Woran glaubst Du? Nichts ist individueller geworden, als der persönliche Glaube.
Vor 100 Jahren strömten die Menschen in die Kirchen und Gotteshäuser, sie folgten den Regeln ihrer Religion und lebten oftmals auf die Art und Weise, die man ihnen predigte. Glaube war untrennbar mit Religion verbunden, mit einem Gott, der schützend die Hand über den Einzelnen hält. Der Gedanke daran spendete Sicherheit vor dem Unerklärlichen. Die Zeiten haben sich geändert. Wir leben in einer aufgeklärten und wissenschaftlichen Zeit, in der nicht zuletzt die Säkularisierung dafür sorgte, dass man sich Gedanken darüber macht, an wen und warum man überhaupt glaubt. Phänomene, die man sich einst nicht erklären konnte, wurden als göttliche Macht interpretiert. Wenn man weiß, warum etwas passiert, ist der Glaube überflüssig. Glaube ist ein Synonym für Überzeugung geworden. Glaube wird immer individueller, vielschichtiger, komplexer. Und dennoch, es bleiben immer Fragen offen, auf die man keine Antwort erhält.
Die Fragestellung des Gothic Friday, die sich mit dem persönlichen Glauben beschäftigt, ist überfällig geworden. Den schwarz gekleideten Menschen der Subkultur sagte man schon in den 80ern absonderliche Glaubensrichtungen nach. Symbole, Ästhetik und der Hang zur Provokation in Musik und Inhalten wurden verantwortlich gemacht. Ist das immer noch so? Das November-Thema zeigt, dass Gothics keineswegs absonderlichen Glaubensrichtungen nachgehen, sondern normaler sind, als es sich mancher wünschen würde. Die Beschäftigung mit der Thematik und die vielen tollen Artikel zeigen jedoch, dass man sich gerne und ausführlich mit dem Thema auseinandersetzt. Vielleicht sogar intensiver als in anderen Subkulturen. Aber das wäre dann auch das Einzige, was von dem alten Klischee übrig geblieben ist.
Das die Beschäftigung mit der Religion diese nicht zwangsläufig ausschließt beweist beispielsweise The Power of Metal: „Doch wenn man einfach alle Scheuklappen, Klischees und Stereotypen außen vor lässt und sich mit der Thematik näher auseinandersetzt, wird man vielleicht feststellen, dass die Zugehörigkeit zur Metal- oder Gothicszene ein Dasein als gläubiger Christ nicht ausschließt.“ Eine absurde Vorstellung? Natürlich nicht, nur eine Sichtweise von vielen und ein Weg mit seinem Glauben zu verfahren. Eine Brücke zu dieser Ansicht baut Irgendwer: „Dennoch kann ich die Religionsausübung nachvollziehen, sei es um nicht allein zu sein, anderen zu helfen oder die Angst vor dem Tod zu überwinden. Doch könnte man die Aktivitäten auch ohne den Glaubenshintergrund ausüben und die Welt einfach nur etwas besser machen weil man es möchte. Schön wäre es, aber Menschen sind nicht gut. Wieder etwas, an das ich glaube. “
Doch zur Kirche, als Institution der Religion haben viele eine gespaltene Meinung, wie das Beispiel von Lucretia Levi zeigt: „Außerdem fühlte ich mich bei dem Gedanken mit der Kirche verbunden zu sein immer unwohler. Einerseits aufgrund diverser historischer und rezenter Fehltritte und andererseits weil diese so gar nicht zu dem theoretischen Bild passen wollen, welches die Kirche so gerne von sich zeichnet. „Liebe deinen Nächsten“ und „Vor Gott sind alle Menschen gleich“ mögen ja schön klingen, doch diese Theorie wird nicht in die Praxis umgesetzt und außerdem von einem anderen Bild und ganz anderen Begriffen überlagert.“ Melle Noire: „Ich finde es erschreckend, wenn mir Religionsfanatiker „erkenne die Wahrheit !“ zurufen oder mir gar ihre Weltanschauung zwanghaft einimpfen wollen. Das ist anmaßend und arrogant. Denn „glauben“ heißt ja nicht automatisch auch „wissen“.“ Auch Maehnenwolf sieht das ganze sehr kritisch: „Ich glaube nicht an den gütigen, prüfenden, allmächtigen Gott, der von irgendwo „oben“ auf uns herab sieht. Ich kann Unheil und Ungerechtigkeit nicht mit einer Strafe oder Prüfung Gottes erklären und Talent und das Ergebnis harter Arbeit nicht als „gott-gegeben“ hin nehmen.“
Ersetzt Wissen vielleicht religiöse Ansichten? Green Finch schreibt: „Aber zurück zum Thema, ich habe keine Religion. Ich kann auch nichts damit anfangen und interessiere mich nicht dafür. Für mich war Gott immer etwas, dass die Menschen erfunden haben, weil sie sich halt nicht erklären konnten, warum es zum Beispiel regnet. Heute wissen wir aber, wie das meiste funktioniert und dass es nicht mit einer höheren Macht zu tun hat, weshalb Gott für mich überflüssig ist.“
Von vielen wird der Glaube losgelöst von religiösen Zusammenhängen betrachtet. Sie empfinden Glaube als Antrieb ihrer Selbst. Stoffel: „Weil ich an die Liebe glaube … und zwar die Liebe die ich für unsere Tochter und für meinen Merlin empfinde. Beide geben mir die Kraft die ich brauche um eben die Tage die nicht so “rund laufen” zu überstehen und diese Liebe hat so rein gar nix mit Religion und Co. zu tun, sondern kommt aus dem tiefsten Herzen.“ Robert: „Nennt es wie ihr wollt. Es gibt mehr zwischen Himmel und Erde als das, was die Wissenschaft uns zu erklären versucht. Ich glaube an mich selbst, das ist meiner Ansicht nach das wichtigste Fazit dieses Artikels.“ Altgruftipunk verbindet ihre Ansicht mit der Erkenntnis, das Leben zu genießen: „Ich glaube – und hier kann ich wirklich nur für mich sprechen oder versuchend einherstottern – ich glaube, dass der Weg, das Leben zu genießen, keine passive, sondern eine aktive Angelegenheit ist. Ein Erkennen und Fördern der eigenen Fähigkeiten, bei mir resultiert das in Schaffensfreude.“
Shan Dark zitiert eine ganz großartige Textstelle, die den Glauben an sich selbst auf den Punkt bringt: „Treffender als der großartige Vincent Price in seiner Rolle als Nicholas van Ryn in „Dragonwyck“ (Weißer Oleander) kann ich das nicht erklären. Er wird von seiner Frau gefragt: „Nicholas, glaubst Du an Gott?“ – „Ich glaube nur an mich selbst. Ich vertraue auf meine Kraft und auf meine Vernunft. Ich weiß, dass niemand mir helfen kann, wenn ich dazu nicht selber im Stande bin.“„
Doch was ist mit den Dingen, die man sich nicht erklären kann? Was ist mit Schicksal, Vorbestimmung und dem Weg nach dem Tod? Dracovina: „Um es kurz zusammenzufassen: Ich bin mir gar nicht sicher woran ich glauben soll. Manchmal habe ich das Gefühl, es gibt höhere Mächte, die Bestimmung, manchmal denke ich, alles ist nur ein gutes Zusammenspiel mit vielen Prozessen und Einflüssen.“ Rosa Chalybeia sieht die Sache deutlicher: „Wir müssen uns nur darüber klar werden daß wir eben nicht die Krone der Schöpfung sind und über das Leben und wie die Welt funktioniert bei Weitem noch nicht alles wissen. Religion oder Weltbilder füllen diese Lücke, individuell für jeden wie er es für sich als „richtig“ empfindet.“
Ist Glaube ein Hirngespinst? Einige Teilnehmer stellen selbst den Glauben in Frage und füllen die vermeintlich Sinnlosigkeit mit ihrer ganz eigenen Ansicht. Katharina: „Wenn man wie ich eher glaubt, an Nichts zu glauben, gibt es doch im Gegensatz zu festgelegten Glaubenssystemen wie Religionen beschränkten Möglichkeiten der Lebensführung, des Glückes u.s.w. unzählbar viele Wege mit sich und der Welt klarzukommen. Im “Glauben” an die Sinnlosigkeit muss keiner resignieren, man könnte auch alles entspannt sehen und offen an Neues und Anderes herangehen.“ Guldhan: „Das Glaube eines mit der Hoffnung gemeinsam hat, sie ist ein scheinheiliger Freund, ein Scharlatan und Augenwischer.“ Prinzessin: „Mein Glaube gilt nicht Gott. Aber ich glaube auch an nichts anderes. Es gibt für mich keine höhere Macht. Nichts, nach dem ich lebe. Alles ist in irgendeiner Art und Weise Zufall. Der Rest Naturwissenschaft.“
Wer an sich selbst glaubt, ist auch in der Lage an andere Dinge zu glauben. Die Kraft der Natur spielt bei vielen Teilnehmern ein wichtige Rolle und der Glaube daran schwingt in vielen Artikeln mit. Epitaph meint dazu: „Tue was du willst, doch denke daran, dass dies den Respekt anderen gegenüber mit einschließt. Mutter Erde gibt uns eigentlich alles, was wir benötigen, doch ist der derzeitige Status der Wesens „Mensch“ nicht dazu imstande, ein friedliches Miteinander aller Lebewesen zu gewährleisten. Doch warum diesen Schritt nicht wenigstens für sich selbst gehen?“ Marcus Rietzsch: „So gesehen glaube auch ich. Nämlich an die Familie, an Freundschaft, an die Natur, an grenzenlose Hingabe, Unterstützung und Dinge, die man sich als Mensch nicht erklären kann bzw. die fern menschlicher Gedankenstrukturen liegen.“
Im Glauben liegt die Kraft jedes einzelnen, etwas für sich oder andere zu bewegen. Glückssucher bringt die Sache auf seinen Punkt: „Ich gebe zu, dass ich – wie sicher alle Menschen – das Bedürfnis habe, mich geborgen zu fühlen, sei es in einer Partnerschaft, sei es in einer Gruppe von Gleichgesinnten. Und das ist es zu einem großen Teil wohl das, was für mich, wie für viele von uns, in unser heutigen aufgeklärten Zeit den Glauben ausmacht. Nicht der Glaube an ein höheres Wesen, sondern der Glaube an Werte wie Menschlichkeit, Toleranz und gegenseitige Akzeptanz. Und dazu brauch es keine Gottheit, keine Institution, keine zigtausend Jahre alten Rituale.“ Der Glaube versetzt Berge! Das sieht auch TKindchen so, denn Sie glaubt an „die Kraft des positiven Denkens: z.B. todkranke Menschen, welche die Hoffnung nicht aufgeben und dadurch bessere Überlebenschancen haben, als diejenigen, welche die Hoffnung aufgeben. Sei es deren Glaube, Religion usw., eben alles, woran sie festhalten.“
Die 19 Teilnehmer des Gothic Friday haben es geschafft, ein vielschichtiges Bild über den Glauben zu zeichnen. Wer wissen will, woran Gothics glauben, wird hier fündig. Doch die Enttäuschung für Klischeefixierte ist vorprogrammiert, keine absonderlichen Rituale und auch kein Satanismus. 19 individuelle Bilder des persönlichen Glaubens, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Dieser Gothic Friday war für mich als Leser sehr wertvoll. Vielen Dank für den Impuls und die Offenheit aller Teilnehmer. Ich habe es ausnahmsweise nicht zu einem eigenen Text gebracht. Aber es muss ja auch Leser geben :-))
Wenn ich Glaube höre, denke ich sofort an Religion. Wenn ich so drüber nachdenke, wie andere „Ich glaube an die Liebe“ schreiben, hätte ich sowas auch schreiben können, nur habe ich auch keinen Glauben an andere Dinge, zumindest keine, die so sehr in meinem Leben eine Rolle spielen.
Ein sehr schöner Gothic Friday :)
Wow, wirklich klasse!
In dem „Gothic Friday Dezember – Nenn uns Dein Thema!“ – Beitrag ist die Kommentar-Funktion leider schon geschlossen, deshalb schreib ich’s hier hin:
Ein Vorschlag für einen Nachfolger – oder zumindest etwas, was ich als Kategorie auch sehr interessant fände:
„Szenemuseum“: Bilder von Flyern vergangener Konzerte und Diskotheken und eine kleine Geschichte dazu.
Das ist jetzt zugegebenermaßen nicht auf meinem Mist gewachsen, sondern gab es so ähnlich schon einmal in einem Forum, allerdings hat dieses Forum vor ein paar Jahren dichtgemacht und dabei ging leider auch das Szenemuseum verloren.
@Solitaire: Die Idee ist klasse! Für einen Vorschlag als Dezemberthema finde ich das ganze dann etwas zu „groß“, ich habe da eine andere Alternative und werde mit einem entsprechenden Angebot per E-Mail auf die zukommen. Vielleicht entwickelt sich ja was, mich würde es freuen.