Gothic Friday Januar – Liebe auf den zweiten Blick

Dies ist ein Artikel im Rahmen des Gothic Friday 2011. Das Thema im Januar lautet: „Wie bist du in die Szene gekommen?

Kurz vor den Sommerferien ’87. Mit meiner Brille,  meinem Aktenkoffer und der Leidenschaft für den C-128 stehe ich recht einsam auf dem Schulhof und blicke neidisch auf den Eingang zur Aula, der in großen Pausen immer von den coolen Jungs der Schule dazu genutzt wird, sich zu treffen. Die meisten tragen schwarze Sachen, haben T-Shirts von Depeche Mode oder The Cure, wilde Frisuren und reichlich Schmuck um den Hals. Auch ich mag Depeche Mode und habe auch schon ein Band-T-Shirt von meinem Taschengeld erstanden, traue mich aber noch nicht mich dazu zu stellen. Blöde Schüchternheit.

Den ganzen Juni habe ich schon „Strangelove“ im Ohr, denn seit ich mir 1986 das Album „Black Celebration“ von Depeche Mode gekauft habe ist es um mich endgültig geschehen. Ich liebe Depeche Mode!  Ãœbergroße Poster von Dave Gahan, Martin Gore und den anderen zieren die Wand in meinem Zimmer. Stundenlang höre ich das Album, immer wieder von vorne – sehr zum Leidwesen meiner Schwester die sich sichtlich genervt zeigt, dabei ist sie es doch schuld, das ich überhaupt Depeche Mode kennen gelernt habe. Doch was soll’s, sie will sowieso bald ausziehen, dann habe ich das Zimmer für mich allein, ha!

In stundenlanger Arbeit überspiele ich „Black Celebration“ auf Kassette um es auch in meinem Walkman mit mir herum tragen zu können. Ich packe meine Schwimmsachen, lege die Kassette ein und gehe los. Ich will ins Freibad um Dirk und André zu treffen, zwei von den coolen vor der Aula und werde mich einfach dazu legen, bestimmt kann ich die Beiden mit meinem Wissen um Depeche Mode beeindrucken.  „The stars in the Sky bring Tears to my eyes, They’re lighting my way Tonight“ dringt aus den Kopfhörern während ich durch den nahe gelegenen Park gehe um ins Freibad zu kommen. Die Sonne glitzert zwischen den Blättern der Bäume, die dichten Bäume verleihen Dämmerungsstimmung. Ich ziehe die Kopfhörer aus, bezahle den Eintritt an der Kasse zum Schwimmbad und bin auf dem Weg zur hinteren Wiese um mich mit den anderen zu treffen. Aus den Lautsprechern des Freibades dröhnt WDR1, der jetzt, kurz nach Schulschluss die Hitparade sendet. Platz 2: „Strangelove“ – Ich bin aus dem Häuschen, das Leben ist schön!

Dirk und André sind doch gar nicht so doof  und arrogant wie ich dachte, wir kommen ins Gespräch und unterhalten uns über „Music for the Masses“, das neue Album von Depeche Mode das im September erscheinen soll. Die Single-Auskopplung macht Lust auf mehr und wir sind uns alle einig, das muss es sein! Vor allem weil das Vorgänger-Album „Black Celebration“ schon so eingeschlagen hat. Wir tauschen unsere Kassetten. Von Dirk bekomme ich eine Mix-Kassette von The Cure, auf dem Rückweg sorgt „A Forest“ für kalte Schauer auf meinem Rücken während ich durch den Park wieder nach Hause gehe. Ich weiß nicht warum, aber die Musik hilft mir dabei die Welt um mich herum auszublenden, leise zu stellen und verleiht das unwirkliche Gefühl von Unsichtbarkeit.

Die letzten Jahre auf der Schule vergehen wie im Fluge. Meine ersten Dr. Martens (Halbschuhe) ziehe ich eigentlich nie aus, die blaue Jeans habe ich locker 1-2 Schläge hochgekrempelt und das T-Shirt der legendären 101 Tour in der Hose versenkt. Das trägt man eben so. Bei den Haaren bin ich eingeschränkt, seit ich mir von meiner Mutter für meinen Versuch wie Martin Gore auszusehen eine Ohrfeige kassierte, trage ich die Haare kurz und berufe mich auf Dave Gahan, immerhin. Konflikte sind nichts für mich, ich suche den geringsten Widerstand.

Mit Dirk zusammen kaufe ich 1988 in Düsseldorf meine ersten Pikes, die ich in der Disko die am Wochenende im örtlichen Jugendclub stattfindet, ausgiebig benutze. „White Wedding“ von Billy Idol, „Bitte Bitte“ von den Ärzten und dieses „Unveiling the Secret“ von Psyche regieren die mit Linoleum belegte Tanzfläche. Irgendwann 1988 erscheint ein Mädchen im Jugendclub, das sich mit ihrem Style deutlich von den anderen abhebt. Umgedrehte Kreuze, weiße Schminke und viel Tüll machen sie zum umlagerten Jungsmagneten. Melanie, so hieß sie glaube ich, war ein Gruftie und nannte uns Waver – so propagierten es jedenfalls die Zeitschriften, wie Melanie behauptete. Wir teilten musikalische Leidenschaften, trugen die selben Schuhe und auch unsere Lieblingsfarbe war schwarz – leider war sie ein paar Wochen später verschwunden, ich habe sie nie wiedergesehen.

Eine sehr unbeschwerte und irgendwie sorgenfreie Zeit. Nie habe ich daran gedacht in einer Szene zu sein, nie wollte ich mit meiner Kleidung die Ablehnung der „bunten“ Gesellschaft symbolisieren. Als Jugendlicher hatte ich andere Sorgen: Ich wollte dazu gehören, auch „cool“ sein und die Liebe zu der Musik die ich hörte ausdrücken, ich wollte das man erkannte auf welche Band ich stand – und das habe ich erreicht. Provokation war mein zweiter Antrieb, stand jedoch nie im Vordergrund, mein herzliches aber strenges Elternhaus ließ wenig Spielraum. Bewusst habe ich den nie ausgereizt, nichts hat mich dazu veranlasst zu rebellieren oder gar eine Ablehnung der Gesellschaft nach außen zu tragen, ich war einfach nicht so.

Die Wende(n)

1989 erscheint  „Disintegration“ von The Cure, auf dem mir Robert Smith mit „Pictures of You“ unter die Haut fährt. Ich glaube seit dem Tag schließe ich bei diesem Lied instinktiv die Augen. Wieder und wieder höre ich das Album während ich wieder auf meinem Bett liege und mich von der Musik tragen lasse. Als ich 1990 eine Lehre beginne verliere ich Dirk und die anderen aus den Augen, neue Freunde und das erste verdiente Geld begründen einen neuen Lebensabschnitt. André sollte ich 20 Jahre später auf dem Klassentreffen wieder treffen, als Familienvater und Hausbesitzer hat er seine „Jugendsünde“ wie er sie nennt, abgeschworen – wir lachen über alte Zeiten, schwelgen in Erinnerungen und erkennen, das uns sonst nichts verbindet.

Mit der Wende fällt nicht nur die Mauer sondern auch die Nähe zur Szene. Mit einem Fuß in der Arbeitswelt wachsen Ängste, Deutschland steht Kopf – Prioritäten verschieben sich, alles stellt meine Ansichten und mein Leben in Frage. Ich habe in der Jugend versäumt mich selbst zu finden und begebe mich auf eine 15-jährige Suche, lasse mich leiten und treibe ziellos durch die Subkulturen. Zu Zeiten des Grunge poge ich zu Nirvanas „Rape Me“, als Raver auf der Mayday reiße ich bei Frankie Bones „Direct from Brooklyn“ meine Hände in die Höhe während mir einige Jahre später bei The Prodigys „Smack my Bitch Up“ der Schweiß durch die grünen Augenbrauen rinnt.

Nachdem ich 7 Jahre beruflich nicht nur durch Deutschland gefahren bin, ziehe ich die Reißleine. Ein Tagesablauf zwischen Arbeit und Hotelzimmer ist nichts für mich, nach und nach muss ich Freundschaften aufgeben, Leidenschaften rücken in den Hintergrund. Zwischen Bremen und Münster sehe ich aus dem Fenster des Autos während Jimmy Sommerville mich mit „Smalltown Boy“ daran erinnert, wie alleine ich mich fühle. So kann es nicht weitergehen. Ich kündige den Job, nehme eine Arbeit bei einem örtlichen Arbeitgeber an und gehe nebenbei wieder zur Abendschule. Ich besinne mich auf das was ich mag, sortiere die bunten Klamotten wieder aus dem Schrank und beginne damit wieder der zu sein, der ich immer war. Freunde, die keine waren gibt es nicht mehr und die mal welchen waren, finde ich nicht mehr.

Ich beginne von neuem die Szene, in der ich einst war, es aber nie wusste, wieder für mich zu entdecken.  Der Musik bin ich immer treu geblieben, und auch wenn andere Genre immer versucht haben sich in mein Gehirn zu drängen ist der Hang zur musikalischen Melancholie geblieben. In meinem Kopf existieren unzählige Augenblicke die unlösbar mit Stücken von Joy Division, Xmal Deutschland, Depeche Mode, The Cure oder Second Decay verbunden sind. Alte Leidenschaften erhalten einen neuen Sinn.

Liebe auf den zweiten Blick

Blackfield 2008„Lebensgefühl“ nennt man heute das, was ich als Styling kennenlernte. Und bis auf die optische Ausprägung bin ich diesem Lebensgefühl immer treu geblieben, inklusive der Klischeehaften Friedhöfe, die ich immer noch liebe. Ich genieße diese Plätze als Orte der Ruhe und Melancholie während ich meinen Walkman schon lange durch einen MP3-Player ersetzt habe der immer noch die gleichen Lieder spielt. Während ich auf die Gräber starre und mir vorstelle wie der Begrabene gelebt haben mag, höre ich „Künstliche Welten“ von Wolfsheim.

Seit 2006 identifiziere ich mich wieder mit der Szene. Es ist spannend zu sehen wie die Veränderung des Kleidungsstils dazu führt, das sich die Menschen um einen herum in ihrer Haltung zu mir verändern, dabei war ich innen nie anders. In Erinnerungen an den Jugendclub in dem ich 1988 mit meinen Pikes den Linoleum-Boden schrubbte suche ich mir ein neues Refugium in dem ich abschalten kann. Das Pulp in Duisburg besuche ich regelmäßig am Donnerstag um im Schwarzhalt mehr oder weniger schwarzer Musik zu lauschen und dabei wie damals mit meinen neuen Pikes den Tanzboden zu polieren.

Meine ersten Pikes übrigens, die 1988 in Düsseldorf gekauft habe, sind irgendwann mal durchgebrochen. Ich glaube ich habe sie bei einem Umzug entsorgt ohne mir Gedanken darüber zu machen welche Bedeutung diese Schuhe einmal für mich haben sollten. Lieder mit denen ich mich immer besonders verbunden gefühlt habe markieren Fetzen der Erinnerung. Ich glaube 1997 habe ich alte Mixtapes von Dirk, André und mir durchgehört um den Liedern einem Namen zu geben.

Merkwürdig, immer wenn ich in den vielen Jahren auf meinen Musikgeschmack und mein umfangreiche und extrem gruftige Musiksammelung angesprochen wurde, habe ich vehement bestritten „Gothic“ zu sein. Ich trieb mich auf Friedhöfen herum, entwickelte eine Faszination für das Mittelalter und liebte Rollenspiele – Mystik, Okkultismus und Religionen interessieren mich, mein Bücherregal ist reichhaltig bestückt mit einschlägiger Szene-Literatur und außerdem mag ich Vampir- und Horrorfilme.

Man fragt: „Bist du ein Gothic?“ – Ich antworte: „Nein! Wie kommst du darauf?„, drehe mich entsetzt weg,  setze meine Kopfhörer auf und schließe die Augen, während Robert Smith „Pictures of You“ in Mikrophon haucht.

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Marcus
Marcus (@guest_12269)
Vor 13 Jahre

Dass Deine Leidenschaft für Friedhöfe in Ohlsdorf geweckt wurde, kann ich sehr gut nachvollziehen. Man kann dort so schön der hektischen Welt entfliehen und auf Entdeckungsreise gehen…

Madame Mel
Madame Mel (@guest_12270)
Vor 13 Jahre

Schöne Geschichte. Auf vielen Umwegen führte deine Reise doch zurück zum schwarzen „Ich“. Grüne Augenbrauen? Die kenne ich noch von Marusha und myself ;-) Du bist jetzt übrigens daran Schuld, dass mir Strangelove nicht mehr aus dem Ohr gehen will.
PS: Danke nochmal für deine Anfrage

orphi
orphi(@orphi)
Editor
Vor 13 Jahre

Da hat sich das Warten aber gelohnt. So schön geschrieben… :-) Und mir kommt durch deine Erzählung eine Idee:

„…Melanie, so hieß sie glaube ich, war ein Gruftie und nannte uns Waver…“

Ich war niemals ein Grufti sondern immer ein Waver. Vielleicht komme ich deshalb mit Rattes Makeup und den Romantics nicht so klar, weil mir das nie lag und somit nicht vertraut ist. Mal abgesehen davon, dass mir fast die ganzen 90er Jahre in der Szene fehlen. Der „zweite Einstieg“ hatte bei mir zwar andere Gründe, aber es gibt ihn. Witzig, diese Parallelen.

Atanua
Atanua (@guest_12272)
Vor 13 Jahre

Auf diesen Artikel warte ich ja schon lange ;)
Gut zu wissen, dass man mit diesem Gefühl „Was? Nein, ich Gothic, niemals!“ und gleichzeitiger Identifikation mit der Szene nicht alleine ist. Frage mich wievielen es eigentlich so geht, die Vielfältigkeit der schwarzen Szene lädt ja geradezu dazu ein?

Na, die anderen Artikel werden es mir eventuell zeigen. Gibt glaub ich genug davon ^^

Liebe Grüsse

Dieter
Dieter (@guest_12275)
Vor 13 Jahre

Obwohl ich mich als Außenstehender hier betrachte, gefällt mir Deine Geschichte außerordentlich gut. Deine Zeilen regen irgendwie zum Nachdenken an die vergangene Zeit an. Ab und an schwelge ich auch in Erinnerungen und krame dann wieder „meine“ Musik hervor, die mich mein Leben begleitet hat. Es tut einfach gut, zu lesen, dass es anderen auch so geht.

Danke für Deine Zeilen!

shan_dark
shan_dark (@guest_12278)
Vor 13 Jahre

Oha.
„Als kleiner Junge war mir schon klar…mein Leben wird ganz finster, gar…“
Da ist sich aber einer über lange Jahre treu geblieben! Ist es nicht etwas Wunderbares, wenn man später entdeckt, dass man das „gewisse Etwas“ schon immer in sich hatte? Dass man irgendwie innerlich „nach Hause kommt“? Das ist für mich das, was aus deinem Beitrag fließt. Sehr intensiv.
Und diesen blöden Spruch deines Klassenkameraden „Das waren meine Jugendsünden“ hört man auch immer mal wieder. Aber diese Leute tun mir einfach nur leid. Oft umgibt sie viel Langeweile.

Außerdem bin ich baff, an wie viel Du Dich noch erinnern kannst von früher. Also auch so Einzelheiten. Wow.

Das mit den Pikes ist natürlich jammerschade…manchmal könnte man sich bei sowas ja in den A… beißen! Kenn ich…

Ach so…ich kann mich gar nicht erinnern, dass wir verabredet hatten, dass Du den letzten Beitrag lieferst. Iss mir wohl entgangen *lach* Wird das jetzt „Methode“, dieses auf-die-Folter-spannen? **ächz** Bitte nicht!

Rosa Chalybeia
Rosa Chalybeia (@guest_12291)
Vor 13 Jahre

Und eine weitere interessante Geschichte, ich glaub ich hab jetzt alle durch ;)
Rückwirkend betrachtet ist es immer sehr interessant zu sehen auf welche Wege einen das Leben so führt und wohin man letztenedes wieder zurück kommt.
Deine Geschichte liest sich etwas melancholisch und – sofern mans so sagen kann – strahlt eine gewisse Ruhe ab. Und dann wieder jemand der sich gegen das Etikett weigert, aber sich eigentlich schon längst irgendwie mittendrin befindet.

Juan Rodriguez
Juan Rodriguez (@guest_12299)
Vor 13 Jahre

Ist dieses Schubladendenken wirklich noch zeitgemäß? „Bist du ein Gothic“ ich meine who cares. Nehmen wir die Musikszene. Es gibt inzwischen so viele unterschiedliche Stilrichtungen, dass eine Einteilung kaum noch Sinn macht. Die vielen Zwiwschentöne lösen die Grenzen auf. Individualität ist angesagt.

ASRianerin
ASRianerin (@guest_12300)
Vor 13 Jahre

Ich denke, das Schubladendenken lässt sich niemals abschaffen, da es zu den Denkweisen des menschlichen Gehirnes gehört und sich daraus gewisse Funktionen ergeben.
Selbst wenn man das Wort „Gothic“ nicht mehr verwendet, dann verwendet man „schwarze Szene“ oder irgendwas anderes. Der Name des Etiketts wird geändert, aber nicht der Inhalt.

Marcus
Marcus (@guest_12302)
Vor 13 Jahre

Ich denke, dass Schubladen durchaus ihre Daseinsberechtigung haben. Sie dienen in gewisser Weise der Verständigung. Selbstverständlich darf man eine Schublade nur als oberflächliche Einordnung betrachten, um davon ausgehend mit einem genaueren Blick Details und Facetten zu erkennen.

Schatten
Schatten (@guest_12303)
Vor 13 Jahre

Schöner Artikel :)
Hach ich liebe diese Projekt, so viel Fremdnostalgie, einerseits schade, dass ich diese Zeit nicht miterleben durfte, andererseits aber toll zu lesen wie es damals so war :)

nrsss
nrsss (@guest_12311)
Vor 13 Jahre

Ich bin ehrlich: Mir jagt die Geschichte von deinem Freund André fast schon Angst ein, schließlich bauen wir auch gerade ein Haus :/
Wobei vermutlich nicht ausschließlich das spießige Haus und die Famile bei ihm der Grund dafür waren, seine Jugend als „Sünde“ zu bezeichnen…

Und ich muss mich Schatten anschließen: Es ist unglaublich schade, so etwas nicht miterlebt zu haben. Irgendwie beneide ich euch ein wenig um diesen sehr unbewussten „Rutsch“ ins diese „Szene“.

orphi
orphi(@orphi)
Editor
Vor 13 Jahre

Ich finde es immer lustig, wenn Leute sagen, dass ein eigenes Haus spießig ist. Ein Haus ist ein Ort, an dem man wohnt. Jeder muss irgendwo wohnen. Es folgt die Ãœberlegung: Will ich monatlich einen Betrag X an einen Vermieter überweisen, den das sicher freut, oder möchte ich monatlich einen Betrag X an die Bank überweisen mit der Option, dass ich irgendwann weder der Bank noch einem Vermieter Geld bezahlen muss, weil das Ding mir gehört. Den unangepassten Freigeist stört vielleicht, dass man nicht mehr so einfach umziehen kann. Das hingegen ist Blödsinn. Schließlich kann man das Haus auch vermieten, so dass es sich selber trägt, wenn man den zwingenden Drang verspürt, den Ort zu wechseln. Das Haus ist nicht spießig – allenfalls die Leute, die drin wohnen. Und das hat jeder selber in der Hand.

Du musst dir also keine Sorgen wegen André machen. Das Problem liegt irgendwo anders begraben. ;-)

nrsss
nrsss (@guest_12319)
Vor 13 Jahre

Solange man selbst mit einer gewissen Ironie sagt, dass das spießig ist geht es doch noch. Schlimmer ist, wenn außenstehende das tun und dabei die Persönlichkeit der Eigentümer vollkommen außer Acht lassen ;)

Für Angehörige aller Subkulturen ist „Eigentum“ generell eher selten. Und mit Mitte 20 schon sehr außergewöhnlich ;) Meine Freunde rotten sich da eher noch zu kleinen Interessensgemeinden in Wohngemeinschaften oder generell in lokaler Nähe zusammen.

Davon abgesehen, fordert es eine gewisse finanzielle Stabilität, die zumeist ein hohes Maß gesellschaftlicher Integrität – zumindest im Beruf – vorraussetzt… Bei einem Abteilungsleiter setzt das dann entweder ein tolerantes Team/Unternehmen oder ein Doppelleben voraus.

Aber alles viel zu weit weg vom Thema deines Beitrags. Also genug davon.

Ich mag deinen Erlebnisbericht der so stark ausdrückt, dass du eigentlich nicht irgendwann Teil der Szene warst, sondern eben von Anfang an und es nur lange gedauert hat, bis du es auch selbst wahrgenommen hast. Und er zeigt, dass Äußerlichkeiten wenig damit zu tun haben sondern eine innere Einstellung.

Aber: Schon wieder Friedhöfe. Vielleicht erklärt mir irgendwann mal jemand plausibel, warum es so oft einen Zusammenhang zwischen Gothic und einer Affinität zu Friedhöfen gibt. :/

Marcus
Marcus (@guest_12322)
Vor 13 Jahre

@nrsss: In der Szene gibt es wohl allgemein eine Vorliebe für morbide Orte. Die meisten mir bekannten Menschen, die gerne Friedhöfe besuchen, mögen auch die Atmosphäre leerstehender Gebäude oder Burgruinen. Kürzlich habe ich ein Zitat von Christian Morgenstern gelesen, welches ganz gut für diese Affinitäten steht: „Nimm dem Leben die harte Tragik, das tiefe Bewusstsein, dass alles vergänglich ist, und du nimmst ihm die Schönheit.“ Sicherlich muss man keine Friedhöfe etc. besuchen, um sich seiner Vergänglichkeit bewusst zu werden. Aber neben diesem Aspekt finden sich auf manchen Friedhöfen atemberaubende Kunstwerke. Menschliche Skulpturen, die so detailreich sind, dass man meinen könnte, sie würden leben. Oder uralte Grabmale, welche spannende Geschichten erzählen. Mal abgesehen davon, dass es mich immer wieder fasziniert, welche Oasen der Stille es in hektischen Großstädten gibt (natürlich muss man hier zwischen älteren, teils stillgelegten und moderneren Friedhöfen unterscheiden – Letztgenannten kann ich auch wenig abgewinnen).

Schatten
Schatten (@guest_12323)
Vor 13 Jahre

@nrsss
Kommt wahrscheinlich daher, dass ein Teil von eben dieser inneren Einstellung ein Hang zum düsteren und morbiden ist. Und da passen Friedhöfe nunmal ganz gut.
Und es gibt ja kaum was morbideres als eine Affinität zu den Orten wo tote Menschen begraben liegen/werden.
Außerdem wird den Goths ja oft ein starkes Vergänglichkeitsbewusstsein zugeschrieben und was wenn nicht ein Friedhof ist ein Zeichen von Vergänglichkeit?
Höchstens vielleicht ein Altenheim xD

shan_dark
shan_dark (@guest_12339)
Vor 13 Jahre

@Marcus: Wow, ich hätte es besser nicht beschreiben können mit den Friedhöfen.

@Robert: Verzeichnisbäume. Soso. Das ist vermutlich wirklich passender. Noch nie in dem Zusammenhang gehört, aber find ich auch besser als Schubladen.

Mone vom Rabenhorst
Vor 10 Jahre

Wunderschön geschrieben. Hab viele Parallelen entdeckt.

Interessante Serie, muß mal weiterstöbern.
Danke für den Tip. :-)

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