Gastautor Dennis hat eine bewegende Zeit hinter sich und bezeichnet sich selber als Späteinsteiger. Für den Gothic Friday im Februar 2016 hat er seinen Archiven gewühlt und erzählt von Seinem langen Weg ins Schwarz. Ich freue mich sehr über seinen Artikel und natürlich auch über die Beschreitung dieses anstrengenden Pfades.
Mein Weg ins Schwarz war lang, voller Umwege, und er hat überhaupt erst sehr spät begonnen. Die meisten hier haben ihren Weg in die Dunkelheit schon in jungen Jahren begonnen, aber ich musste erst über dreißig werden, ehe ich ihn überhaupt entdeckt habe.
Kapitel I
Es fehlte schon an der Grundvoraussetzung: Musikalisch war ich immer ein Spätzünder gewesen. In meiner Schulzeit habe ich mich eigentlich fast gar nicht für Musik interessiert, und gar nicht für das, das meine Freunde hörten. Davon hatte ich übrigens nie viele, denn ich hatte auch wenige Interessen mit meinen Klassenkameraden geteilt. Sport und Musik waren mir fremd, meine Themen aus Wissenschaft und Biologie interessierten niemanden. Ich war ein Träumer und Außenseiter und habe so sehr versucht, nicht aufzufallen, dass es wohl ungeheuer auffällig war. Am Ende hatte ich zwar ein oder zwei Mixtapes mit Wunschkonzert-Mitschnitten (was darauf war, kann ich nicht mehr sagen. Rockmusik … ach doch, ich erinnere mich an „In the year 2525“ von Zager & Evans, „Ha ha said the Clown“ von Manfred Man‘s Earth Band, Joan Baez und – es ist zu lange her). Irgendwo um mich herum muss in meinen letzten Schuljahren der Keim der schwarzen Szene entstanden sein, aber ich hatte nichts davon bemerkt.
Kapitel II
Im Studium – Biologie natürlich – schloss ich mehr Kontakte (schließlich hatten wir ein gemeinsames Thema), und ich so hatte auch meine erste musikalische Erweckung: zwei Kommilitoninnen hatten mir – gleichzeitig, doch unabhängig voneinander – ganz begeistert von Drehleier-Festivals und Folkmusik erzählt, und dann wurde ich zum Folktanzabend in der Katholischen Hochschulgemeinde mitgeschleift. Ach ja, Tanzen: eigentlich hatte ich nach der Tanzschule, zu der meine Eltern mich gedrängt hatten, gehofft, damit nie wieder etwas zu tun zu haben. Und dann hat es mich erwischt: fortan organisierte ich beim Folk Club Frankfurt Tanzabende und Sessions mit, spielte selber Drehleier und reiste zu Festivals in Deutschland und Frankreich.
Und ich traute mich in dieser Zeit langsam, einfach so aufzufallen, wie ich eben war. Aber es war eben ein – endlich akzeptiertes – Auffallen. Ich blieb wohl immer fremd in der merkwürdigen Welt der normalen Leute.
Kapitel III
Irgendwann, es könnte 1995 gewesen sein, bekam ich meinen ersten Internet-Zugang. Der erste Suchbegriff, den ich bei Altavista eingab, war „Drehleier“. Die Ergebnisliste verwirrte: die ersten Plätze waren von einer Band namens „Deine Lakaien“ belegt, die offensichtlich ein klassisches Folk-Instrument benutzte, ohne in der Szene bekannt zu sein? Aber das war lange vor MP3, es gab nichts zum reinhören, was mit einem PC ohne Soundkarte ja auch nichts gebracht hätte.
Es dauerte ein paar Jahre, ehe ich wieder darauf stieß. Eine Freundin erzählte auf einem Drehleierfestival (dem berühmten in Lißberg), dass sie jetzt eigentlich weniger Folk und mehr Darkwave höre. Darkwas? Dieser Begriff war mir neu, und so lag einige Wochen später ein Mixtape im Briefkasten, mit den Lakaien (Acoustic), Qntal und Estampie. Die letzten beiden boten wunderbar neu interpretierten Folk, und die Lakaien in der Acoustic-Version passten wunderbar dazu. Ich war begeistert! Es war lange das meistgehörte Band. Hätte es mich schon damals erwischt, wenn ich mir nur die Zeit genommen hätte, mehr davon zu suchen?
Kapitel IV
Doch es brauchte noch einen Umweg, ehe ich die Schwarzen fand. Es begann mit meiner Hochzeit. Meine Liebste (und zukünftige Ex-Frau, gehalten hat es nicht) entschloss sich, ein schwarzes Lack-Korsett unter dem selbst genähten Hochzeitskleid zu tragen. Meine Mutter legte ihr Veto ein: das ist so toll, das muss oben drüber, und meine Schwester empfahl uns daraufhin einen Fetisch-Laden in Frankfurt, wo es richtig gute, maßgeschneiderte Korsetts gäbe. Irgendwann trauten wir uns dann dorthin, und wir verließen den Laden mit Freikarten für eine Fetisch-Party, die der Besitzer veranstaltete. Und zum Glück haben wir uns noch mal getraut.
Es war eine jener schwarzen Fetischparties, die den Vertretern der reinen Lehre so ein Graus sind. „Schwarz“ mit der Betonung auf Lack, Leder und Latex, viel BDSM, Spielräume … und mit faszinierender Musik. Tommy und Tikwa legten damals auf, querfeldein durch die schwarze Elektronik, und „Deine Lakaien“ waren auch dabei! Ich hörte mich langsam hinein, stand aber eher an der Tanzfläche als dass ich mich selber getraut hätte – Tanzen wie ich es aus dem Folk kannte, ging eben anders. Es dauerte einige Partys, bis es endgültig zündete, in einer Nacht im Höchster Schlosskeller, und von da an war ich kaum noch von der Tanzfläche zu bekommen.
Die „Schwarzen“ allerdings waren mir trotz aller Begeisterung noch immer fremd. Ich wusste nun zwar, dass es sie wirklich gab, aber verstehen konnte ich sie noch nicht. Die Musik war wunderbar, der Stil faszinierend, aber die Codes und Symbole, etwa Pentagramme und umgekehrten Kreuze, waren mir doch ein wenig unheimlich.
Das Internet half weiter, ich lernte, begann zu verstehen, und nebenbei füllte sich meine Festplatte mit einem bunten Strauss schwarzer Musik. Es war die Zeit von Napster. Irgendwo aus dieser Epoche datiert auch die letzte Folk-Mix-CD, die ich mir zusammengestellt hatte. Ein Exemplar habe ich kürzlich bei meinen Eltern wiederentdeckt. Sie fanden es deprimierend düster. Ich finde diese Zusammenstellung immer noch wunderbar.
Zwischenspiel
Ich kann das alles nicht mehr genau datieren, bis auf wenige prägnante Ereignisse. Die Hochzeit war `97 gewesen, und 2001 hatte es mich fast schon voll erwischt. Wir waren in Berlin, zur Vernissage unserer Ausstellung (gemeinsam mit anderen Künstlern) im neuen Haus der GTZ (Gesellschaft für technische Zusammenarbeit), und wir nutzten die Zeit davor zum Shoppen. Berlin hatte ja einiges zu bieten, und wir suchten nach Mode im Bereich zwischen Fetisch und Schwarz, noch eher für Partys als für den Alltag. Ich hatte einen Umhang gefunden, aussen schwarzer Brokatstoff, innen strahlendes Rot, ich konnte mich, finanziell bedingt, nur nicht gleich entscheiden. Dann sahen wir auf einer Videoprojektion am Bahnhof Zoo brennende Hochhäuser – es war der 11.9.2001. Alles andere war nicht mehr wichtig, unsere ersehnte große Vernissage war ein bizarres Fiasko. Eine Weile darauf beauftragte ich meine Eltern, die nach Berlin fuhren, mir den Umhang mitzubringen. Ich liebe ihn noch immer.
Psycho-Status
Es war für mich auch eine Phase der Depression, der Selbstzweifel und der Zukunftsangst. Die berufliche Selbständigkeit funktionierte nicht wie erhofft, und die Welt zerbröckelte. Ich hatte meinen Studienbeginn oben nicht datiert, es war 1984, noch mitten im Kalten Krieg. Dass ich Biologie gewählt hatte, lag neben dem fachlichen Interesse nicht zuletzt daran, dass ich die Welt retten wollte, zusammen mit Greenpeace … aber wer die Latte zu hoch legt, wird beim Sprung zwangsläufig scheitern. Dabei sah alles so gut aus, der Ost-West-Gegensatz zerbrach, und plötzlich schien alles möglich. Das beste aus den Welten zusammenführen in eine großartige Zukunft … statt dessen kam der Anschluss der „neuen Bundesländer“, und in Jugoslawien bracht der Krieg aus, ein Nationalismus und Hass, den ich für nicht mehr möglich gehalten hatte.
Ja, es war nicht mein Land, die da in Flammen aufging, „nur“ ein Urlaubsland und die Heimat von Freunden. Und in Deutschland gingen zum erstem Mal Menschen gegen Flüchtlinge auf die Straße. 9/11 habe ich schon oben erwähnt, und dann war da ein Familienurlaub in Kroatien im Jahre `06. Auf der Reise – wir waren auf Nebenstraßen gefahren – kamen wir an zerstörten Häusern vorbei, an Warnschildern „Vorsicht, Minen“, und an Hausfassaden voller Einschusslöcher. Ich begann selber zu fragen, im Restaurant, im Laden und wo immer wir den Einheimischen begegneten: Wer von Euch hat seine Nachbarn vertrieben, wer hat sie gerettet, wer hat sie erschossen? Und ich verstand plötzlich, warum man mir in Italien, irgendwann am Ende der 70er, noch ‚Heil Hitler‘ hinterher gerufen hatte. Konnte all das wiederkommen?
Es war alles voll von böser Vorahnung und tiefer Enttäuschungen von der Menschheit. Kurz: alle meine Illusionen waren in dieser Zeit zerbrochen, die großen, politischen ebenso wie die kleinen privaten. Die düster-erbaubliche, schwarze Musik hat mir jener Phase ungeheuer geholfen!
Kapitel V
Bald wussten wir, wo es in Frankfurt Partys gab, wo wir außerhalb der Fetisch-Szene hätten schwarztanzen können. Aber irgendwie hatten wir nicht gewagt, uns zu trauen, oder keine Zeit gehabt, es zu wagen. Warum nur? Meine Musik war längst „schwarz“, wenn auch mit einigen (aus heutiger Sicht) Verirrungen. Aber nach außen hin traute ich mich das noch nicht zu zeigen.
Noch einmal hat ein Zufall geholfen – oder hätte es nur andere Umwege genommen?
Es war am 27.5.2006. Wir waren bei einer Modenschau beim Latex-Schneider, und ich wusste, dass an diesem Tage in Darmstadt eine meiner Lieblings-Bands spielte: Adversus – auch wenn ich sie bislang nur aus Napster kannte. Die Entscheidung ist letztlich erst auf dem Heimweg gefallen: wir nahmen den Umweg über Darmstadt. Und so gerieten wir in meine erste „echt“ schwarze Veranstaltung. Die Atmosphäre war einfacher, authentischer, weniger „überspannt“ als die Fetisch-Partys, die ich kannte. Es begann mit den sphärischen Klängen des Bassmeisters, Kontrabass und Elektronik, die mich erst einmal verwirrten, weil der traumhafte Klangteppich, den er völlig live webte, nach kurzer Zeit so gar nicht mehr mit den Bewegungen seines Bogens in Einklang zu bringen waren. Dann folgte eine Lesung von Rosendorn – dem Kopf von Adversus – mit einer Geschichte, in der ich ihn als Seelenverwandten erkannte (auch wenn es inzwischen andere Differenzen gibt). Und dann begann das Konzert …
Ich tanzte und ich weinte über die ganze erste Hälfte des Konzerts. Es war dramatisch, romantisch, intensiv, und es löste so viel in mir. Ich kann an dieses Erlebnis bis heute nicht ohne eine Flut an Emotionen denken, und es beutelt mich beim Schreiben dieser Zeilen. Nach der Pause tanzte ich weiter und war nur noch glücklich. Ich war endlich, endlich angekommen. Auf einmal wusste ich, dass ich schwarz war!
Jetzt
Die bunten Klamotten verschwanden in den finsteren Etagen des Kleiderschranks oder wurden umgefärbt. Über Rosendorn lernten wir bald darauf andere Schwarze kennen, und dabei einige, deren Weg kaum weniger umständlich war als meiner. Ich war angekommen, und ich hatte andere gefunden, die so waren wie ich (oder zumindest auf kompatible Weise seltsam, vor allem aber: die mich einfach angenommen), und in deren Gesellschaft ich glücklich war. Längst trage ich auch im Alltag nur Schwarz, und ich bin mir sehr sicher, dass es keinen Weg zurück mehr gibt.
Dabei habe ich manche stilistische Verirrungen meiner „frühen Jahre“, musikalisch wie textil, wieder hinter mir gelassen. Auf der anderen Seite habe ich auch meine musikalischen Wurzeln aus dem Folk in der schwarzen Musik wiedergefunden. Es gibt so viele wunderbare Überschneidungen, so viel wunderbaren Folk im Schwarz (nein, nicht „Neofolk“).
Selbsträtsel
Rückblickend frage ich mich immer wieder, warum es so lange gedauert hat, ob es nicht viel schneller hätte gehen können und wo der Punkt war, an dem dem es unvermeidlich wurde? Gab es den überhaupt? Und überhaupt, fehlt in diesem Text nicht etwas? War ich vorher schon irgendwie „schwarz“?
Ja, da war eine Menge, aber war es schwarz, düster genug, zumindest irgendwie hinreichende seltsam? „Nachhersagen“ sind immer leicht, wenn man im Nachhinein weiß, was man sucht und wie man es deuten möchte. Erst recht, wenn man in einem so flüssigen Material wie der eigenen Erinnerung gräbt. Ich in diesem Text hin- und her-redigiert, und nun streiche ich das retrospektive Orakeln.
Aber ich denke, spätestens nach den ersten musikalischen Schlüsselerlebnissen war es eine Frage der Zeit. Irgendwann hätte ich die Dunkelheit auf anderem Wege gefunden, und mit jeder Berührung hätte sie mich ein Stück weiter gefangen genommen. Nicht auszudenken nur, wenn es noch länger gedauert hätte!
Über meine Erfahrungen, Gedanken und Selbsterklärungen nach meinem Weltenwechsel habe ich schon damals einen Text geschrieben, den Shan Dark in ihrem Blog veröffentlicht hat: „Schwarz“ – ihr findet ihn hier.
Wunderbar geschrieben und sehr berührend, Dein Bericht! Der Alltag und das politische Geschehen können einem schon sehr zusetzen, da braucht man seine „Rückzugsorte“, die nicht unbedingt räumlich sein müssen, sondern auch musikalischer der geistiger Natur sein können. Dieses Gefühl des „Angekommenseins“ kenne ich auch, da muss nichts überlegt oder entschieden werden, es stimmt einfach. Und es macht keinen Sinn, den eigenen Weg zu hinterfragen, ob er geradliniger hätte sein können/sollen. Alles braucht seine Zeit und wie Du schreibst, früher kamen Einflüsse von außen und neue Eindrücke nicht so leicht wie zu Zeiten des Internets, der online-Musikplattformen und der sozialen Netzwerke. Dein Lebensweg gehört zu Dir, ist individuell. Wichtig ist nur, dass man sich nicht für andere verbiegt.
Das hat Tanzfledermaus wunderbar zusammengefasst. Danke für deinen Bericht.
Eins habe ich doch noch vergessen: ich hatte mich noch eine ganze Weile gewehrt, mich als Teil einer „Szene“ zu sehen. Dafür war ich schließlich viel zu alt, viel zu individuell … es sind doch nur ein paar stilistische Überschneidungen … Rosendorn kommentierte das mit „ja, das ist szenetypisch, das sagen sie alle.“ Das war wohl der Punkt, an dem ich den Widerstand aufgegeben habe.
Für mich mit einer der interessantesten Beiträge zum diesjährigen Gothic Friday.