Spontis-Magazin-Leser werden ihn kennen, Gruftfrosch, der Grufti ohne Facebook, hat sich ebenfalls hingesetzt um die Geschichte seines Szeneeinstiegs für das Februar-Thema des Gothic Friday niederzuschreiben.
Wenn ich darüber nachdenke, wie ich in „die Szene“ gekommen bin, stelle ich fest, dass es wie bei vielen ein schleichender Prozess war. Bereits als Kind, also weit vor „meiner Annäherung“ mochte ich lieber Lieder, die melancholisch daherkamen. 3 davon mag ich bis heute. Es sind „Twist in my Sobriety“ von Tanita Tikaram, Depeche Mode mit „Enjoy the silence“ und „Love is a shield“ von Camouflage. Klar, das lief und läuft im Radio, man hört es, man kennt es (teils bis zum Erbrechen)…aber doch war es so…ich liebte diese Lieder, auch wenn ich die Texte damals nicht verstand. Als Teenager war ich auf einer Feier bei einem Kumpel und dort lief unter anderem neben Nightwish, Letzte Instanz, Schandmaul… eine wilde Mischung aus 80 er-Jahre Synthie und New-Wave-Kram.
Aber ehe ich dort ankam, wo ich heute stehe, hab‘ ich erstmal musikalisch einen Umweg genommen, der im Nachgang etwas peinlich anmutet und doch war es eben so. Am meisten weggesäbelt hat mich nämlich damals tatsächlich Nightwish und Schandmaul…ja…so isses. Symphonic Metal und Mittelalter-Folkrock. Es folgten musikalische Ausflüge über einen Abklatsch dessen, zum Beispiel „Within Temptation“ und so manche mittelalterliche Dudeltruppe.
Zugleich war ich aber auch jemand mit Hobbies, die jetzt nicht unbedingt verbreitet unter Jugendlichen waren. Ich interessierte mich fürs Wetter, maß die verschiedenen Werte vor Ort selbst, schrieb sie auf…studierte die Wolken und fand eigentlich immer das Wetter ganz furchtbar großartig, was andere so richtig grottig fanden: Sturm, Regen, Nebel, Schnee und Gewitter. Je kräftiger die Natur dem Menschen ihre Gewalt zeigte, umso faszinierender war das für mich.
Ich fotografierte nebenbei (ok, das ist massentauglicher), liebte das Wandern, wie zum Beispiel in der nahen Sächsischen Schweiz, was mich später zu der romantischen Malerei a la Casper David Friedrich brachte. Auch malte ich selbst recht gern, machte Studien mit dem Bleistift und zog – voll nach Klischee, ich weiß – über die verschiedenen alten Friedhöfe in und um Dresden.
Mit der Zeit wich ganz allmählich das Bunte aus dem Kleiderschrank und das Interesse für Historie und alte Architektur kam hinzu. Ich liebte und liebe alte Gemäuer. Mit den meisten Gebäuden, die heute hochgezogen werden, kann ich wenig bis gar nichts anfangen. Sie sind mir zu seelenlos, zu glatt, zu nüchtern, zu renditeoptimiert und abweisend. (Gäbe es im Übrigen einen besseren Spiegel für unsere Gesellschaft?)
Mein Musikgeschmack verschob sich allmählich hin zu Lacrimosa, zu Wolfsheim und ja, auch zu ASP ;-)
Nachdem ich nun immer öfter angesprochen wurde, ob bei mir jemand gestorben sei oder ob ich jetzt ein Grufti oder ein Goth wäre, fing ich an mich mit der Materie zu beschäftigen. Zeitungen wie Zillo, Orkus oder dergleichen sollten dafür allerdings weniger hilfreich sein, wie sich herausstellen sollte. Dennoch war ab und an ein guter Musiktipp dabei. Man erfuhr von Konzerten, Festivals und las in der Gedankenwelt der anderen schwarzen Seelen. Das war sowieso neben Musik, Gefühl und Ästhetik das, was mich in seinen Bann zog. Neben viel Oberflächlichkeit, die man ja auch aus der bunten Welt zur Genüge kennt, eben auch die anderen zu treffen und mit ihnen zu reden, zu schreiben, an ihrem Wissen, ihren Gedanken teil zu haben, mit ihnen zu diskutieren. Ein großer Discogänger war ich hingegen nie.
2007 (oder war es sogar erst 2008?) war es dann soweit, mein erstes WGT. Ich fand es großartig. Ein verlängertes Wochenende in der schwarzen Menge. Eintauchen in die verschiedensten Genre, ungezwungen mit anderen ins Gepräch kommen, Lesungen, usw. Ich war angefixt. DAS wollte ich wieder erleben! Tja und seitdem war ich jedes Jahr wieder da, wobei ich mich immer mehr von den Headlinern zurückzog. So manches gefiel mir nicht, anderes dafür umso sehr. So rückte ich Stück für Stück, neben weiterer Recherche via Internet, Büchern (Mick Mercer, Gavin Baddeley) mehr zu den Ursprüngen vor. Auch klangtechnisch fühle ich mich heute bei Dark/Cold/Minimal Wave, Postpunk usw. am wohlsten.
Wenn ich so schaue, was bei mir so läuft, blitzen mir neue Namen wie The Frozen Autumn, Soror Dolorosa, Sopor Aeternus, She past away, Agent Side Grinder oder Chelsea Wolfe ebenso entgegen wie „Alte“: The Cure, Clan of Xymox, Depeche Mode, Dead can Dance oder Joy Divion, um nur Einige zu nennen. Das Internet bietet dank der Musikplattformen wie Bandcamp ja unendliche Möglichkeiten auch junge Bands zu entdecken, die es verstehen den alten Sound ins Heute zu holen oder in neue Bereiche aufzubrechen, mal mehr, mal weniger gelungen. Wie ihr seht…nichts Spektakuläres, aber auch das Unspektakuläre muss ja irgendwo seinen Platz haben, oder?
Vielleicht eins noch: Die Sache mit den Eltern. Bei einigem mag ihr Bekenntnis zur schwarzen Szene für Probleme gesorgt haben. Bei mir nicht. Meine Mutter fand es und findet es klasse, hat mich schon manches Mal ausgefragt zur Szene und der Musik. Vielleicht würde sie wohl selbst gerne auf das WGT fahren, wenn sie jünger wäre. So entreißt sie mir auch regelmäßig den Pfingstboten und das -geflüster und schleppt es gar mit auf Arbeit um „Aufklärungsarbeit“ bei den Kollegen zu leisten. *Räusper* Meinem Vater ist es immer relativ egal gewesen. Hauptsache, ich tue niemandem weh und nehme keine Drogen. Tja, soviel zur Provokation.
Oh, da finde ich mich doch in einigen Interessen wieder :-) Fotografie, Wandern und alte Architektur sind auch „meins“, z.T. auch hier zu sehen: https://www.spontis.de/schwarze-szene/gothic-friday/gothic-friday-schwarzer-faecher-der-passionen/
In der Sächsischen Schweiz bin ich schon einige Male gewesen, eine großartige Landschaft. Eines meiner Fotos von der Basteibrücke habe ich in Acryl gemalt.
„Twist in my Sobriety“ hat mich damals, als es erschien, auch umgehauen, ich mag es immer noch sehr. Witzigerweise sind auch meine beiden Eltern und meine Schwester sehr auf diesen Song abgefahren. Das hat sonst nur „Conquest of Paradise“ von Vangelis geschafft, unsere Familie musikalisch komplett zu einen ;-)
Witzig, wie Deine Mutter sich auf Deine Szenezugehörigkeit einlässt. Ein paar offene Momente hatten/haben meine Eltern auch gezeigt. Einmal überraschte mich meine Mutter, dass sie mich mit dem Auto abholte und in ihrem Kassettengerät ein Tape von mir lief, u.a. mit Dead Can Dance und The Mission drauf. Keine Ahnung, woher sie das hatte…
Die Reaktion der Eltern kenn ich zu gut.. Mama isses egal solange ich niemandem wehtue oder irgendwelches Zeug schmeiße und Papa war immer total begeistert und fand z. B. Soror Dolorosa und Bauhaus auch klasse.
Zur sächsischen Schweiz.. Wandern da… oh man wie hab ich es als kleines Kind geliebt. Danke, dass du mich daran erinnerst, dass ich da mal wieder ne Tour hin unternehmen muss.
Von Deinen Wettervorhersagekünsten (Expertenwissen!) konnte ich mich ja schon beim letzten WGT-Spontis-Treffen überzeugen, auch wenn ich nicht drauf gehört habe/hören konnte…
Ich finde Deinen Weg doch meinem recht ähnlich, jetzt nicht, was die Musik angeht, aber das so viel dunkles Interesse und Empfinden bereits vorherrschte in verschiedenen Facetten/Bereichen und sich parallel dazu der Musikgeschmack gruftig entwickelte. Bei vielen ist der Einstieg ja direkt die Musik gewesen und alles andere kam dann mit der Szene & Gleichgesinnten. Bei mir war das vorher bzw. parallel, damals eben noch zum Metal. Als ich das mal jemandem erzählt habe, wurde ich als „Kulturgrufti“ bezeichnet (weil nicht nur die Musik, mehr noch alles andere wie Literatur, Kunst, Friedhöfe, Architektur). Mit dem Begriff kann ich gut leben. :)
Geht mir übrigens wie Dir: moderne Architektur geht gar nicht und ist ein Spiegel der Gesellschaft. Zu den von dir genannten Adjektiven würde ich noch „lieblos“ ergänzen und klaue mir dafür „renditeoptimiert“.
Und ja, freu mich auch heute noch, wenn „Twist in my sobriety“ im Radio kommt.
Ich finde deinen Beitrag großartig. In vielem finde ich mich selbst wieder, sei es der musikalische Umweg über Nightwish oder die Reaktion der Eltern. Es ist immer wieder spannend zu lesen auf welchen natürlichen Wegen Leute den Weg in die Szene finden, weil anscheinend „immer schon“ etwas da war, ergo das Selbst und die Szene zusammenzupassen scheinen.
@ Shan Dark: Den Begriff Kulturgruftie finde ich super.
Was die moderne Architektur betrifft schließe ich mich größtenteils an. Allerdings muss ich sagen, dass ich ganz futuristische, abgespacte Kreationen auch spannend finde, wie bespielsweise das Kunsthaus in Graz (auch friedly alien oder Blaue Blase genannt).
Danke für eure Rückmeldungen. In Nachgang sind mir noch so einige Punkte eingefallen, die ich in den Rückblick hätte packen können, aber der Seelenstriptease muss ja nicht vollständig und evt ergeben sich ja bei Gelegenheit noch weitere Einblicke ;).
@Tanzfledermaus, dein Beitrag damals hat mich wirklich begeistert. Du hast
wirklich viele Talente, nicht nur einen Blick für das richtige Motiv beim Fotografieren, sondern auch beim Malen und Zeichnen (die „fraktalen“ Mandalas – Wow). Wunderschön.
Gedichte habe ich damals auf Schnipselchen.de veröffentlicht. Die trieften teils vor Weltschmerz *lach* und ich bin im Nachhinein ganz froh, dass sie mit der Website den Weg des virtuellen Suizids gegangen sind.
Bin mir übrigens recht sicher, schon mal in der FC über dich gestolpert zu sein.
Kathi: Freut mich :)
@Shan Dark: Das nächste Mal mache ich meine Prognose vielleicht etwas eher, damit man doch gescheiter planen kann ^^
Ja, mein Musikgeschmack hat doch so manchen Haken geschlagen und etliches, was mich damals begeisterte, erntet heute bestenfalls Schulterzucken…Dafür zog sich anderswo der rote Faden etwas geradliniger durch.
Kulturgrufti hat was…
Was ich noch erwähnen wollte, dass ich (naja…mag an meiner Herkunft liegen) die verträumten, oftmals gesellschaftskritischen Gedichte von Erich Kästner sehr mag. Hab einige Bände.
@Levi: Ja, ich habe nix gegen wirklich kreative Moderne: Leider bildet bas Kulturhaus Graz da schon die Ausnahme (mit gefiele es aber freigestellt an einem anderen Ort etwas besser als so in die Altstadt gequetscht). Das 30 St Mary Axe (The Gherkin) in London finde ich zum Beispiel auch klasse.
Ein weiterer, schön zu lesender Einstiegs-Beitrag!
Also das mit den „unüblichen Hobbies“ kenne ich auch ganz gut, auch wenn das jetzt nicht immer ins „typisch schwarz“ reinpasst – bei mir wars die Astronomie, und so ungefähr letztes Jahr hats mich da auch wieder hingezogen.
In die Metereologie wollte ich mich auch schon immer mal einlesen, kann man beim Sternspechteln ja auch gut gebrauchen, nur – finde man mal die Zeit nebenher …
Danke für Deinen Beitrag, ich finde ihn sehr inspierierend. Es ist interessant, wie man sich durch diesen Austausch über Spontis gegenseitig kennenlernt. Bei einem Treffen allein würde man vielleicht noch unbekannten Menschen nicht so viel erzählen, und man würde es nicht schaffen, von so vielen über ihren Weg, Zustand, Gedanken usw. mitzubekommen.
Bei mir jedenfalls werden durch einige Beiträge einige Interessen oder Erlebnisweise intensiviert, und es freut mich wenn jemand etwas so schön beschreibt, was in mir geschlummert hat oder in der Form noch nicht bewusst gewesen ist. Hier zum Beispiel diese Zeilen, sie haben mir so viel Freude bereitet:
„… studierte die Wolken und fand eigentlich immer das Wetter ganz furchtbar großartig, was andere so richtig grottig fanden: Sturm, Regen, Nebel, Schnee und Gewitter. Je kräftiger die Natur dem Menschen ihre Gewalt zeigte, umso faszinierender war das für mich.“
Ich habe mir ja auch eine wasserdichte Kamera gekauft, mit der ich nun auch bei „Unwetter“ ;-) fotografieren kann. Ich liebe Unwetter und Unkraut. Unbill, Unheil und Ungeziefer nicht so sehr. Bei Unwesen, Ungeheuern und Ungetümen hängt es von den konkreten Fällen ab.
Ich habe Architektur studiert und arbeite gerade in der Lehre, im theoretischen Bereich und in er Forschung. Ich bewundere die wenigen Kollegen, die in der heutigen Situation so viel von sich geben, um gute Werke zu schaffen. Mir geht es in der Hinsicht ähnlich wie Dir, wobei ich hinzufügen muss, dass wir aus vielen Epochen hauptsächlich die erhaltenen oder erhaltenswerten Bauten kennen. Dennoch kommen Handwerk und architektonische Qualitäten heute meistens zu kurz.
Die Wanderung durch die Musikwelt finde ich ebenfalls inspieriedend. So weit zurück, nämlich an die Kindheit, hatte ich beim Schreiben meines Beitrags nicht gedacht. Interessant, wie verschiedene Phasen aufeinanderfolgen und eine eigenen Aspekt der Biografie darstellen.
@Aristides Steele: Jau, kann mich daran entsinnen, dieses „Steckenpferd“ bei dir schon mal gelesen zu haben. Hier gab’s doch auch mal nen Artikel über die Sonnenfinsternis letztes Jahr. Auch ein spannendes Feld. Ich bin eine (oder ein paar ;)) Etagen tiefer hängen geblieben. Und achso…ja, die liebe Zeit, der Tag müsste mal 30 h haben.
@Bibi: Da hast zu wohl recht, aber so wird zumindest der Einstieg erleichtert, bei nem zukünftigen Treffen z.B. Naja, natürlich nur, wenn man sich bis dahin ein bissl was von den Geschichten behalten hat. Ich hab da bei mir meine Zweifel *seufz*
„Ich habe Architektur studiert und arbeite gerade in der Lehre, im theoretischen Bereich und in er Forschung. Ich bewundere die wenigen Kollegen, die in der heutigen Situation so viel von sich geben, um gute Werke zu schaffen. Mir geht es in der Hinsicht ähnlich wie Dir, wobei ich hinzufügen muss, dass wir aus vielen Epochen hauptsächlich die erhaltenen oder erhaltenswerten Bauten kennen. Dennoch kommen Handwerk und architektonische Qualitäten heute meistens zu kurz.“
Oh, ist ja interessant, wäre schon allein ein Thema für sich. Recht hast du. Das ist es, mir fehlt oftmals die Handwerklichkeit, die Liebe zum Detail, der Respekt vorm Betrachter und dem jeweiligen Stadtkörper. Irgendwie mutiert alles so zu einer Soße. Das ist schade.