Wenn ich darüber nachdenke, wann und wie ich mit dem Lesen angefangen habe, ende ich immer bei Hörspielen. Bevor ich bewusst gelesen habe, hörte ich Kassetten, vornehmlich TKKG, später die drei Fragezeichen und später dann Hörbücher aus der Larry Brent Serie. Alles änderte sich mit dem Buch von dem kleinen Mädchen mit der Stundenblume. 1985 bekam ich es von meiner Mutter zu Weihnachten geschenkt, denn sie wollte immer, dass ihr Sohn einst ihre Leidenschaft für Bücher teilt um auch irgendwann vor einem Bücherregal zu stehen, das von einem Leben erzählt. Ich muss nicht erwähnen, dass ihr Plan erst Jahre später aufging, den als Kind einer aufstrebenden Computer-Generation hatte ich andere und „lautere“ Dinge im Kopf. Zeitschriften, Comics und Sachbücher – alles andere ging eine ganze Weile spurlos an mir vorbei.
Glücklicherweise änderte sich das im Laufe der Jahre und heute würde ich meine Mutter mit einem sichtlich gefüllten Bücherregal ganz sicher stolz machen. Die Liebe zu Sachbüchern ist geblieben, Romane und Geschichten schleichen sich nur langsam zwischen die größtenteils schwarzen Buchrücken. In meiner Top 5 konzentriere ich mich auf Sachbücher und versuche losgelöst von jeder Platzierung von einem Einstieg in die Tiefe zu gehen, von Erklärungen bis hin zu einzelnen Facetten, von denen es eine schier unüberschaubare Anzahl in der Szene gibt. Daher kann dieses Top 5 nur einen Teil dessen repräsentieren, was ich als wichtig und relevant erachte. Als Bonus habe ich kurz 2 „schwarze“ Bücher angesprochen, die für mich das gestern und heute symbolisieren und abseits von Informativen Nachschlagewerken einen Einblick in meine Leidenschaften geben.
Klaus Farin, Kirsten Wallraff – Die Gothics – Interviews und Fotografien
Das im Archiv der Jugendkulturen erschienen Werk von Klaus Farin und Kirsten Wallraff macht sich die Erkenntnis zu nutze, das niemand besser die Faszination einer Jugendkultur beschreiben könnte, wie die Mitglieder der Jugendkultur selbst. Mit ihrem 2001 erschienen Werk „Die Gothics“ liefern die beiden keinen fundierten und tiefgreifenden Blick hinter die Kulissen, sondern versucht einen zu dieser Zeit aktuellen Zustandsbericht zu geben, einen Einstieg in die Vergangenheit der Szene, eine analytischen Blick auf das „Jetzt“ und einen vorsichtigen Blick in die Zukunft. Es umreißt im groben das, was Gothic 2001 ausmacht, in die Presse bringt oder Ablehnung verursacht. Man versucht den Mitgliedern selbst in Interviews eine Plattform zu bieten, ihre Sicht der Dinge zu präsentieren und versteht sich als Sammler von Meinungen. In einem mehr abbildenden Teil geht man auf mögliche Definitionen für Musikrichtungen und Strömungen ein, auf Szenetreffpunkte und versucht mit Ästhetik und Poesie eine Verbindung zu den Inhalten der Szene aufzubauen, ohne es dabei zu vernachlässigen, aufzuklären und Vorurteile zu entschärfen.
Eigentlich steht das Buch an der Spitze der Szene, nicht weil es oberflächlich ist, sondern weil man es durchaus als Einstieg in die Thematik „Gothic“ sehen kann. Eine Neuauflage ist dringend erforderlich. Fragt man mich, welches Buch ich einem Einsteiger empfehlen würde, hätte ich vor 10 Jahren wohl dieses genannt, heute habe ich so meiner Schwierigkeiten damit, denn es fehlt der aktuelle Bezug, obwohl das wesentliche sich nicht geändert hat – und – womöglich nie ändern wird.
Alexander Nym – Schillerndes Dunkel
Um zu erklären, was Gothic ist, hat es sich eingebürgert, Künstler, Musiker, Autoren und Protagonisten der Szene in Artikel zu Wort kommen zu lassen und in einem Buch zu vereinigen. Sucht man nach einer aktuelleren Ausgabe, oder einem vergleichbaren Werk des 2001 „Die Gothics“ von Farin und Wallraff, so stolpert man nicht zuletzt durch das Internet immer wieder auf Alexander Nym und sein „Schillerndes Dunkel“. Im Gegensatz zum älteren Modell bietet das eindrucksvoll gestaltete Werk einen differenzierten Einblick in die Szene und richtet sich nicht an Einsteiger, wie es das Buch vom Archiv der Jugendkulturen macht. Es bietet jedoch einen zeitgemäßen und sehr erwachsenen Überblick über das, was man auch heute noch als Szene sehen könnte, obgleich es nicht in der Lage ist einen Blick auf alle Spielarten der Szene zu werfen. Zudem ist das Werk mit und 70€ sicher kein Schnäppchen, auch wenn es allein durch Aufmachung und Gestaltung diesen Preis wert ist.
Nym versucht, die aus seiner Sicht repräsentativen Menschen der Szene in einem Buch unter einen Hut zu bringen, was ihm nicht immer gelungen ist, denn zu unterschiedlich sind die Beiträge in Qualität, Thematik und Inhalt. Und dennoch vermitteln sie einen sehr guten Zustandsbericht über das „Jetzt“ der Szene, die zwischen künstlerisch verkopfter Tiefe und oberflächlichen Bewegungsabläufen vielfältiges zu bieten hat.
Dave Thompson: Schattenwelt – Helden und Legenden des Gothic Rock
Hat man den Einstieg in die Szene erstmals gewagt und beginnt damit, sich für das zu interessieren was das alles ausmacht und vor allem, woher es kommt, landet man unweigerlich bei der Musik. Man ist sich einig, das Ausläufer des Punk Ende der 70er Jahre dafür verantwortlich waren, das neue Musikrichtungen und Bands entstanden, die allesamt zu den Urvätern des Gothic Rock (ein Musikgenre, das die Initialzündung für eine Reihe weiterer Spielarten des Gothic wurde) zählen. The Cure, Bauhaus, The Mission, Joy Division, Fields of the Nephilim, Siouxsie & The Banshees, The Damned, Sisters of Mercy, Nick Cave, The Birthday Party, Iggy Pop, Alien Sex Fiend, The Cult, Killing Joke oder Christian Death. Hier liegen die Wurzeln. Dieses Buch versucht sich nicht in einer Darstellung aller Protagonisten, es IST die Darstellung aller Bands, die für Gothic als relevant erachtet werden. In chronologischer Reihenfolge zeichnet es die Entwicklung eine Musikrichtung, die im Laufe aller folgenden Jahre durch so vielen Strömungen bereichert wurde. Es handelt von Bandgründungen und Auflösungen von Alben und Veröffentlichungen von Konzerten und Tourneen und stellt noch ganz nebenbei dar, wie die Künstler selbst die Entwicklung der Jugendkultur wahrgenommen haben.
Unverzichtbar? Unverzichtbar! Jedenfalls für den, der sich die musikalischen Wurzeln von „Gothic“ interessiert, denn in Schattenwelt findet man das Kompendium, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es gibt nicht viele Gelegenheiten, bei denen ich der Zillo uneingeschränkt zustimme, als sie aber in ihrer Rezension schrieben: „Einen definitiveren Überblick über die Geburt der schwarzen Szene wird es wohl nicht mehr geben.„, nickte ich, denn genau so ist es.
Werner Helsper – Okkultismus, die neue Jugendreligion?
In Zeiten, in denn man lieber seinen Vorurteilen nachlief, anstatt sich zu beschäftigen, in Zeiten als die „Grufties“ noch potentielle Satanisten, Grabschänder und Liebhaber morbider Ästhetik waren, gab es nichts einfacheres, als in gleiche Horn zu blasen. Mit seinem Buch wollte Helsper einen anderen Weg gehen und den Versuch wagen, der Faszination des okkulten auf den Grund zu gehen. Motiviert durch eigene Erinnerung aus seiner Kindheit griff er Ende der 80er Jahre das Thema auf und brachte es in einer analytisch beleuchtenden Form zu Papier, das 1992 in eben besagtem Buch endete. Doch anstatt sich nur auf verstaubte Werke anderer zu verlassen, recherchierte er selber, in den Magazinen, den Publikation und Zeitungen, die davon berichteten, wie merkwürdig gekleidete Menschen Nachts auf Friedhöfen umher schleichen. Er befragte die Jugendlichen selbst und versucht Beweggründe für das Interesse zu finden, räumt Vorurteile sachlich aus, zeigt aber auch Gefahren bei falsch verstandener Leidenschaft.
Akribisch begibt er sich auf die Suche nach Wahrheiten und beleuchtet die Grufties nicht nur als Jugendkultur, sondern versucht sich ein Bild von denen zu machen, die in diese Schublade gesteckt werden. Obwohl sein Werk mitunter verkopft und sehr sachlich wirkt, macht es außergewöhnlich viel Freude in der (eigenen) Vergangenheit zu stöbern. Helspers Werk ist nicht umsonst einst der meist zitierten Basiswerke späterer Szeneliteratur. Und das hat definitiv seine Berechtigung, denn das Buch beschäftigt sich mit dem, was neben der Musik den Kern der Szene ausmacht(e).
J.C. Cooper – Das große Lexikon traditioneller Symbole
Es kommt vor, dass ich gefragt werde, welches Buch man als Einstieg in die Symbolik am ehesten verwenden könnte. Ich mache es mir nicht leicht mit einer Antwort, zu vielfältig sind die Ausrichtungen und Spezialgebieten. Darüber hinaus würde ich mich auch nicht als ausgewiesener Experte in Sachen Symbolik sehen. Das Buch, das ich am häufigsten zur Thematik aufschlage, ist aber schnell gefunden, denn immer wenn ich etwas wissen möchte, werfe ich einen einführenden Blick in das lapidar genannten „Lexikon traditioneller Symbole“. Hier wird nicht nur der „Microcosmos Hypochondriacus“ erklärt, sondern eigentlich jedes Symbol, dass man schon Jahrhundertelang als solches betrachtete. Bevor ich mir dieses Buch zulegte, war ich skeptisch, ob ich es je brauchen werden, denn – davon war ich überzeugt – man findet ja alles im Internet. Ein Irrglaube, denn allein die stundenlange Suche nach den verschiedenen Bedeutungen eines einzigen Symbols rechtfertigt die Anschaffung dieses Nachschlagewerkes. Es füllt mit einem Griff jede symbolische Bildungslücke und erheben mitunter Modeerscheinungen nach dem Streben eines höheren Zustands:
„Androgyn: Die ursprüngliche Vollkommenheit, die Ganzheit und vollständige Autonomie, die Wiedervereinigung der ursprünglich männlich-weiblichen Kräfte in der Vereinigung von Himmel und Erde. In der Alchemie besteht das große Werk in der Erschaffung des perfekten, zweigeschlechtlichen Menschen, der zur Ganzheit wiederhergestellten Menschheit.“
Gestern und Heute – Zwei „schwarze Bücher“
Klaus Märkert – Hab Sonne
Interessante Menschen definiere ich nicht über das, was sie können, sondern über das, was sie erlebt haben. Ich war sehr neugierig, als ich von Klaus Märkerts Buch „Hab Sonne“ erfuhr, denn als Mitbegründer des Zwischenfall, Szene-DJ, Streetworker, Taxifahrer und Schriftsteller kann man von einem wahrlich ereignisreichen Leben sprechen. Doch es gibt auch Schatten im Leben des Autors und ohne sich darin zu verstecken erzählt Märkert auf seine eigene, sehr trockene und doch flüssig zu lesenden Weise, wie das war, damals in den 80ern. In einer mehr oder weniger autobiografischen Geschichte mischt er seine Erfahrungen als DJ und als Patient mit Herzinfarkt in direkte Worte, die sich lesen, als würde man sich unterhalten. Eine Unterhaltung mit einem interessanten Menschen. „Dabei handelte es sich ja nicht um eine Freundlichkeit, es war nicht wirklich so, dass man sich gegenseitig einen guten Tag wünschte, an und für sich wünschte man sich eher die Pest an den Hals als einen guten Zag. Für mich steckte hinter dem Grußgebaren die Aufforderung: Sie genau hin, wir sind in der Überzahl und Dich kriegen wir auch noch klein!“
Kein Roman, keine Geschichte und die Phantasie besteht darin, das Leben eines anderen nachzuempfinden und mit den passenden Stücken eines Szene-DJ musikalisch zu untermalen. Nicht mehr und nicht weniger. Man muss diese Art von Büchern mögen, denn sonst steht man nach 227 Seiten da und fragt sich: Und jetzt?
Michael Ende – Momo
Das die Auswahl meines Lieblingsbuchs eher subjektiver Natur sein würde, ahnte ich vorher und egal mit welchem späteren Werk ich dieses eine verglich, immer wieder endete ich bei Momo, einem Kinderbuch von Michael Ende, das eine Brücke von der Jugend zu meinem Erwachsen-Sein spannt, an der ich noch heute festhalte. Ich habe dieses Buch 2 mal sehr bewusst gelesen und mich jedes mal und unter anderen Vorzeichen darin verloren. Als ich vor 26 Jahren Momo geschenkt bekam, las ich von dem kleinen Mädchen, dass sich mit einer Stundenblume bewaffnet dem Kampf gegen die übermächtigen grauen Herren stellt. Ich las von ihren Abenteuern und den merkwürdigen Herren, die den Menschen auf der Welt in eine Maschinerie des Zeitsparens zwängen wollen, in meiner Welt, die ich langweilig fand ein unvorstellbarer Gedanke. Eine Schildkröte wie Kassiopeia wollte ich auch, eine Schildkröte, die mir von einem Meister Hora geschickt wird um mich im Dschungel der Zeit zurechtzufinden. Wort für Wort folgte ich Momo auf ihrer Reise gegen einen scheinbar unbesiegbaren Feind.
Als ich dann vor einigen Jahren umgezogen bin, fiel mir Momo wieder in die Hände. Zwischen all den Umzugskarton setzte ich mich hin und begann zu lesen. Eigentlich wollte ich nur blättern, doch ich las, bis ich fertig war, legte mich erschöpft und voller Gedanken ins Bett und schlief. Das Buch hatte mich ein zweites mal in seinen Bann gezogen, diesmal verstand ich Michael Ende anders. Ich las von dem Versuch der Menschen ihr ganzes Leben lang Zeit zu sparen um dann zu erkennen dass ihnen die Zeit bereits davongelaufen war. Ich las von der Hoffnung im Alter von ihrem Zeitkonto existieren zu können. Aber da war es bereits zu spät. Sie hat vergessen, im Jetzt zu leben.
Momo ist ein zeitloses Buch. Michael Ende hat es verstanden, die Zeit anzuhalten. Was früher eine schöne Geschichte war ist heute immer noch eine, es liegt wohl an mir selbst, die Botschaften zu entschlüsseln und für mich umzusetzen. „Und wenn sie den ergreifenden oder auch den komischen Begebenheiten lauschten, die auf der Bühne dargestellt wurden, dann war es ihnen, als ob jenes nur gespielte Leben auf geheimnisvolle Weise wirklicher wäre, als ihr eigenes, alltägliches. Und sie liebten es, auf diese andere Wirklichkeit hinzuhorchen.“ Langeweile habe ich heute, weil ich Lust darauf habe, einfach mal nichts zu tun.
Die Gothics ist aber auch ein tolles Buch, habs selbst hier zuhause liegen und obwohl ich es schon gefühlte hundertmal gelesen habe, ist es für mich immer wieder aufs neue lesenwert und interessant. Und noch dazu die schönen Bilder- die runden das ganze optisch sehr schön ab. :)
Schattenwelt habe ich auch verschlugen und bin eigentlich überrascht darüber, dass das Buch doch nicht so bekannt ist, wie ich dachte. Schade eigentlich, denn wer meiner Meinung nach wirklich etwas über die Entstehung von Kultbands wie Siouxsie & the Banshees, Sisters of Mercy und co. wissen will, kommt um dieses Buch nicht drum herum.
Momo ist ein fantastisches Buch. Habe als Kind die drei Kassetten gehört und später das Buch gelesen. Es ist zeitlos, super geschrieben und voller Wahrheit
Momo zählt auch zu meinen Favoriten. Überhaupt stelle ich immer wieder fest, dass sich unter den Büchern, die mir wirklich etwas bedeuten, erstaunlich viele Kinderbücher befinden. Vielleicht, weil wir uns als Kinder noch so viel mehr auf die in dem Büchern beschriebenen Welten einlassen können als heute?