Gothic Friday Juni: Ein temporärer Misanthrop mit einer Schwäche für Menschen (Robert)

Es gibt zwei Dinge, die passen nicht zueinander. Festivals und Ich. Menschenmassen, Konzerte im strömenden Regen oder bei brennender Sonne, die Achseln des Nachbarn 5cm vom Ohr entfernt, übernachten in muffigen Zelten, Dixie-Toiletten und Duschräume ohne Trennwand. Die Liste der Befindlichkeiten ließe sich beliebig lang fortsetzen. Ich bin verwöhnt, anspruchsvoll, wunderlich und sehr eigen, vor allem was meine Unterbringung angeht. Festivals also nur mit Hotel, eigener Dusche, anständigem Kaffee und ausgiebigem Frühstück. Und vor allem: Temporäre Ruhe vor all den komischen Menschen, die sich der Erfahrung nach auch immer öfter auf Gothic-Festivals tummeln. Und nein, früher was ich nicht anders. Ich mochte Zelten noch nie und Camping habe ich förmlich gehasst. Das letzte mal habe ich probiert 2009 auf dem Mera Luna zu zelten, schließlich muss man ja – das predige ich schließlich immer – von Zeit zu Zeit seine Ansichten und Meinungen überprüfen. Hat irgendwie nicht geklappt mit uns.

Als chronischen Misanthropen würde ich mich trotzdem nicht bezeichnen, denn ich weiß durchaus gute Festivals und Konzerte zu schätzen. Nur eben nach meinen Regeln. Und dann, ja dann kann ich eben diese Veranstaltungen, die nicht durch mein Raster der Unmöglichkeiten purzeln, genießen. In vollen Zügen. Und profitiere letzten Endes dann doch von diesem Massenereignis, genau wie all die anderen, die jedes Jahr wieder an den selben Orten in der Republik zu finden sind. Paradoxer Weise sind es dann auch wieder die Menschen vor der Bühne, die ein gutes Festival von einem schlechten Festival unterscheiden. Das Wave-Gotik-Treffen in Leipzig besteht beispielsweise in der Hauptsache aus den Menschen die ich dort treffen kann, die Musik ist nur schmückendes Beiwerk, abendliche Tanzflächen-Unterhaltung oder Stimmungsmacher (und damit meine ich nicht nur Ausgelassenheit). Genug Einleitung für den Gothic-Friday im Juni:

Warum fährst du zum WGT?

Ich nehme das Wave-Gotik-Treffen beim Wort, besser gesagt beim letzten Wort. Für mich ist es ein Treffen. Dabei bleibt jedoch festzuhalten, dass das eine ohne das andere nicht möglich wäre. Die Musik bleibt das gemeinsame Element der Szene. Die Vielfältigkeit der Bands, Ausstellungen und Veranstaltungen im Rahmen des WGT bieten tatsächlich für fast jeden etwas, egal welcher Facette oder Splittergruppe der schwarzen Szene man sich zugehörig fühlt. Selbst für die, die sich überhaupt nirgendwo einordnen wollen, wird etwas geboten. Es ist das größte und bekannteste „Festival“ der internationalen schwarzen Szene und lockt Gothics aus aller Welt nach Leipzig. Allein das macht es zu einer Begegnungsstätte, einer Convention, einer Ausstellung und zum einem Treffen der Szene, die sich für mich so unverzichtbar gemacht hat, wie die Luft zum atmen. Na gut, das ist vielleicht ein bisschen dick aufgetragen – sagen wir einfach, es ist mir sehr wichtig und mein bedeutungsvollester Termin des Jahres. Nirgendwo sonst habe ich die Möglichkeit, ALLE Menschen zu treffen, die ich kenne oder kennen lernen möchte. In den Zeiten des Internets, in der die Welt sehr klein zu sein scheint, ist es wichtig geworden, reale Orte der Begegnung zu schaffen um etwas von der imaginären Distanz aufzuheben, die in der Regel durch Computer-Monitore erzeugt wird. Freunde aus London, Bekannte aus New York, Herzmenschen aus Heidelberg, Autoren und Kommentatoren dieses Blogs aus ganz Deutschland (die Liste könnte länger werden) kommen alle zum WGT. Deshalb fahre ich dorthin. Die Musik ist in der Hintergrund gerückt, auch wenn sie als begleitender und formgebender Rahmen unverzichtbar bleibt.

Wie war Dein letztes WGT?

WGT WG 2016 - Gruppenbild
Unser WGT-Wohngemeinschaft 2016. Mittlerweile haben alle ausgeschlafen und sind bereit, loszureiten.

Super. Großartig. Unglaublich. Intensiv. Spannend. Interessant. Lehrreich. Berührend. Emotional. Authentisch. Wirklich. Echt. Unmittelbar von dem beeinflusst, was ich erlebt habe. Logischerweise. Die Musik tritt – wie bereits erwähnt – immer weiter in den Hintergrund, auch wenn ich Nächtelang auf dem GPF (Gothic Pogo Festival) getanzt habe und ich Lene Lovich in jeder Bühnenlage toll finde. Es sind die Menschen, die es besonders gemacht haben. Menschen die sich aus ihren Avataren, Profilbilder und Nicknamen erheben, auf dich zukommen und mit dir reden, dich umarmen, dich anlächeln oder sonstwas. All das lässt Dich vergessen, was du eigentlich mal gegen das WGT gehegt hast. Die Eröffnungsfeier im Freizeitpark, die völlig überfüllten Locations, grandios schlechte Idole aus vergangenen Zeiten und natürlich das bescheidende Wetter. Es sind die (viel zu kurzen) Begegnungen und Momente, die in dieser subtilen Atmosphäre einer Parallelgesellschaft gedeihen. Die Normalos sind hier die Fremdkörper, Unverständnis für die Art zu leben gibt es hier nicht.

Unsere 3-Paare-WG im Herzen Leipzig hat, trotz anderer Zusammenstellung, sehr gut funktioniert. Abendliche Gespräche und Lästereien inklusive, ebenso der Blick in unausgeschlafene Morgens-Grufti-Gesichter, der noch angst einflößender ist als zu anderen Tageszeiten, weil korrigierende Schminke fehlt, Haarspray versagt hat oder wegen der ernüchternden Gewissheit, dass selbst der echteste Grufti nicht in Pikes schläft. Das alternative GPF war das abendliche Highlight und an allen Abenden einen Besuch wert, hier lief einfach „meine“ Musik, sei es von DJ-Team des Young & Cold Festivals aus Augsburg oder auch das Set der Shockwaver, das einem ambitionierten Waver keine ruhige Minute gönnt. Und natürlich (oder vor allem) das Spontis-Treffen, auf das ich aber bereits an anderer Stelle eingegangen bin.

Wie war Dein erstes WGT?

Erstes WGT - 2010
Mein erstes WGT war 2010. Da habe ich mich noch am Hauptbahnhof herumgetrieben um die Ankommenden zu beobachten.

Mystischer. Geheimnisvoller. Eindrucksvoller. Überraschender. Überwältigender. Mein erstes WGT war 2010 (noch gar nicht so lange her) und ich erinnere mich noch gut daran, wie ich erstmals an der AGRA stand und sich der Inhalt einer Tram an der Haltestelle erbrach. Wie schwarze Wellen schwappten die Gestalten gegen die Eingangskontrollen um kurz dahinter auf dem Laufsteg der Eitelkeiten in der Masse unterzugehen. Du machst Dir einfach keine Vorstellung davon, wie es hier in Leipzig aussieht, wie überall die Gruftis lauern, Läden, Cafés und Straßen befüllen und die Stadt in diese besondere Atmosphäre hüllen. Das ist schon ziemlich eindrucksvoll und hinterließ mich zunächst sprachlos. Ich hatte mich mit einigen Leuten, die ich bereits durch das Bloggen kennengelernt hatte, verabredet, doch diese Treffen standen noch aus und so irrte ich ziellos umher und war schlichtweg überfordert mit den Reizen, die so ein schwarzer Reigen ausüben kann. 2010 habe ich mir noch ziemlich viele Bands angesehen, weil das der Faden ist, an dem du Dich langhangelst. Man machte sich im Vorfeld so viele Vorstellungen vom Wave-Gotik-Treffen. All die Erfahrungsberichte und Vergangenen Geschichten über das Festival in Leipzig sorgen für so eine mystische Stimmung, als wäre man dabei, wenn etwas großartiges passiert. Ich glaube, wenn die das WGT so packt wie mich damals, kommst du immer wieder. Du kannst einfach nicht anders. Mera Luna und Amphi 2009 oder auch das Blackfield-Festival 2008 sind einfach keine Maßstäbe, die man anlegen kann. Hier in Leipzig war (ist) alles anders. Überraschend war dann natürlich auch das Lehrgeld das du bezahlst. Komm am Donnerstag und fahre am Dienstag. Die meiste Zeit verbringst du mit dem Wechsel der Locations. Meide Moritzbastei und Innenstadt. Bestelle im Hotel kein Frühstück zu dem du sowieso nicht pünktlich kommst und schlafe nicht im Nachtbus in Richtung Schkeuditz ein. Falls mich mal jemand nach Tipps fragen sollte.

Was war dein schönstes Festival-Erlebnis?

Schwierige Frage. Vielleicht war es Silvia, die mir im 4Rooms bei der Depeche Mode Party an der Pluderhose zupfte und fragte: „Bist du der Robert von Spontis?“ oder auch das erste Spontis-Treffen, als tatsächlich Leute kamen und mich begrüßten. Vielleicht war es das Gespräch mit Aristides im Park, bei dem ich merkte, es gibt noch andere die genauso ticken wie du selbst und mit denen du dann plötzlich Ewigkeiten reden könntest. Vielleicht war es auch die Führung auf dem Südfriedhof oder der Kuss in der Umkleidekabine, vielleicht die erste Blaue Stunde, vielleicht auch die Zeit auf der AGRA, um die Leute zu beobachten. Vielleicht war es auch das Blackfield-Festival 2008, das mein erstes Gothic-Festival war, nachdem ich in der Jugend kurz einen Abstecher in diese Subkultur machte, vielleicht auch das Amphi 2011, als ich auf lächerlich weißen Liegen die Sonne hinter dem Kölner Dom versinken sah. Ehrlich: Keine Ahnung. Ich kann und will mich nicht entscheiden.

Was war Dein eindrücklichstes Konzert?

DAF im Pulp 2010
DAF im Pulp vor 150 Leuten. Hier eine der wenigen Minuten, in der Gabi Delgado sich mal nicht bewegte wie ein wild gewordener Derwisch.

Auf dem WGT war das die polnische Band „Das Moon“ 2013 in der Moritzbastei, was nicht nur an der Band alleine lag, sondern auch an der besonderen Stimmung, die in dem Gewölbeartigen Keller durch die Fugen drang und der räumlichen Begrenzung. Wenn du eine Band mit 100 oder 150 Leuten siehst, ist das schon etwas ganz großartiges. Dazu die völlige Überraschung der musikalische Bandbreite, wenn man sich zu Hause nur 1 Stück der Band angehört hat. Noch großartigere Konzerte fanden nicht auf dem WGT statt. DAF in der Duisburger Discothek Pulp zusammen mit No More zu sehen, war schon sehr intensiv. Wieder 200 Leute, alles Hardcore-DAF-Anhänger, da kochte der Saal förmlich, schon bei No More. Ihr merkt schon, ich stehe auf kleine „exklusive“ Konzerte, daher fand ich DM in Düsseldorf mit 70.000 anderen auch irgendwie anstrengend. Hat mir ein dann tatsächlich das Konzert versaut. Fehlfarben im ZAKK in Düsseldorf fand ich auch ganz großartig. Auch die Broilers auf dem Vanitas-Zusatzkonzert in der Düsseldorfer Mitsubishi-Dinges-Halle war echt super.

Stichwort Mitsubishi-Dingens: Ich glaube das eindrücklichste Konzert war eins, bei dem ich gar nicht dabei war. 1987 vor der Essener Grugahalle bei Depeche Mode. Ich weiß. Redet man sich schön, ist völlig verklärt und nur geil, weil es so lange her ist. Ich weiß. Ist aber eine tolle Erinnerung als die ganze Kids da vor der Halle saßen und zu „Never let me down“ mit den Armen wedelten. Konzert werde eindrücklich, wenn du das Gefühl hast, ein Teil von etwas besonderem zu sein. Es fühlt sich surreal an, unecht irgendwie, weil man ja in dem Augenblick des Konzertes gar nicht weiß, wie eindrücklich das Ganze später einmal wird. Du weißt einfach, das ist was außergewöhnliches. Nicht weil es überraschend eine weitere Zugabe gab oder mich der Sänger angeschaut hat, sondern vielmehr, weil die Songs und die Atmosphäre dich einfach packen und schütteln. Ganz tief drinnen.

Welche Festivals sind noch Teil Deines schwarzen Planeten?

Depeche Mode 2010
Depeche Mode 2010 – Zusammen mit 70.000 anderen schwankte ich zwischen Hingabe und Fluchtgedanken

Früher mal Mera Luna, Blackfield und Amphi. Ganz früher auch mal Mayday oder auch das Bizarre-Festival. Zum Mera Luna fahre ich gar nicht mehr, weil ich Zelten und Wacken-Atmosphäre nicht mag. Beim Blackfield gefallen mir meistens die Bands nicht wirklich und das Amphi besuche ich eher nur sporadisch, weil es eben vor der Haustür liegt. Entweder um Andrew Eldritch in neonfarbenen Klamotten zu sehen oder um gute Freunde zu treffen, die sich nun mal auf größeren Festivals zahlreicher einfinden als auf kleineren. Das Young & Cold Festival ist so ein kleineres, für das ich auch mal 6 Stunden in Richtung Süden unterwegs bin. Für mich eine lohnenswerte zeitliche Investition, weil ich Musik, Menschen und Größe des Festivals optimal finde.

Man sollte wissen, ich bin ein wenig Menschenscheu (soll man ja nicht meinen) und große Menschenmengen mag ich nicht wirklich (siehe Depeche Mode), daher darf man mich ruhig als Festival-Muffel bezeichnen. Hunderte besoffene „Gruftis“ auf dem Amphi, sich in den Sand des Strandes am Rhein übergeben oder die auf dem Mera Luna nachts auf die Zelte plumpsen finde ich einfach doof. Ja, da bin ich Eigen und bleibe lieber fern. Manchmal ärgere ich mich im Nachhinein, manchmal bin ich froh nicht dabei gewesen zu sein. Aus mir wird definitiv kein Fan-Boy mehr, der jedes Konzert seiner Lieblingsband besucht, in der ersten Reihe steht und in Ohnmacht fällt. Und wenn mir ein Festival nicht gefällt, weil mir einfach alles gegen den Strich geht, scheue ich auch nicht davor zurück mich ins Auto zu setzen und die Flucht zu ergreifen.Wenn es das Budget erlauben würde, könnte ich mir vorstellen, noch mehr Festivals aus unserem hauseigenen Festivalkalender zu besuchen. Leider kann ich kein Geld drucken und jedes Wochenende für eine solche Veranstaltung opfern. Aber unverhofft kommt oft und daher verliere ich nie den Glauben an einen Motiviationsschub, wieder einmal den Horizont zu erweitern.

 

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Donna-Clara
Donna-Clara (@guest_52413)
Vor 8 Jahre

Ich lege dir einfach mal das NCN in Deutzen ans Herz. Nicht zu viele Leute, schöne Location, tolle Bands und mit 57 EUR für 3 Tage mehr als erschwinglich.

https://www.ncn-festival.de/

Flederflausch
Flederflausch(@flederflausch)
Vor 8 Jahre

Gnihihi, wir hatten unsere WGT Jungferntaufe im gleichen Jahr :D

Satoria
Satoria (@guest_52417)
Vor 8 Jahre

„Es sind die Menschen, die es besonders gemacht haben. Menschen die sich aus ihren Avataren, Profilbilder und Nicknamen erheben, auf dich zukommen und mit dir reden, dich umarmen, dich anlächeln oder sonstwas.“

Genau, und ich eigentlich Schüchterne habe mich getraut, Dich direkt auf dem GPF zu überfallen….Puh, gar nicht meine Art sonst und offenbar war’s ok.
Hach, genau, die Shockwaveparty, auf der ich eher zufällig landete, war mein absolutes Festivalhighlight… neben „Position Paralle“. Vielleicht schaffe ich ja doch noch meinen Beitrag..

Kathi
Kathi(@kathi)
Vor 8 Jahre

Ja es sind die Menschen…
Als Quintessenz stimmt ich dir da absolut zu..
Und ich freue mich jedes Mal wieder riesig, dass du deine „Halb-Misanthropie“ überwindest um zum WGT zu kommen. Ohne dich und die Meute wärs nicht daselbe.

Flederflausch
Flederflausch(@flederflausch)
Vor 8 Jahre

@Robert: Das sind diese Momente, bei denen man sich im Nachhinein fragt, was eigentllich nicht mit einem stimmte und gerne zurückreisen möchte in der Zeit um sich sebst mal ordentlich zu schütteln. (Siehe meine Erfahrung mit „Enjoy the Silence“ und Depeche Mode im Gothic Friday im März). Auf der anderen Seite steht die Frage, was wäre wenn und wäre man dann jetzt an einem ähnlichen Punkt, wie man aktuell ist? Wäre man ähnlich erfüllt und zufrieden, würde man ähnliche Dinge gerne ändern? I Grunde müßig, sich damit zu befassen, solche Fragen kann man nicht beantworten – man kann nur versuchen gegenwärtig und zukünftig mit offeneren Augen durch die Welt zu gehen – das gelingt dir nicht nur gut, du bannst es sogar in Worte und teilst es mit anderen. Wer weiß – vllt war das ja dazu gut?!

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