Gothic Friday Februar: Der Tag, an dem meine Vergangenheit starb

Wie bereits angekündigt, werden auch spätere Einsendungen zum Gothic-Friday berücksichtigt. Björn (Kara) erzählt für das Februar-Thema: Wie seid ihr in die Szene gekommen? von seinem Szeneeinstieg. Ein bisschen Überredung brauchte er, um mit seiner bewegenden Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen, ich bin mir aber sicher, es hat sich gelohnt.

Wie ich wurde, was ich bin oder: Der Tag, an dem meine Vergangenheit starb.

Ich saß auf meinem Koffer und beobachtete meine Mutter, die mich hier abholen wollte. Sie sah mich nicht und ich hatte keine Lust, Ihr entgegen zulaufen. Der Aufenthalt in England hatte mich verändert. Ich war das erste mal in einem fremden Land, so ganz ohne Eltern und ich hatte das Gefühl, das ich tun und lassen konnte, was immer ich wollte. Aus dem kleinen Spießer war ein Revoluzzer geworden. Zumindest fühlte ich mich so. In England begegnete mir eine vollkommen neue Jugendkultur, Leute mit bunten und wilden Haaren und Leute bei denen man nicht wusste, ob sie Junge oder Mädchen waren. Meine Welt stand Kopf.

In einem Wachsfigurenkabinett hatte ich eine Kopie von Boy George gesehen und mich spontan in ihn „verliebt“ und dabei wusste ich damals noch nicht einmal, dass ich schwul war. Boy George war mein neuer Held! Und so trug ich ein Haarteil als langen Zopf, darüber ein Kopftuch mit Strohhut und eine Sonnenbrille mit kreisrunden Gläsern, passende zerfetzte Jeans und jede Menge Buttons mit nicht gesellschaftskonformen Sprüchen. Ich saß auf dem Koffer, wartete und beobachtete.

Nachdem meine Mutter mich endlich erkannt hatte und sich von dem ersten Schock des Anblicks erholt hatte, schien sie das veränderte Aussehen ihres Sohnes recht schnell zu akzeptieren. Blöde Sprüche auf den Dortmunder Straßen des Jahres 1985 konterte sie nach Art einer Löwenmutter – wehe dem, der sich mit ihr anlegen wollte! Im Gegenteil: Sie ging zu so ein paar bunten Leuten in unserer Stadt, erfuhr, dass man sie Punks nannte und erkundigte sich, wie man denn die Haare so bunt bekommen würde und, wo es bei uns Läden gibt, in denen „solche“ Leute einkaufen gehen würden. Punks! So hießen dieses „bunten Vögel“ also. Nachdem wir diese Läden dann gefunden hatten, blondierte sie mir erstmal die Haare und verfeinerte das Ganze mit blauen Strähnen

Der Wandel beginnt.

In meinem Boy-George-Outfit besuchte ich meine Cousine. Sie hatte ein Boy George-Poster in ihrem Zimmer und ich wusste, dass sie ihn mochte. Ich war mir sicher, das sie meinen neuen Look auch cool fand. Zufällig kam auch ihr Freund zu Besuch. Der trug nur schwarze Klamotten, roch leicht muffig nach Patchouli und stand auf Robert Smith von The Cure. Obgleich ich die Musik anfangs nicht sonderlich mochte, ließ ich mich darauf ein und Robert Smith war plötzlich großartig. Seine Texte und die Musik sprachen genau das das an, was ich fühlte, ich konnte mich erstaunlicherweise sehr in der Musik wiederfinden. Kennt ihr das Gefühl, wenn man sich bei einem Lied „auflöst“ wie eine Brausetablette? Ja, genau das war es, ich verschwand in der Musik – das war der Weg, den ich gehen wollte!

Und so tauchte ich ab 1986 immer weiter in die „schwarze Szene“ ein. Ab sofort war der „Central Park“, eine Discothek in Dortmund die auch liebevoll Assi-Park genannt wird, am Wochenende mein zweites Zuhause. Hier wurde „schwarze Musik“ gespielt. The Cure, Sisters of Mercy, Siouxsie and the Banshees, Bauhaus und Alien Sex Fiend drehten sich dort auf den Plattentellern. Hier sah ich die ersten Turm- und Tellerfrisuren – ein Style, der mich nicht mehr losließ – und ich nahm mir fest vor: Exakt SO will ich auch mal aussehen.

Eines Abends des Jahres 1989 traf ich dort auch meine beste Freundin Manu (Haggy), die mit mir bis heute diese Leidenschaft teilt. Sie zeigte mir stolz ihre Robert Smith – Sammlung. Nicht etwa zu Hause, sondern direkt in der Discothek, denn sie hatte tatsächlich einen Ordner mit Robert Smith und The Cure Bildern dabei! Anfangs fand ich sie schon ein wenig „komisch“, sagte es ihr aber nicht, und merkte dann im Laufe der Zeit dass sie eine Seelenverwandte ist. „Kara“ und „Haggy“ waren ab sofort unzertrennlich. Ich taufte Manu „Haggy“ – eine Verniedlichung von Hagazussa, der Zaunreiterin, die man Volksmund wohl auch Hexe nennen würde. Den Spitznamen Kara hatten mit türkische Mitschüler gegeben. Kara ist türkisch und bedeutet „Schwarz“. Warum ich den bekam, muss ich Euch jetzt wohl nicht erklären.

Jede Woche erfanden wir uns neu – immer wieder etwas anderes, immer extremer, immer stärker der Szene verbunden. Dazu gehörte auch, dass wir nach dem „Assi-Park“ immer noch nach Bochum ins „Zwischenfall“ (das „Fall“) mit der letzen S-Bahn gefahren sind, und morgens bei Wind und Wetter auch mit der ersten S-Bahn wieder zurück. Goth, was haben wir da manche Male gefroren! Das Zwischenfall wurde unsere Kultstätte. Dort entfalteten wir unseren Stil vollends und holten uns immer neue Inspiration. Das Fall wurde – wie für viele andere auch – unser Wohnzimmer.

Nach einiger Zeit kam ich mit meiner Mutter doch nicht mehr klar. Das hatte bestimmt auch mit meinen immer extremeren Looks zu tun, denn ich stellte die Haare oft in schwindlige Höhen, trug weißes Makeup und ging mit meinen Pikes, die meine Mutter „Till-Eulenspiegel-Schuhe“ nannte, schon gar nicht mehr aus dem Haus. Ich zog zu meiner alkoholkranken Tante, doch auch hier kam es schnell zu Differenzen. Ihre Einschätzung unserer Szene als „Satanisten-Kult“ machten das Zusammenleben unerträglich. Eine verrückte Zeit. Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an eine Lehrerin, die mir ein Buch auf den Platz legte und mit einer zweifelsohne gespielten fürsorglichen Art sagte: „Wenn du reden möchtest, ich bin für dich da.“ Ich schaute mir das Buch an, und musste laut lachen, der Titel lautete: „Ricarda S. – Meine Erlebnisse in der schwarzen Sekte“. Natürlich redete ich nicht mir ihr. Ich wusste nun aber, das man auch schon in der Schule davon ausging, dass ich den Gehörnte anbete würde. „Ist der Ruf erst ruiniert…“ Ich dachte mir nichts weiter dabei und machte weiter wie bisher. Ich wusste auch nie wirklich, ob ich jetzt gemobbt wurde, weil ich Gruftie war, weil ich schwul war oder wegen Beidem. Egal was es war und wie stark ich wirkte, weh tat es immer.

Es war meiner Tante auch ein Dorn im Auge, dass ich immer häufiger bei Haggy übernachtete weil ich dort einfach Ich sein konnte, einfach Kara. Manus Vater merkte wohl, dass ich keine „Gefahr“ für seine Tochter bin, denn ich durfte sogar im selben Zimmer wie sie schlafen. Haggys Eltern mochten mich und gaben mir das Gefühl eines „Zuhauses“. Ich feierte dort unter anderem auch Weihnachten und Geburtstage, ich gehörte einfach dazu – dafür bin ich bis heute dankbar.

Die Situation mit meiner Tante eskalierte. Sie erzählte Haggys Eltern, wir seien Satanisten und würden Blut trinken und Leichen ausgraben. Und sowas von einer Frau, die selber stets in schwarz gekleidet war, in ihrem schwarzen Haar Flecken von Haarspray trug und mit ihrem toten Bruder, der als Gobelin-Porträt im Wohnzimmer hing und aussah wie ein jesusähnlicher Althippy, Zwiesprache hielt. Aber Manus Eltern standen hinter dem „Gruftie“. Um mich weiterhin zu kontrollieren versuchte meine Tante mich mit meinen Sachen, die ich noch bei ihr hatte, zu erpressen. Als ich nicht an einem zuvor vereinbarten Tag kam, um meine Sachen abzuholen, sondern einen Tag später, hatte meine Tante alle meine Sachen schlichtweg „entsorgt“: Pikes, Perücken, Haarteile, Mäntel, Kleider, Hosen, Hemden, Schmuck, Fotos, Platten, Kassetten, Papiere – alles weg – meine gesamte Vergangenheit auf der Müllkippe.

Ich dachte wirklich, ich verliere den Boden unter den Füssen, und hätte sie am liebsten erwürgt. Doch ich ließ mich nicht unterkriegen, und erfand mich einfach wieder neu.

Manu („Haggy“) ist bis heute meine beste Freundin. Aber sie ist mehr als das: sie ist das Bindeglied zu meiner Vergangenheit. Als das Zwischenfall im Jahr 2011 abbrannte, hinterließ dieses Ereignis ebenfalls eine tiefe Narbe. Schon wieder verlor ich einen Teil meiner Vergangenheit. Doch ich bin immer noch dabei und immer noch „Kara“, wie man auf türkisch sagen würden. Von wegen: „Es ist nur eine Phase…“

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Manu
Manu (@guest_51840)
Vor 8 Jahre

So toll! Mir laufen Tränchen….
Lasse es uns gemeinsam immer und immer weiter leben….

Tanzfledermaus
Tanzfledermaus(@caroele74)
Vor 8 Jahre

Schöne alte Aufnahmen und Stylings! Da bekomm ich einen kleinen Nostalgie-Flash…
Das Verhalten Deiner Tante ist ja übelst heftig gewesen, was die nur für ein Probem hatte, Dir das Leben so schwer zu machen? Und Sachen wegschmeißen geht ja gar nicht, das ist doch Eigentum! Schade, dass Deine Mutter so umgeschwenkt ist von extrem tolerant zum Gegenteil. Gut, dass wenigstens andere unvoreingenommen waren (Manus Eltern). Ich bin schon froh, dass dieses furchtbare Satanisten-Klischee nicht mehr so präsent ist, seit die Szene scheinbar mehr öffentliche Akzeptanz erfährt. Das hat mich selbst auch immer sehr belastet, getroffen.

Gruftfrosch
Gruftfrosch(@gruftfrosch)
Vor 8 Jahre

Berührend, wirklich. Danke, dass du deine Lebensgeschichte mit uns teilst. Das halte ich nämlich nicht für selbstverständlich. Darf ich einfach mal sagen, dass ich die Bilder und damit euch wunderschön finde?

Kara
Kara (@guest_51849)
Vor 8 Jahre

Vielen Dank für eure Reaktion ❤

Mr. Niles
Mr. Niles (@guest_51850)
Vor 8 Jahre

Hallo Kara!
Noch so`n „Übrig gebliebener“ aus alten Tagen. ;-)
Ich finde es toll, dass Du dir treu geblieben bist!
Meine Alten sind auch extrem konservativ. Bei uns war`s irgendwann mal soweit, dass meine Mutter sagte, sie würde mir keine schwarzen Klamotten mehr kaufen. (Naja, hab´ich halt „Buntes“ gekauft, und später umgefärbt…)
Mit zunehmendem Alter hatten meine Eltern eh´keinen Einfluss mehr darauf, und sich irgendwann auch damit abgefunden – bis heute!
Deine Lebensgeschichte kannte ich natürlich nicht, aber es war schwer, dich im „Park“ zu übersehen. Früher habe ich dich für nen Poser gehalten, aber da Du aktuell im FZW immer noch so aufläufst, widerrufe ich hiermit öffentlich! ;-)
Aber nicht nur meine Alten wollten mich „umpolen“. Meine damals eher punkmäßig gestylte Freundin (Lenni kanntest Du wahrscheinlich auch?!) hat mich ins Brück`s geschleppt, damit ich etwas Farbe bekäme. Heraus kam ich dann mit einem schwarzen Shirt, auf dem grüne Rosen aufgedruckt waren… *g*

LG Jörg

Svartur Nott
Svartur Nott(@svartur-nott)
Vor 8 Jahre

Wie ich mich immer freue, wenn sich „jemand von früher“ öffnet und ein wenig von seinem damals zeigt. Und mal wieder habe ich Sehnsucht in eine Zeit, in der ich selbst viel zu klein war, dies zu erleben… Danke, Kara.

Silvie
Silvie (@guest_51862)
Vor 8 Jahre

Respekt; sehr feinfühlig, aber nicht kitschig beschrieben ! Die alten Zeiten-ein wenig Melancholie schleicht sich grad ein… an die ‚alte Tante ‚ kann ich mich noch gut erinnern…nicht zuletzt, weil ich eines ihrer irren Retrokleider geerbt hatte… und an diese einfältigen ‚Tod und Teufel‘ Vorurteile auch. Zugebenermaßen haben wir uns auch bevorzugt darüber lustig gemacht, indem wir das Klischee gern mal bedienten, denn wider Erwarten gingen wir zum Lachen nicht in den Keller, sondern lieber in den Z-Fall…

Levi
Levi(@marion)
Vor 8 Jahre

Vielen Dank, dass du deine Geschichte mit uns teilst und Respekt, dass du allen Widerständen und Vorurteilen zum Trotz du selbst geblieben bist. Ich finde es immer wieder traurig wie verständnislos manche Leute, vor allem die eigene Familie sein können.

Liesa
Liesa (@guest_53015)
Vor 8 Jahre

Jetzt bist du mir noch Sympathischer :)
Wundervoll und gut das Du trotz allem noch immer Du selbst bist! Das hätten nicht alle geschafft.
Ich kann mich noch sehr gut an die Zeit erinnern als das PC69 in Bielefeld dichtgemacht wurde. 2003 Eine Welt ist zusammengebrochen…

Sascha
Sascha (@guest_57231)
Vor 6 Jahre

Hallo Björn, wunderbar geschrieben! Ich hab so ein bisschen Pipi in den Augen, das ist so bewegend. Und jedesmal wenn ich von den ‚Urgesteinen‘ etwas zu lesen oder hören bekomme, dann wird mir jedesmal ganz anders. Ich hab das Gefühl einer gewissen Fernweh zu unterliegen :(

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