns sorgte das auf der Shoppingmeile auf dem WGT schon für viel Belustigung, wenn Artikel zum zehnfachen Preis dessen, was wir hier im Einzelhandel dafür zahlen würden, als „Sonderangebot“ angepriesen werden. Nichtsdestotrotz gibt es aber in Shanghai nicht ein einziges Ladengeschäft, das auf Gothic-Kleidung spezialisiert wäre. Wer daher in Shanghai nach einem neuen Grufti-Outfit stöbern möchte, muss dafür zu Hause vor dem Rechner sitzen und sich durch die unzähligen Online-Angebote klicken. Wer jedoch nach etwas sucht, das garantiert kein zweiter hat, und bereits mehr oder minder weiß, was er oder sie will, der wird in Shanghai garantiert nicht enttäuscht. Denn in den verschiedenen „tailor markets“ der Stadt kann man sich alles auf den Leib schneidern lassen, was man sich nur vorstellen kann. Die meisten Kunden lassen hier Anzüge, Hemden oder Hochzeitskleider fertigen. Aber auch ausgefallene Ideen werden ohne größere Probleme umgesetzt. Ein wenig kompliziert kann es werden, dem chinesischen Schneider (auch hier wird nur rudimentär Englisch gesprochen) seine Vorstellungen verständlich zu machen. Aber mit Händen, Füßen und vielleicht einem Bleistift kommt man am Ende doch irgendwie zurecht. Allerdings sollte man immer einplanen, dass nicht alles so wie geplant verläuft und das neue Outfit mehr als einmal anprobiert und umgeändert werden muss. Aber wo sonst bekommt man zum Beispiel ein nach den eigenen Wünschen maßgeschneidertes Kleid für unter 200 Euro?!
Lustig kann es dann werden, wenn man sich mit dem neuen Outfit auf den Weg durch die Stadt begibt. Wortwörtlich genommen ist Shanghai’s „Underground“ sehr gut ausgebaut. Denn neben den zahllosen, günstigen Taxis ist die Metro das Transportmittel Nummer eins. Von „Dörflern“ die die große Stadt erkunden bis zu Geschäftsmännern und –frauen sieht man hier fast alles. Während der eine auf seinem neuen Tablet PC spielt oder arbeitet kümmert sich die nächste Dame sehr undamenhaft mit einem Nagelknipser um ihre Pediküre. Ja, hier werden manchmal in der Metro die Fußnägel geschnitten. Nicht schön, aber irgendwann schon fast normal. Während sich die meisten Chinesen von einem solchen Bild nicht aus der Fassung bringen lassen, sorgt es dafür um viel Aufsehen, wenn man „anders“ aussieht.
Kinder, die mit dem Finger auf mich zeigen (und nach der Informationen meiner des Chinesischen mächtigen Freunde insbesondere meine mal rote, mal pinke, mal violette Haarfarbe kommentieren) sind dabei genau so wenig eine Seltenheit wie Leute, die uns ohne zu fragen und ganz unverfroren fotografieren. Und wenngleich es manchmal einem Kleinkrieg gleichkommt, wenn man in den großen Stationen wie People’s Square umsteigen muss, weil viele Chinesen scheinbar einfach nicht verstehen wollen, dass es Sinn macht die anderen Fahrgäste erst ausstiegen zu lassen bevor man selbst in den Zug stürmt, so erweist sich dieses Interesse manchmal auch als nützlich. Denn mit Plateaus, ungewöhnlicher Haarfarbe und ein wenig Styling starren die Damen und Herren dann eher mit offenem Mund und machen tatsächlich Platz, anstatt einen wie wild wieder in den Zug hinein zu drängen.
Und wenn wir gerade bei People’s Square sind: Genau an dieser Metrostation gibt es die „1930s Street“. Das klingt interessant und die ersten Meter dieser unterirdischen Straße haben tatsächlich einen gewissen Charme mit alten Fotografien und einem gemütlichen Cafe, das ausnahmsweise mal nichts mit Starbucks und Co zu tun hat. Der Rest des unterirdischen Komplexes ist allerdings nicht mehr als ein weiteres großes Einkaufszentrum.
Sollte man bei einem Streifzug durch das Einkaufszentrum auf eine Drogerie stoßen, kann hier ein Blick auf das Angebot für ein Lächeln auf dunkel geschminkten Lippen sorgen. Denn wo in Europa Selbstbräuner, Bräunungslotionen oder beige-braunes Makeup beworben werden, ist das Schönheitsideal in China beziehungsweise in ganz Asien ein anderes. Hier locken Gesichtscremes, Bodylotions, Duschgels und mehr mit „Whitening-Effekt“ und helles Makeup, um dem Ideal des „Porzellanteint“ so nahe wie möglich zu kommen.
Während dies jedoch nur oberflächlich und lediglich aus einem „Fashion“-Standpunkt heraus das Interesse eines Goths wecken kann, so hat die Geschichte Shanghais einige Kapitel zu bieten, die wirklich düster sind. Über diese erfährt man normalerweise in der Stadt nur sehr wenig – Shanghai ist gerne modern und multikulturell und zeigt nur sehr ungern die blutige Geschichte, die die Stadt geformt hat.
Blutiges Shanghai – Eine bewegte Geschichte
Ab 1842, dem Ende des ersten Opiumkriegs, war die Stadt de facto permanent unter ausländischer Besetzung. Briten, Franzosen, Amerikaner und Japaner brachten die Stadt genauso unter Ihren Einfluss wie Verbrechersyndikate. So bildeten sich innerhalb der Stadt nach und nach Siedlungen heraus, die Chinesen nicht betreten durften. Berüchtigt sind beispielsweise Schilder, die an den Eingängen von Parks proklamierten „Keine Hunde, keine Chinesen“. Während des Taiping-Aufstands, dem opferreichsten Bürgerkrieg der Menschheitsgeschichte, boten die ausländischen Siedlungen jedoch eine mehr oder minder sichere Zuflucht vor den Massakern. Und 1860 konnten die britischen und französischen Streitkräfte die Armee des Taiping-Königs zurückschlagen.
Jedoch halfen die Flüchtlingsströme sicherlich nicht dabei, die Lebensbedingungen der armen, chinesischen Stadtbevölkerung zu verbessern. Und auch die Menschen, die vor dem Boxeraufstand (1900) oder dem Sturz des letzten Kaisers (1911) in die ausländischen Konzessionen flüchteten, fanden dort keine guten Lebensbedingungen vor. Aus dieser Situation heraus wurde Shanghai zu Beginn des 20. Jahrhunderts bereits zu einer Weltstadt, aber zugleich auch zu einem wahren Moloch. Die Stadt war zu dieser Zeit schon beinahe ein Synonym für Sünde. Opiumhöhlen, Spielhöllen, Bordelle und andere zwielichtige Etablissements hatten das Leben in Shanghai fest in Ihrem Griff. Und zeitgleich begann der chinesische Kommunismus seinen Weg in Shanghai. Nach dem Ende des ersten Weltkriegs wurden die einstmals deutschen Besitztümer Chinas an Japan gegeben, anstatt an China zurück zu fallen.
Dies führte ab 1919 zu Protesten und Streiks der chinesischen Bevölkerung, die sich nicht mehr mit den „ausländischen Imperialisten“ abfinden wollten und 1921 wurde in Shanghai die Kommunistische Partei Chinas gegründet. 1925 wurden in Shanghai demonstrierende chinesische Studenten von britischen Soldaten erschossen und die Nationale Revolution wurde ausgerufen. 1926 folgte das Shanghai Massaker, bei dem ein chinesischer Politiker und Militär seine Waffenlager für die Triaden (die „Chinesische Mafia“) öffnete worauf hin in der Folge schwerbewaffnete Kriminelle Massaker an Kommunisten und Arbeitern anrichteten und die Basis der Kommunisten praktisch auslöschten. Innerhalb weniger Wochen wurden so über 5000 Menschen ohne eine Gerichtsverhandlung exekutiert. Während der Mandschurei-Krise (1931) und dem Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg (1937-1945) griffen japanische Truppen die Stadt an, welche von Willkürjustiz und Drogenkartellen beherrscht wurde. Japan konnte seine Macht über Shanghai behaupten und internierte ab 1943 jüdische Flüchtlinge im Shanghaier Ghetto. Nachdem Shanghai mit dem Ende des zweiten Weltkriegs wieder an China fiel, marschierte Mao Zedong bereits 1949 ein die Stadt ein und brachte sie unter kommunistische Kontrolle. Die Ausländer flüchteten und ihr Kapital wurde konfisziert oder massiv besteuert. In den folgenden Dekaden wurden alle westlichen Einflüsse der Stadt unterdrückt. Das gesamte Ausmaß dieser Unterdrückung wird einem bewusst, wenn man die Geschichte ausländischer Friedhöfe in Shanghai betrachtet. Doch dazu später mehr. Ab 1966 nahm die Kulturrevolution von Shanghai aus ihren Lauf und hemmungslose Zerstörung und Rachefeldzüge erschütterten die Stadt. Und erst ab Mitte der 80er Jahre entschied die Chinesischen Zentralregierung, Shanghai erneut als eine Metropole mit Vorreiterrolle der Modernisierung auszubauen und zu profilieren.
Mit einer Vergangenheit voller so viel Blutvergießen ist es nicht zu sehr verwunderlich, dass es in Shanghai mehr als einen Ort gibt, an dem es (angeblich) spukt. Und schon gar nicht wenn man weiß, wie abergläubig die meisten Chinesen sind.
Die Geister der Toten treiben ihr Unwesen – Spuk in Shanghai
So gibt es an der Yan An elevated Road, einem der wichtigsten Highways der Stadt der sich auf verschiedenen Ebenen mit vielen anderen Straßen, Brücken und Highways schneidet, eine besonders auffällige Säule. Der Rest der Konstruktion besteht aus schödem grau-beigem Beton. Doch eine Säule an der Kreuzung Chengdu Bei Lu und Yan An Lu ist mit silbern und golden glänzenden Platten und einem erhobenen Drachen-Bild verkleidet. Warum? Nun während der Bauarbeiten stießen die Arbeiter bei den Bohrungen und Aushebungen für das Fundament auf eine Steinschicht, die sie schlicht nicht durchbrechen konnten. Niemand war in der Lage, dies zu erklären. Bis ein Mönch die Bauherren darüber aufklärte, dass es sich nicht um Stein, sondern um den Schwanz eines enormen, uralten Drachen handeln würde, der an dieser Stelle unter der Erde schlafe. Die Regierung bat den Mönch um Hilfe. Nach Gebeten, Beschwörungen, Opfergaben und so weiter teilte der Mönch mit, man müsse die Säule zu Ehren des Drachen umgestalten um ihn zu besänftigen und zu bitten, seinen Schwanz ein wenig zur Seite zu bewegen. Und siehe da: Nachdem beschlossen war, die Säule in Ehrerbietung für den Drachen neu zu gestalten, konnte die Steinschicht ohne Mühe durchbrochen und die Straße weiter gebaut werden. Manche Quellen geben an, der Mönch sei am selben Tag ohne einen klaren Grund tot umgefallen. Andere lassen diesen Punkt aus und gebe keine weiteren Informationen zum Schicksal des Mönchs.
Ein anderer Ort, an dem ein Geist noch heute sein „Unwesen“ treiben soll, ist das Paramount Theater. Dieses architektonische Kleinod im Art-Deko Stil war in den 20er Jahren ein Art „Lustschloss“ in dem sich die monetäre Elite der Stadt, also zu dieser Zeit vornehmlich Opium-Dealer, Kriminelle, Mafiosi und ähnlich eher zwielichtige Gestalten, vergnügten. Nachdem eine junge Taxi-Tänzerin einem japanischen Soldaten seinen Wunsch, mit ihr zu tanzen, verweigerte, ordnete der Soldat umgehend an, das Mädchen für diese Zurückweisung zu erschießen. Ob er selbst den Abzug drückte oder jemanden dafür anheuerte, ist nicht mehr sicher. In jedem Fall jedoch wurde das Mädchen für diese Selbstbestimmung und einem ihr offensichtlich nicht zugegestandenen Gefühl von Würde hingerichtet. Und noch heute soll man in der Nacht den Geist der Tänzerin sehen können, wie Sie alleine Ihre Runden im ehemaligen Tanzsaal im 4. Stock dreht.
Im selben Gebäude wurde in den 90er Jahren ein Bauarbeiter von einem einstürzenden Gerüst erschlagen. Ob die einsame Tänzerin in diesen Vorfall involviert war oder der Mann einfach Pech hatte, werden wir wohl niemals erfahren. Jedoch sollte man heute um das Paramount Theater herum Vorsicht walten lassen – denn der unglückselige Bauarbeiter scheint sein Schicksal nicht ohne Weiteres hinnehmen zu wollen. Das Gebäudemanagement erhält bis heute zahllose Beschwerden über verschiedenste Objekte, die vom Gebäude aus auf Passanten fallen oder geworfen werden. Niemals jedoch wurde jemand gesichtet, der die Objekte geworfen hätte.
Ein weiteres Mädchen mit einem unglücklichen Schicksal hat den Ort Ihres Ablebens in der Nanjing Xi Lu offenbar auch nicht verlassen. In den 80er Jahren befand sich in dem Gebäude ein beliebtes Hotel. Eine ungeschickte Kellnerin verschüttete hier eines Tages Tee über das Hemd eines Gastes. Zur Strafe wurde das Mädchen von seinem Chef in einem Raum im Obergeschoss eingeschlossen, um über ihr Fehlverhalten nachzudenken. Doch am selben Abend brach ein Feuer im Hotel aus. Die Gäste und das Personal konnten sich alle ins Freie retten – doch niemand dachte daran, die ungeschickte Kellnerin aus ihrem „Gefängnis“ zu befreien und das Mädchen starb in den Flammen. Manchmal soll sie seitdem ihr Gesicht am Fenster im Obergeschoss zeigen. In jedem Fall jedoch scheint sie keine Besucher zu wünschen. Denn seit dem verheerenden Brand wurde das Gebäude nicht wieder aufgebaut. Und wenngleich überall in Shanghai alte Bauten abgerissen werden, um Platz für mehr Wolkenkratzer zu schaffen, steht das ehemalige Hotel noch immer ausgebrannt und leer in einer erstklassigen (und teuren!) Lage im Stadtzentrum. Es gab viele Versuche, das Gebäude wieder aufzubauen oder es abzureißen und etwas Neues zu bauen. Aber niemals mit Erfolg – denn spätestens nach ein paar Tagen nahmen alle Bauarbeiter (die aus ganz China nach Shanghai kommen, um hier Geld für Ihre Familien zu verdienen) und sogar potentielle Käufer, die sich ihre Investition zunächst genauer ansehen wollten, Reißaus und weigerten sich, das Areal auch nur zu betreten.
Und selbst moderne Geschäftsgebäude bleiben nicht von Geistern und dem Einfluss alter Gottheiten verschont. So gab es beim Bau des Plaza 66 immer wieder verschiedene Probleme. Es schien, als wolle das Gebäude trotz einer professionell berechnete Statik einfach nicht wie geplant stehen bleiben. Die Lösung kam hier in Form eines Feng Shui Meisters, der als Berater herbeigezogen wurde. Dieser erläuterte, dass offenbar eine alte Gottheit unter dem Fundament lebte und den Bau so erschwerte. So wurde Räucherwerk für die Gottheit dargeboten und das Design des Gebäudes wurde verändert, um an ein brennendes Räucherstäbchen zu erinnern. Und siehe da: Der Bau konnte ohne weitere Schwierigkeiten abgeschlossen werden und Plaza 66 steht seitdem so solide, als habe es nie ein Problem gegeben.
Weitere unerklärliche Probleme ergaben sich 2009 beim Abriss eines alten Anwesens. Im nahe gelegen Krankenhaus mussten immer wieder Arbeiter mit ungewöhnlichen Bisswunden behandelt werden. Man konnte jedoch keine wilden (Straßen-) Tiere ausfindig machen und die Männer weigerten sich, nach ihrer Genesung auf die Baustelle zurück zu kehren. Ein junger Mann attackierte nach einiger Zeit gar seinen Vorgesetzten mit einem Hammer und schwor später, dass Eidechsen ihn dazu gezwungen hätten. Nur wenige Wochen später schwor eine Anwohnerin, einen Drachen auf einem der Baukräne beobachtet zu haben. Und die Mitarbeiter des Four Season Hotels gegenüber der Baustelle begannen, sich gegen die Nachtschicht zu weigern, weil sie nachts immer wieder von geisterhaften Tieren heimgesucht wurden. All das mag nach einer guten Ausrede für Faulheit klingen. Aber selbst für Skeptiker ist die Geschichte hinter dem Anwesen, dass hier abgerissen wurde zumindest interessant: Zwei Brüder namens Qiu immigrierten um 1900 von dem Land nach Shanghai, um nach Arbeit zu suchen. Sie kamen, wie die meisten Arbeiter, gerade so über die Runden. Bis sie 1915 ein altes Lager betraten in dem ein deutscher Händler, der während des ersten Weltkriegs aus der Stadt geflohen war, sein gesamten Bestand an Farbe zurückgelassen hatte. Da im Zuge des Krieges die Häfen geschlossen wurden, explodierten die Preise für (importierte) Farbe und die Brüder wurden auf einen Schlag reich. In ihrer folgenden Dekadenz waren die Qiu Brüder selbst im damaligen Moloch Schanghais nahezu unübertroffen und ihre luxuriösen Villen auf Anwesen mit Pfauen, Krokodilen, Tigern und mehr als lebende Gartendekoration hätten selbst einen König erblassen lassen. Bis beide eines Tages einfach verschwanden. Niemand wusste, wohin sie gegangen waren und niemand sah sie je wieder – weder lebend, noch tot. Und beinahe wären sie ganz in Vergessenheit geraten, hätte der Abriss des Anwesens sich nicht so ungewöhnlich schwer gestaltet.
Gothic Shanghai – 30 Millionen Menschen und kein Friedhof
All diese Geschichten sind sicherlich interessant und eine Geistertour durch Shanghai ist für einen Goth sicherlich interessanter als ein schnöder Pubcrawl. Aber dennoch will nicht jeder nach Geistern, Drachen oder Gottheiten suchen. Nach jedem Klischee wäre es wohl eher angebracht, auf einem schön gestalteten Friedhof nach der schwarzen Szene zu suchen. Aber in Shanghai wird das leider nichts. Denn trotz bis zu 30 Millionen Menschen in der Stadt – und dementsprechend vielen Todesfällen – gibt es in Shanghai nicht einen einzigen Friedhof. Die Chinesischen Traditionen rund um das Ableben sind anders als in Europa. In vielen Fällen bewahren die Angehörigen die Asche der Verstorbenen zu Hause, gegebenenfalls im eigenen Familienschrein, auf. Oder das Begräbnis findet in einem Dorf etwas unter 1 Stunde von Shanghai entfernt statt, dass als der Friedhof Shanghais gilt. Jedoch war das nicht immer so. Bis zum Einmarsch Mao Zedongs hatte zumindest die ausländische Gemeinde eine ganze Reihe an Friedhöfen, auf denen ganz nach westlicher Tradition die Toten beigesetzt wurden. Doch die Unterdrückung westlicher Einflüsse durch die Kommunisten bezog sich nicht nur auf die Lebenden. So wurden in den 50er Jahren alle ausländischen Friedhöfe geschlossen. Teilweise wurden die Toten exhumiert und verbrannt, teilweise wurden einfach die Grabsteine entfernt. In jedem Fall jedoch bekam das Areal eine neue Bestimmung. Über manchen ehemaligen Friedhöfen befinden sich heute Straßen oder Gebäude. Aber für ihre Lage und die bereits vorhandene Landschaftsgestaltung wurden die meisten ehemaligen Friedhöfe in öffentliche Parks umgewandelt.
Ein besonders schönes Beispiel für einen solchen Park, der wohl im wahrsten Wortsinne noch einige Leichen im Keller verbirgt, ist der Jing’an Park. Direkt neben dem gleichnamigen Tempel gelegen, bietet der Park ein Stück Idylle im Großstadttrubel mit alten Bäumen (die noch aus den Friedhofszeiten stammen), einem Teich und einem Restaurant. Auch um diesen Park ranken sich verschiedene Geistergeschichten von Wassergeistern die einen in den Teich locken und Baumgeistern die die Lottozahlen vorhersehen können. Ich persönlich empfinde den Park aber einfach als einen ganz besonders beruhigenden Ort. So hat sich der ehemalige Friedhof sicherlich ein gutes Stück Friede bewahrt. Einzig als Beweis dafür, wie schnell die Menschen vergessen können, schafft der Jing’an Park es, mir doch ab und an einen leichten Schauer über den Rücken laufen zu lassen.
Was also macht die schwarze Szene, wenn einschlägige Szenetreffs und gar die „obligatorischen“ Friedhöfe fehlen? Gibt es wenigsten Szeneclubs in denen man seinem düstere Musikgeschmack frönen kann oder Konzerte, für die es sich lohnt das Haus zu verlassen? Die Antwort ist Jein.
Gothic Shanghai – Die lokale Szene
Der wohl beste Anlaufpunkt, um schwarz zu tragen und dazu zumindest im Ansatz passende Musik außerhalb der eigenen vier Wände hören zu können, ist eindeutig das Inferno. Wirklich „Goth“ ist es zwar nicht und die aktuelle Location ist viel mehr Bar als Club. Aber der Betreiber ist ein ganz lieber dänischer Metalhead. Und wenngleich das Stammpublikum normalerweise mehr nach Heavy oder Death Metal verlangt, so konnten wir doch mehr als einmal zu den Sisters of Mercy um den Billardtisch herum Totengräber miemen, uns zu ASP im Takt wiegen und sogar einen spontanen Minitanzkurs zu Spetznaz starten, bei dem die Chinesen versuchten zu verstehen, was stompen ist und warum zum Henker manche Leute (zumindest im Rhein-Main-Gebiet) in der Disko im Dreieck herumhüpfen. Ich befürchte zwar dass ich keine gute Tanzlehrerin bin, aber Spaß hat es allemal gemacht. ;-) Und nächstes Jahr mit der neuen Location (geplant ist der Umzug in größere Räumlichkeiten mit richtiges Tanzfläche, Bühne und Küche) soll alles dann noch besser und aus den gelegentlichen Gothic Shanghai Parties sollen regelmäßige Veranstaltungen werden.
Hin und wieder finden auch interessante Konzerte statt. Beispielsweise Lacrimosa waren zwischenzeitlich bereits zwei Mal hier zu Gast, Lacrimas Profunde haben es letztes Jahr auch geschafft und größere Namen wie Epica oder Leaves Eyes finden nicht selten ihren Weg nach Shanghai. Die meisten Konzerte gehen jedoch mehr in Richtung Metal. Das gefällt der Zentralregierung nicht so gut und ein Konzertveranstalter, mit dem wir auch privat in Kontakt stehen, wurde schon mehr als einmal von der Regierung dazu aufgefortert, nicht so viele ausländische Metalbands ins Land zu holen. Lustigerweise bezog sich diese Aufforderung ausgerechnet (auch) auf Lacrimosa, aber für viele Chinesen gilt einfach Gitarren + düster muss Metal sein. Wer sich daran nicht stört und Bands sehen möchte, deren Namen auch in Europa vielen ein Begriff sind, der ist dann normalerweise im MAO Livehouse am Besten aufgehoben. Ganz unbedarft und ohne das Programm zu kennen sollte man aber besser nicht herkommen, denn wie der Name erraten lässt ist das einfach nur eine Konzerthalle.
Interessanter wird es, wenn man sich auch für unbekannte Bands und lokale Acts begeistern kann. Zwar ist die Live Szene insgesamt in Peking definitiv größer, erfolgreicher und spannender, aber auch in Shanghai muss man darauf nicht ganz verzichten. Für Festivals wie das Midi bei dem neben Rock, Metal und Pop beispielsweise auch Rockabilly und Punk zu hören und sehen sind oder das inzwischen bereits 2 mal begangene Shanghai Punk Festival kommen die Veranstalter zwar nicht ohne Bands aus dem Rest des Landes und der Welt aus. Aber auf dem WGT spielen ja auch nicht nur Interpreten aus Leipzig. Ok, in Leipzig leben nie und nimmer 30 Millionen, aber ihr wisst was ich meine. Für Bands made in China ist Yuyingtang, eine kleine und etwas heruntergekommene Live Bar, der richtige Anlaufpunkt. Hier wurde das Shanghai Punk Festival geboren (und wir wissen wohl alle, dass es die schwarze Szene in ihrer heutigen Form ohne den Punk niemals gegeben hätte) und selbst Abende mit „düsterem“ Anstrich finden sich hier im Programm. Die gebotenen Musikrichtungen sind zwar hier und da ein wenig gewöhnungsbedürftig, aber wenigstens kommen einem Lady Gaga und Co hier nicht unter. Dafür gibt es zwar „Shitgaze“ oder eine gelangweilte, kettenrauchende Chinesin mit einem übermotivierten Amerikaner an den Synthesizern und das ganze nennt sich dann experimenteller Elektro Goth oder so ähnlich. Aber die Band sind nun einmal keine (vielleicht ja auch nur noch keine) bekannten Größen.
Und in dem Stadium, in dem sich die schwarze Szene in Shanghai befindet, sind die Erwartungen an eine derartige Veranstaltung auch deutlich geringer als die Hoffnung darauf, den einen oder anderen „Gleichgesinnten“ zu finden. In dieser Hinsicht schafft Shanghai, bzw schaffen es die Chinesen, immer wieder, einen zu überraschen. Natürlich wird man nicht immer positiv überrascht. Wenn zum Beispiel jemand aus den USA zu einem Gothic Picnick auftaucht und dann strahlend lächelnd erzählt dass er bzw. sie am Abend noch auf diese oder jene Party geht, deren Beschreibung jedem mit ein wenig anderem Musikgeschmack ein obligatorisches Augenrollen und Stöhnen entlockt, weil „Musik egal ist und man nur gekommen ist, weil der Goth Style so fashionable ist„, dann ist das schon ein leichter Dämpfer. Wenn dann aber ein eigentlich eher unscheinbare Chinese nicht nur nach Lacrimosa fragt, sondern sich auch riesig über Devil Doll freut oder plötzlich beginnt, über Haus Arafna zu plaudern oder im sonst ja doch wenn düster dann metallisch orientierte Shanghai im Nitzer Ebb Shirt herumläuft, dann sind das ausgesprochen angenehme Überraschungen.
Gothic Shanghai – Anderssein in China
Wie aber sieht es mit der Akzeptanz einer solchen Andersartigkeit aus? Hier ist die Situation in China leider noch recht schwer. Dies gilt zumindest für junge Chinesen. Es mag wohl in Shanghai ein wenig besser sein. Aber auch hier gilt: Man lebt so lange bei den Eltern und tut das, was diese als richtig erachten, bis man mit Anfang/Mitte 20 „eine gute Partie“ heiratet, am Besten gleich in den Flitterwochen ein Kind zeugt und diesem dann wiederum vorschreibt, wie man ein anständiges Leben führt. Und wenn das die Eltern nicht schaffen, dann holen Großeltern auch mal das Kind gegen den Willen von Mutter oder Vater zu sich, um es ordentlich zu erziehen. Platz für allzu offene Andersartigkeit im weitesten Sinne gibt es in diesem Weltbild nicht. So haben wir eine Freundin von Anfang 20, die momentan ihre Universität abschließt. Und zu jedem Treffen bringt sie ein zweites Outfit mit, um sich umziehen zu können, bevor sie spätestens um 22 Uhr wieder nach Hause geht. Ausländern kann so etwas natürlich niemand vorschreiben. Von dem – nennen wir schamloses Starren, mit dem Finger Deuten und Fotografieren einmal so – großen Interesse hatte ich ja schon geschrieben. Amüsant kann es dann werden, wenn der Interessierte tatsächlich auch Englisch spricht.
Wir wurden schon einige Male gefragt, ob wir Rockstars, Schauspieler oder Performance-Künstler wären. Denn dass es so etwas wie eine schwarze Szene gibt und manche Leute halt einfach so rumlaufen, scheint den meisten unvorstellbar. Gut daran ist, dass einem von Chinesischer Seite damit auch kaum Ressentiments entgegen gebracht werden. Während viele Ausländer sehr vorurteilsbeladen sind, haben Chinesen, die nie etwas von der Gothic Szene gehört haben, natürlich auch nichts von den zugehörigen Klischees gehört. Auf das eigene Kind würde man so eine blasse, in schwarz gehüllte Langnase zwar nicht aufpassen lassen, aber schauen, für ein gemeinsames Foto posieren oder sich ein Bonbon geben lassen kann der oder die Kleine ruhig – auch schwarz gekleidete Langnasen beißen ja normalerweise nicht.
Fazit
Die schwarze Szene in Gothic Shanghai ist extrem klein und Veranstaltungen für diese sind rar. Es ist nicht immer leicht, hier als „Goth“ zu leben und sich auch so auszuleben. Konformität ist im kommunistischen China noch immer ganz groß in Mode und durch strenge soziale Regeln und Normen ist es insbesondere für Chinesen nicht leicht, anders zu sein. Aber wo nicht viel ist, ist zumindest viel Luft nach oben. Die schwarze Szene wird in China wohl nie einen Status erreichen, der mit Deutschland im Speziellen oder Europa im Allgemeinen vergleichbar wäre. Muss sie auch nicht – mir persönlich würde es vor der Chinesischen Variante von „Geboren um zu leben“, am Besten in allen KTVs der Landes und als Soundtrack zum Gruppentanzen auf dem Bürgersteig (ein ganz spezielles Hobby in China…) grauen. Aber der Nährboden für die Entwicklung von („echter“) Subkultur ist gegeben und ich bin sehr gespannt, was hieraus in Zukunft weiter erwachsen wird.
Janina und ihr Mann Nikita werden vermutlich 2014 auf dem WGT zu Gast sein, vielleicht haben wir dann Gelegenheit die Autorin persönlich kennenzulernen und ihr für die weitere Planung ihres Lebens, die erstmal einen weiteren Besuch in Leipzig unmöglich macht, viel Glück zu wünschen. Ich jedenfalls bin sehr dankbar und stolz einen solch umwerfenden Artikel hier veröffentlichen zu dürfen. Wer mehr über Janina, ihr Leben in China und ihre Seite gothic-shanghai.com erfahren möchte, dem sei ein Interview mit ihr empfohlen, dass hier bald erscheint. Außerdem habt ihr die Möglichkeit, Janinas SHOP bei Ebay zu besuchen, in dem sie einige Artikel, die in Shanghai produziert werden, möglichst kostengünstig nach Deutschland verschickt. Hier noch einmal alle Bilder, die freundlicherweise von Janina zur Verfügung gestellt wurden:
Ein kleiner Einblick in eine grosse Stadt mit kleiner aber wachsender Szene … wirklich toll geschrieben und vielen Dank dafür.
Wow, das war wirklich mal ein richtig interessanter Artikel. Danke dafür!
Ich freue mich schon auf das erwähnte Interview. :-)
Wirklich schöner und ausfühlicher Artikel. Einiges wusste ich, der sich lange mit asiatischen Ländern allgemein beschäftigt hat, selbst noch nicht.
Nur eine klitzekleine Anmerkung: Schade finde ich, dass mit kaum auf die chinesische Alternativmusik eingegangen wurden ist. Gibt ja einige Visual Kei Bands dort (RecordeR, Silver Ash oder Fallinsex). Ich weiß natürlich, dass VK nix mit Gothic zu tun hat und einen anderen kulturellen Hintergrund hat. Es gibt aber einige Parallelen zwischen Gothic und VK. Auf jeden Fall haben es diese Bands in China auch nicht gerade leicht. Wo hier und da mal Bands aus dem Westen spielen können, sieht es für einheimische Bands abseits des Mainstreams häufig ganz anders aus.
In Japan ist man da ja glücklicherweise offener (auch wenn es dort ebenfalls kaum traditionelle Goths gibt, dafür ist dort VK sehr lebendig) von der Staatsseite her.
Oha, das ist mal interessant! Ich habe vor allem auf arte in der Sendung „Kleider und Leute“ immer mal wieder Goths aus anderen Ländern (Mexiko…) gesehen und mich gefragt wie die Szene da wohl ist. So ist es also in Shanghai!
@ Axel: Es freut mich, dass dir der Artikel so weit gefallen hat. :-) Auf Visual Key bin ich schlichtweg deshalb nicht eingegangen, weil ich mit damit nie intensiver beschäftigt habe (da ich damit nicht viel anfangen kann) und mir dementsprechend die Infos dazu fehlen. Es mag egoistisch und/oder erngstirnig klingen, aber ich habe den Bericht eben aus meinen Erfahrungen heraus geschrieben und ich habe mich nicht mit Visual Key befasst (und bei einer 55-75 Stunden-Woche komme ich schon ohnehin kaum dazu, mich mit Dingen zu befassen, die mich auch persönlich interessieren), noch kenne ich irgend jemanden aus dieser Szene…
Ich glaub das ist der längste Artikel, der je auf Spontis erschienen ist ;) – aber wirklich sehr gut u super interessant! Mich zieht es zwar nach einer nervenzehrenden Hongkong-Erfahrung überhaupt nicht mehr nach China & Co. – die asiatische Kultur ist generell nicht so meins. Aber trotzdem fand ich es sehr eindrucksvoll wie die Schwarze Szene in einem anderen Land ist, noch dazu in einem sozialistischer Prägung. Etwas offener als man denken konnte, auch mit den westlichen Bands. Hätte ich nicht erwartet. Müsst ihr euch bei euren eigenen Parties da an irgendwelche strengen Vorschriften staatlicherseits halten?
Ansonsten: dass Dämonen nur gerade aus laufen können habe ich auch schon gehört. Auch, dass die Asiaten sehr abergläubig sind, aber dass es sogar Baugewerke beeinflusst, das hat mich überrascht. Und über Nocturnal Food musste ich schmunzeln :) man bastelt sich halt die schwarzen Inseln wenn es nicht so viele gibt.
Da sich mein Kommentar mobil nicht bearbeiten lässt, hier noch kurze Ergänzung:
Robert: bitte mehr solcher internationalen, persönlichen Szeneportraits!
Janina: freu mich schon auf das Interview ;)
@Shan_Dark: Das könnte sein, dass es sich hierbei um den längsten Artikel handelt, ich war einfach nicht in der Lage, irgendwo etwas zu kürzen. Das spricht für Janina, die Autorin. Meine Erfahrung seit 2008 hat mir im übrigen gezeigt, dass Leser auch längere Artikel vollständig lesen, solange man eine Nische bedient. Das ewige „kurz und knackig“, „auf den Punkt und prägnant“ gilt nur eingeschränkt. Ich denke du kannst diese Erfahrung teilen. Zurück zum Thema:
Schön, dass es Dir gefallen hat, ich werde versuchen Deiner Forderung nachzukommen, ich bin mir sicher, dass ich noch einige „Exil-Deutsche“ im dunklen Ausland finde.
Wow ein sehr interessanter und ausführlicher Artikel! Sehr spannend und aufschlussreich. Das Japan viel alternatives bietet ist ja bekannt, auch wenn mehr im Visual Kei/Lolita Bereich, aber das China auch etwas bietet hätte ich nicht gedacht. Einfach weil es einfach schon fast überlebenswichtig ist konform mitzuschwimmen und der Zentralstaat doch sehr streng ist. Mich würde auch nochmal konkret interessieren wie das am Anfang explizit mit dem organisieren war. Vonwegen Erlaubnis eine Bar zu eröfnnen, Kontrollen,…etc., fließend chinesisch sprechen oder reicht bei geschäftlichem doch englisch,…usw.
Drollig ist eigentlich auch, dass was alle alternativen Kleidungen und Merchandise in CHina gefertigt werden, aber die Bevölkerung kaum Ahnung hat. Eines meiner Lieblingslabels ist PunkRave, die tolle abwechslungsreichen Designs und ausgesprochen guter Qualität bei einem bomben Preisleistungsverhältnis bieten, aber anscheinend ein rein chinesisches Labl sind. Wäre auch mal interessant zu erfahren, ob da ebenfalls Europäer den Anstoß gegeben haben oder ob einige Festlandchinesen alles selbst iniziiert haben. Auf einem Youtubevideo zum WGT waren auch chinesische Austauschstudenten voll gekleidet auf dem WGT unterwegs. Scheint sich ja wahrlich was zu tun. Ich finde das hochgradig spannend.
@Veeja: Die Situation in China zu beurteilen ist sicherlich ein Abendfüllendes Programm. Soweit ich das verstehe, lässt sich die „relativ“ lockere Einstellung, die in Shanghai herrscht, nicht auf das ganze Land übertragen. Bei der Fertigung der Klamotten ist es jedoch sicherlich so, dass man in China (wie in vielen anderen Ländern auch) nicht gewohnt ist, Fragen zu stellen. Die sorgen für den Lebensunterhalt in ihren Familien und fertig. Wie Janina berichtet, ist es relativ schwer, Szenekleidung zu bekommen, offensichtlich, weil noch überhaupt kein Markt vorhanden ist.
Spannend ist das Ganze allemal, ich habe das Gefühl dass China sich schleichend bewegt. In welche Richtung oder Zukunft, ist ungewiss.
Sorry für die späte Reaktion – leider werden alle kommenate, die ich veruche zu schreiben, immer als Spam blockiert und jetzt klappt es sogar mit VPN nicht mehr, nur noch im Büro… ;-) Lass dich bloß von Hong Kong nicht davon abhalten, China eine Chance zu geben! ch kann HK auch nicht leider – viel zu voll, eng, stressig und ganz genau nervenaufreibend dort und hat mit China noch weniger zu tun als Shanghai… ;-) Wir müssen uns bei unseren Parties an gar nichts halten. Wir tun ja nichts weiter, als Musik in einer bereits existierenden Bar abzuspielen. Und zum Eröffnen der Bar ist der Aufwand auch nicht (viel) größer, als er es in deutschland mit Ausschanklizenz und Co. wäre… Die Bar gehört ja nicht uns, wir „nutzen“ sie nur, aber grundsätzlich kommt man hier bei allem Geschäftlichen auch mit Englisch klar – vielleicht ein bisschen langsamer und manchmal etwas teurer, aber es klappt.
@Janina: Au backe! Das ist meine Schuld, ich habe den Spam-Filter so eingestellt, dass Kommentare aus Ländern wie Deinem blockiert werden. Ich bin ja so ein Trottel. Ich habe das Problem behoben, bitte schreibe noch einen Kommentar, damit ich sehen kann, ob alles funktioniert hat.
Vielen Dank für den schönen Artikel!
Ich bin jetzt seit drei Wochen in Shanghai und bleibe hier für ein halbes Jahr. Bei dem Artikel ging mir wirklich das Herz auf, habe ich doch bisher nur deutsche Schnösel hier kennen gelernt! :)
Ich würde mich nicht als Gothic bezeichnen, aber als große Symphatisantin. Ich liebe Bands wie Depeche Mode, The Cure, The Chameleons, My Bloody Valentine…
Würde mich sehr freuen, wenn wir vielleicht mal etwas zusammen unternehmen könnten!?
Herz alles Liebst,
Theresa
@ Theresa: Auf jeden Fall! Du kannst mir gerne eine Email schreiben. Unser nächstes Treffen wäre am 20.4. ein Picknick. Wir treffen uns am 20. um 14.00 Uhr am Xinhongqiao Central Garden. Das ist an der Kreuzung Yili Road/Anshun Road (das finden auch die meisten Taxifahren – wir haben vorher direkt dort gewohnt, daher weiß ich dass man mit „Yili Lu Anshun Lu“ ankommt). Metro 10, Station Yili Road. Vom Ausgang aus einfach nach links bis zur Yili Road, dort nochmal nach links bis auf der linken Seite ein Tor zum Park iist. Fall du später kommt: Auch kein Problem. Der Park ist nicht soooooo groß, da findest du das schwarze Grüppchen auf jeden Fall. Und du musst dich auch definitiv nicht „verkleiden“. :-) Komm einfach so, wie du bist. :-)