Im heutigen Beitrag kommt Lea zu Wort, die in Ost-Berlin aufwuchs. Sie berichtet uns von ihren ersten musikalischen Begegnungen mitte der 80er Jahre, der folgenden Zeit des Auf- und Umbruchs in den 90ern und ihrem Wiedereinstieg in die Szene vor einem Jahr durch den MP3-Player eines Bekannten. Für das März-Thema des Gothic Friday erzählt sie ihre Geschichte.
Vergangenheit
Ich wuchs in einer sehr behüteten Familie in Ost-Berlin auf. Während in meinem Elternhaus vornehmlich deutscher Schlager gehört wurde, erwachte meine Liebe zur Musik im Alter von 13 Jahren. Ich weiß noch, wie wir damals bei meiner damaligen besten Freundin im Zimmer saßen und Radio hörten. Der Jugendsender DT64 war bei ihr hoch im Kurs. Und eines Samstagabends hörten wir dann Parocktikum, damit war es um mich geschehen. Das war bei uns in der DDR die einzige offizielle Möglichkeit alternative Musik aus dem Westen, sowie aber auch – für uns – unbekannte Bands aus dem Osten zu entdecken. Schnell verliebte ich mich in The Cure, Siouxsie and the Banshees, Cocteau Twins, Lydia Lunch, Nick Cave oder Sisters of Mercy, die in der Sendung regelmäßig gespielt wurden. Aber auch Bands aus dem Osten wie Die Vision und AG Geige konnten mich begeistern.
Schnell saßen wir jeden Samstag entweder bei mir oder bei ihr im Zimmer und haben uns die Songs aus dem Radio auf Kassette aufgenommen. Wir haben uns die ganze Woche immer auf diesen Abend gefreut, über mehrere Jahre war das Parocktikum die Verbindung zu „meiner“ Musik. Unsere Eltern waren gar nicht begeistert auf Grund unserer Liebe zu dieser Musik. Sie waren damals sehr konservativ und ganz auf Parteilinie. Somit blieb auch mir damals nichts anderes übrig als mich dem zu beugen. Sonst hatte ich mit meinen Eltern aber auch ein sehr gutes Verhältnis, abgesehen von der Musik gab es sehr wenige Konflikte. Trotzdem weckte die Musik aus dem Radio das Bedürfnis nach mehr, nach Freiheit.
Bis ich diese Freiheit erlangen sollte, dauerte es ein paar Jahre. 1989 schließlich kam der Fall der Mauer. Das war eine sehr aufregende Zeit, die ich heute nicht mehr wirklich in Worte fassen kann. Plötzlich war es mir möglich, nach West-Berlin zu gehen und eine komplett neue Welt zu entdecken. Ich weiß noch, wie ich die ersten Wochen und Monate diese neue Welt zu Fuß für mich entdeckte. Wie sich schnell alles änderte, neue Läden aufmachten, alte Läden verschwanden. Die Zeit damals war rasend schnell, aufregend, viele waren hungrig nach dem, was der Westen ihnen versprach. Für meine Eltern hingegen war diese Zeit schwierig. Sie hatten in der DDR gutbezahlte Arbeit, hatten politisch nie ein Problem mit dem System. Quasi über Nacht erwachten sie in einer sehr lauten Welt.
Für mich, 1990 wurde ich 16 Jahre alt, war das in erster Linie eine spannende Zeit. Schnell entdeckte ich in West-Berlin einen kleinen Plattenladen. Dort konnte ich mir endlich all Alben der Bands kaufen, die ich vorher nur im Radio hören konnte. Mein erstes gekauftes Album war die MC von The Cures Pornography. Ich war sehr stolz darauf und hörte die Kassette jeden Tag. Es folgten weitere Kassetten der mir ans Herz gewachsenen Bands. Bis ich 1992 mir endlich einen CD-Player angeschafft habe und nochmal völlig begeistert von der viel besseren Tonqualität war. Zu dieser Zeit entdeckte ich auch den Zugang zur Gothic-Szene. Eine Freundin nahm mich mit zu einer Party und dieses Gefühl werde ich nicht mehr vergessen. Die Musik, die Menschen, die Mystik. Gleichzeitig gab es bei uns zu jener Zeit viele Unruhen, besonders gesellschaftspolitischer Natur. Viele Menschen radikalisierten sich, Asylheime wurden angegriffen. All die Ereignisse heute erinnern mich sehr stark an die damalige Zeit. Nun, ich war nie ein sonderlich politischer Mensch und bin das bis heute nicht. Meine Antwort auf das Zeitgeschehen damals wie heute war und ist, dass ich mich in meine Welt zurückziehe. Ich lese sehr viel, höre Musik, beschäftige mich mit den Dingen, die mich interessieren und versuche so gut es geht alles Weitere auszublenden.
In den 90ern funktionierte das auf musikalischer Ebene hervorragend. Dafür sorgten Bands wie In My Rosary, Project Pitchfork, Black Tape For A Blue Girl und viele weitere mehr. Ich ging in Discos, las die damals richtig tolle Zillo Zeitschrift und lebte so vor mich hin. Ich wollte nie rebellieren, nie etwas aussagen, sondern einfach für mich und meine Freunde da sein. Sicherlich könnte man das als ignorant bezeichnen, ich selbst hatte aber nie das Verlangen etwas verändern zu wollen.
Gegenwart
Umso mehr wurde natürlich auch meine Welt ab Ende der 90er Jahre auf den Kopf gestellt. In die Szene wurden immer mehr Stile gespült, mit denen ich bis heute nichts anfangen kann. Sei es Metal, Techno oder Schlager. Die Sprache in den Songs wurde zunehmend niveauloser und schließlich völlig infantil. Das war nicht mehr meine Musik. Das Internet selbst hielt bei mir erst vor 6 Jahren durch meine Kinder den Einzug in den Haushalt. Mit Computern kann ich mich ehrlich gesagt bis heute nicht anfreunden. Zu sehr mag ich gute Bücher und CDs und Kassetten. Ich muss etwas in der Hand halten um es schätzen zu können.
Aufgrund dieser Umwälzungen – gesellschaftlich und in der Szene – habe ich mich in den letzten Jahren noch mehr zurückgezogen als vorher schon. Parties und Konzerte interessierten mich nicht. Es sollte tatsächlich erst bis ins Jahr 2015 dauern, bis ich die „neue Gothic-Szene“ für mich entdecken sollte. Ich war im Sommer 2015 mit einem alten Freund, wir haben uns durch Zufall in der Stadt getroffen, bei einem Ausflug. Auf der Hin- und Rückfahrt hatte er Musik im MP3-Player, die mich sehr an alte Zeiten erinnerte und meine Neugier war sofort wieder geweckt. Dabei handelte es sich um die „German Gothic Isn’t Dead“-Compilation. Ich fragte meinen Freund, wo ich diese Musik herbekommen kann und er gab mir die Internetadresse des Projekts hinter der Zusammenstellung. Ich staunte nicht schlecht, als ich durch deren Veröffentlichungen so viele neue, aber auch alte Bands (wieder) entdeckt habe. Dass beispielsweise Ralf Jesek, damals noch bei In My Rosary, musikalisch immer noch aktiv ist hat mich sehr gefreut. Ich habe viele neue Bands wie Minuit Machine, Ben Bloodygrave, Saigon Blue Rain, Savage Sister und Lights That Change für mich entdeckt. Ich bin wieder neugieriger geworden, gehe hier in Berlin auf Konzerte und entdecke eine scheinbar neue Musikszene für mich. Eine Szene, die in den letzten Jahren leider an mir vorbeigegangen ist. Es fühlt sich fast so wie vor 25 Jahren an, als ich durch die Plattenläden schlenderte und auf der Suche nach neuer Musik war. Dankbar bin ich dem Axel Meßinger, der Initiator hinter dem At Sea Compilation Projekt. Dieser erklärte mir wie sich Bands heute vermarkten, er gab mir viele Internetadressen zur heutigen Szene (so bin ich auch auf Spontis gestoßen) und Tipps wie man sich heute so auf dem Laufenden hält.
Auch wenn mir natürlich nicht alles gefällt, was er mit seinem Projekt so umsetzt (beispielsweise die Metal-Compilation zuletzt), ist es schön zu sehen, dass es Menschen gibt, welche die Underground-Szene für Neugierige öffnen. Und dabei geduldig sind, Menschen wie mir moderne Vertriebswege zu erklären. Auch wenn es mit meiner Abscheu vor Computer kollidiert, muss man wohl den Weg in Anspruch nehmen möchte man am heutigen Szeneleben Teil haben.
Ewige Top 5:
- Siouxsie and the Banshees: Arabian Knights
- Cocteau Twins: Lorelei
- Clan of Xymox: No Words
- Deine Lakaien: Fighting The Green
- In My Rosary: Little Death
Aktuelle Top 5:
- Minuit Machine: Trauma
- I-M-R: By The Fire
- Wind Atlas: The Goddess Is Where It Is Venerated
- She Past Away: Narin Yalnizlik
- Savage Sister: Pale Surrender
AG Geige hab´ich auch. (Die „Foyer Des Arts“ des Ostens ;-))
Leider (oder nicht?!) mit „ausgepiepten“ Textpassagen.
Die Vision stehen auch im Regal, wurden aber schon lange nicht mehr gehört.
Trifft die Sache im Kern, besser hätte ich`s auch nicht formulieren können…
LG Jörg
Danke für Black Tape for a blue Girl.
Die hatte ich völlig vergessen.
Hallo Lea, das was Du über die Erfahrungen in Deinem Elternhaus schreibst und das, was die Wende für Deine Eltern bedeutete, erinnert mich sehr an die Geschichte einer guten Freundin von mir. Nicht immer war es einfach, damit umzugehen, wenn auf einmal das, an was geglaubt wurde, zusammenbricht und die Zukunft ungewiss ist. Das stelle ich mir ziemlich unangenehm vor – z.B. auch, wenn sich herausstellt, dass vieles, woran man geglaubt hat, in Wirklichkeit ganz anders war…
Haben Deine Eltern inzwischen ihren Frieden mit der Situation machen können und Dich in Deinem Freiheitsgedanken akzeptiert?
Wir sind übrigens gleichalt, ich wurde 1990 auch 16 Jahre alt und habe kurz darauf das dunkle Nachtleben von Berlin zum ersten Mal kennen gelernt (Anfang 1991 das „Linientreu“). Zwar bin ich Westberlinerin, aber ich lebte damals gerade nicht in Berlin, erst 1992 kam ich dauerhaft dorthin zurück. Vielleicht kennen wir uns ja sogar vom Sehen, die damalige Szene und Partylandschaft war ja recht überschaubar…
Die Umbrüche, die die Szene für viele Ältere (beinahe) kippen ließ, beschreibst Du sehr gut, ich empfinde es ebenso.
An die zeit wo ich vorm Radio sass und auf Cassette aufgenommen habe , kenne ich auch noch zu gut. Obwohl die Cassetten ja auch nicht billig waren und man öfters Blattsalat hatte.
Der Abschnitt über deine Eltern , der kommt mir auch sehr bekannt vor. “ Sie hatten in der DDR gutbezahlte Arbeit, hatten politisch nie ein Problem mit dem System. Quasi über Nacht erwachten sie in einer sehr lauten Welt “ Da geb ich dir zu 100 % Recht. So war es bei mir auch .
Aber schön das du wieder in die Szene zurück gefunden hast ! Herzlich willkommen zurück !!!
Für mich, die ich erst nach dem Mauerfall geboren wurde, ist das garnicht wirklich vorstellbar, wie es war in dieser Situation groß zu werden, daher finde ich es immer wieder schön, wenn andere ihre Erlebnisse teilen. Danke dafür.
Danke auch für die Musik hinweise, für mich doch wieder ein Anstoß, das ein oder andere mal (wieder) anzuhören.
Ich bin auch ein Fan der At Sea Compilations, kein Vergleich zu den sonst üblichen stupiden Kommerzcompilations der letzten Jahre. Wer die alten Sampler der Label 4AD / Projekt / Hyperium / Derriere Records / Weisser Herbst usw. mag wird hier bestimmt fündig.
An dieser Stelle also nochmal: Danke Axel!!!
Hey Lea,
Hast du in den Jahren (?) deines Rückzugs aus der Szene deine „alte“ Musik gehört oder hast du versucht in anderen musikalischen Gefilden zu wildern?
Hallo zusammen,
Danke für eure zahlreichen Kommentare. Ich bin derzeit relativ selten im Internet, also hat es ein wenig gedauert zu antworten. Entschuldigung dafür.
@Rena:
Ich habe meist die Musik gehört, mit der ich aufgewachsen bin. Ansonsten habe ich mich für Musik kaum mehr interessiert, sondern für andere Bereiche wie Literatur, Reisen oder handwerklich kreative Arbeiten.
@Tanzfledermaus:
Im „Linientreu“ war ich in der Tat recht häufig, genauso wie natürlich im „Dunckerclub“. Beim Letzteren war ich übrigens letztes Jahr zum ersten Mal seit den 90ern und da hat sich erfreulicherweise recht wenig verändert, auch wenn er zwischendurch wohl mal geschlossen hatte, wenn ich das richtig in Erfahrung gebracht habe? Kann auf jeden Fall sein, dass wir uns vom Sehen her kennen.
Meine Eltern haben den Frieden mit meinem Lebensweg gemacht, die Wende jedoch haben sie bis heute nicht verkraftet. Vielleicht wäre es einfacher gewesen, hätten sie nach der Wende eine gute Arbeit gefunden. Dies ist leider nicht passiert und so kam doch der soziale Abstieg. Mich macht das auch traurig, denn die Biografien der Ostdeutschen Bevölkerung wurden und werden leider nicht so respektiert, wie es nötig wäre.
@Ronny: Danke. Es fühlt sich auf jeden Fall gut an.
tja bin auch 1974 geboren, aus Leipzig und bin Ende der 80er über Cure dazugestoßen. Die Wende war wie eine Befreiung von dem einengenden System, welches keine von der Masse abweichende Individuen aktzeptieren wollte. Und in Leipzig gings ja in den frühen 90er mit Konzerten und WGT szenemäßig voll los. Mit vielen neuen Strömungen kann ich auch nix anfangen, bin die ganze Zeit dabei geblieben, aktuell sind ja mit Minuit machine, she past away und vielen anderen neuen Bands wieder interessante Sachen zu entdecken.