Dass es keine wirklichen Künstler mehr gibt, diesen Gedanken wollte Axel nicht einfach im Raum stehen lassen und so richtet sich seine Kritik gegen die, die genau das bemängeln. Für ihn ist klar, dass es innerhalb der Szene immer noch Stimmung gibt, auch wenn man sie nicht gleich findet. So lautet der Titel seines Artikels für das Dezember-Thema des Gothic Friday dann auch „Eine Szene, in der man sich seine Stimmung suchen muss“.
Das Bild der allgegenwärtigen Weltuntergangspropheten ist seit Jahren präsent. Menschen, die wahlweise Plakat tragend oder mit Megaphon bewaffnet, manchmal auch in Kombination beider Stilmittel, das Ende der uns bekannten Welt wissen wollen. Überall gab und gibt es sie: Im alten Rom, bei den Ägyptern, in Hollywood und in Deutschlands Gothic-Szene. Übrigens: Nur in Deutschland. „Es gibt keine Künstler mehr“, „unsere Szene ist tot“ und andere kulturpessimistische Beiträge findet man kaum auf den Seiten aus den USA, Mexiko, Italien oder Griechenland. Und auch wenn ich mittlerweile mit vielen Irrungen und Wirrungen in der Gothic-Szene meinen Frieden geschlossen habe – unbegründeter Kulturpessimismus ist immer noch etwas, was mein Blut in Wallung bringt vor Unverständnis.
Woran liegt es also, dass ausgerechnet in Deutschland jene Kulturpessimisten immer wieder für den Clickbait auf den schwarzen Seiten des Internets sorgen?
Wenn ich sagen würde, dass das eine typisch deutsche Eigenart ist, dann könnte man das Thema einfach wegwischen. Aber so einfach ist die Erklärung dann doch nicht. Leider. Ich würde die Gründe, warum in der deutschen Szene Kulturpessimismus so verbreitet ist, an drei Thesen festmachen wollen. Thesen über die es sich natürlich trefflich streiten lässt und dies sollte man auch tun.
Die erste These ist meine Annahme, dass viele Szenegänger in den letzten Jahren und Jahrzehnten sehr passiv und konsumistisch geworden sind. Früher, also ganz früher in den heiligen 1980ern, haben sich Veranstaltungen durch Mund-zu-Mund-Propaganda verbreitet. Es gab kein Internet, keine großen Szenezeitschriften, höchstens einzelne Fanzines. Damals haben Szenegänger aktiv alles irgendwie aufgesogen, was mit ihrer Leidenschaft zu tun hatte. Während der 90er wurde das Angebot an verschiedenen Veranstaltungen größer, die Szene fing an sich zu kommerzialisieren. Man musste schlicht nicht mehr aktiv suchen. Plötzlich führte jeder Media Markt eine riesige Indie-Musikecke, Parties waren in den gängigen Zeitschriften verzeichnet. Gleichzeitig war die Subkultur aber noch nicht derart in der normalen Gesellschaft angekommen, sodass man sich damit noch wunderbar abgrenzen konnte. Das, und die Tatsache das es damals noch drei bis vier Handvoll Bands gab auf die sich nahezu jeder Szenegänger einigen konnte, sorgte dann dafür, dass bei Gothic-Partys im Laufe des Abend schon etwas lief, was einem gefiel. Es reichte häufig einfach nur, auf eine Gothic-Party zu gehen und man war unter sich. Schöne einfache Zeit.
In den 2000ern mit dem Aufkommen des Internets und der stärkeren Kommerzialisierung von Zeitschriften, Festivals und Parties wurden dann von außen neue Stile in die dann nicht mehr ganz so funktionierende „Szene“ getragen. Viele Altgrufties nahmen das Naserümpfend zur Kenntnis, es wurde sich lauthals darüber in den Foren des noch jungen Internets ausgelassen, das war es dann aber auch schon was passierte. So wurde dieser Bereich immer größer und lukrativer, alte Erwartungshaltungen können von Festivals wie das M’Era Luna eben schlicht nicht bedient werden, weil das nicht lukrativ wäre.
Soviel zur Bestandsaufnahme. Was einige KritikerInnen schlicht nicht auf dem Schirm haben, ist die Tatsache (!), dass der Untergrund nicht nur vereinzelt wieder auflebt, sondern mittlerweile gibt es sie wieder in ganz Deutschland: Die kleinen Veranstaltungen und Festivals. Musiker, die ihr eigenes Ding durchziehen und die Musik machen, die sie mögen. Dazu muss man gar nicht in die Ferne schweifen, obwohl zweifelsohne ein Blick in die USA, nach Italien, Spanien, Griechenland und den osteuropäischen Staaten ebenfalls sehr spannend ist. Wir haben die Veranstaltungen und die Musiker mehr oder minder direkt vor der Haustür. Festivals wie das mittlerweile recht bekannte NCN in Deutzen bei Leipzig, welches seit Jahren ein extrem vielfältiges Line-Up präsentiert aus den üblich verdächtigen Headlinern, sowie aber auch vielen kleineren Bands. Oder das Owls ‘n Bats Festival im nordrhein-westfälischen Detmold, welches einmal im Jahr nicht nur eine tolle Lage für Live-Musik bietet, sondern auch ebenso schicke Line-Ups. Im Frankfurter „Bett“ findet dieses Jahr das kleine „Kalte Sterne“ Festival statt, in Hamburg wird das Wave Rock Festival organisiert, und und und. Bei all diesen Festivals sieht man sie wieder: Die Musiker, die definitiv keine halbnackten Hüpfdohlen brauchen um auf der Bühne etwas reißen zu können.
Früher hat es oben erwähnte Mund-zu-Mund-Propaganda gebraucht um auf die coolen Veranstaltungen aufmerksam zu werden. Das hat sich in einer extrem diversifizierten Musikszene nicht geändert. Ich denke, das viele Grufties, die in den späten 80ern und 90ern sozialisiert wurden, wieder lernen müssen selbst auf die Suche zu gehen. Es gibt nicht mehr diese Bands, auf die sich alle einigen können. Ebenso wenig gibt es eine große Szene, sondern viel mehr viele kleine regionale Szenen. In den letzten Jahren hat sich der Untergrund die Szene wieder zurückgeholt, es gibt wieder sehr viele engagierte Menschen die tolle Parties, Konzerte und Festivals auf die Beine stellen.
Liegt es denn nun allein am unwilligen Gruftie, dass er all diese Perlen nicht erkennt und sieht? Auch das wäre wohl zu einfach in der Erklärung. Viel mehr erleben wir derzeit die Schattenseiten einer Informationsgesellschaft: Von allen Seiten und Kanälen prasseln minütlich Informationen auf uns ein. Da die relevanten von den überflüssigen Informationen zu trennen ist für viele Menschen leider sehr schwierig. Nicht ohne Grund gibt es das Phänomen der gefühlten Wahrheit, die sich von den nackten Fakten unterscheiden. Jeder lebt in einer von Algorithmen bestimmten Filterbubble. Und dies steht natürlich im Widerspruch einer lebendigen Subkultur. Kleinere Projekte haben da schlicht nicht die Mittel um gegen die großen Player durchzukommen. Was meine zweite These wäre.
Erschwerend kommt hinzu, dass es in Deutschland derzeit keinen guten und korrektiven Musik- und Kulturjournalismus innerhalb der Szene gibt. Die Internetradios sind fürchterlich, viele Webzines bestehen aus seelenlosem runterrattern der Veröffentlichungen von Major Labels. Auch die sozialen Netzwerke haben nicht in dem Maße für eine Öffnung gesorgt wie ursprünglich erhofft. Es bleibt also weiterhin an den kleinen Blogs die coolen Veranstaltungen, die hörenswerten Bands und die richtig guten DJs und Djanes herauszuarbeiten. Kulturpessimismus hilft da wenig, möchte man eine weitere Änderung in der Szene und ein Bewusstsein für Kunst und Kultur schaffen. Früher war vielleicht mehr Lametta, aber die alten Zeiten sind schlichtweg vorbei. Heute gibt es genauso viel zu entdecken, man muss eben nur wollen!
Und zum Entdecken gehört es auch offen zu sein. Offen für Bands wie Nomotion aus Italien, die klassischen Gothic-Rock mit Country verbinden. Für Projekte wie Ships In The Night aus den USA, wo Darkwave sehr organisch mit Witchhouse verbunden wird. Ich erlebe die heutige Musikszene als extrem vielfältig. Es gibt nicht nur die Bands, die wieder alten Wurzeln pflegen, sondern auch Musiker welche neue Ideen einbringen. Diese Mischung macht die Szene-Musik derzeit so unglaublich spannend!
Nun habe ich mich ein wenig über den Kulturpessimismus ausgekotzt, über mein Unverständnis über Behauptungen, dass es „keine Künstler mehr gäbe“. Die Frage, die jetzt sicherlich einige an dieser Stelle haben: Wo werde ich denn informiert über die von Dir angesprochenen Veranstaltungen? Wo finde ich denn die ganze toll Musik, von der so viele immer wieder sprechen?
- Was Veranstaltungstipps betrifft, hat sich auf Facebook eine Gruppe etabliert:
Festivals, Konzerte und Parties abseits des Mainstream – https://www.facebook.com/groups/335105646690402
Initiiert und geführt von der Hamburgerin Mara Martin, die gefühlt auf 90% aller subkulturellen Festivals in Deutschland anzutreffen ist. Sie hält die Gruppe sehr gut sauber und auf dem neuesten Stand, sodass man hier in der Tat viele empfehlenswerte Veranstaltungen findet. Bei Parties empfiehlt es sich zudem auf die jeweiligen DJs zu schauen und die Playlisten zu konsultieren, welche diese DJs häufig in den sozialen Netzwerken posten. Daran kann man schon sehr gut einschätzen, ob der DJ den eigenen Geschmack trifft oder nicht. Und bei Konzerten sollte man auch mal wieder neugierig auf unbekannte Bands sein, häufig wird man sehr positiv überrascht! - Für Musik allgemein ist Bandcamp eine Fundgrube und Gottes Geschenk! Naja, fast. Denn die Bandcamp eigene Suche ist für den Otto-Normal-User wohl eher nutzlos. Interessanter sind da schon die Profile der DJs und andere Leute, die extrem viel Musik dort kaufen. Darüber lassen sich viele tolle Veröffentlichungen finden ohne den anderen Mist, den es auf solch einer offenen Plattform natürlich auch gibt. Fünf Empfehlungen:
Scary Lady Sarah: https://bandcamp.com/scaryladysarah
iŋЅiđiŌυЅ GhŌЅ†: https://bandcamp.com/insidiousghost
Marzia Fraternale: https://bandcamp.com/marzia
RobertIanJim: https://bandcamp.com/robertianjim
Marc Zimmermann: https://bandcamp.com/lunastrom - Wer Iieber Internetradio hören will, der kann mal beim griechischen Radio „Die Seele“ reinhören: http://www.dieseele.net – Auch hier findet man immer wieder tolle Musik abseits unseres Szene-Mainstreams.
Ich hoffe mit diesem Text ein klein wenig zum Kulturoptimismus beitragen zu können. Denn allgemein gilt in einer Subkultur mehr als woanders: Bleibt neugierig, bleibt aufmerksam und ja, bleibt offen für Neues. Es muss einem bei weitem nicht alles gefallen, was in der Gothic-Szene so gemacht wird. Aber noch mehr als vor zehn Jahren findet heute jeder künstlerische Nischen in denen er sich wohlfühlen kann.
P.S.: Wenn ihr einen Garten, ein großes Wohnzimmer oder einen Dachboden habt: Ladet Euch die Bands zu Hause zu Wohnzimmer- und Dachbodenkonzerte ein! In der allgemeinen alternativen Musikszene ist das in den letzten Jahren ein sehr erfreulicher und von vielen Musikern sehr gern wahrgenommener Trend geworden. Ich würde mir wünschen, wenn es diesen Trend auch in der Gothic-Szene geben würde.
Gut gebrüllt, Löwe! Die Kritik ist angekommen und ich werde mal aktiv auf die Suche gehen. Danke für die Festival- und Radio-Tipps.
Danke für den Artikel, er spricht mir als DJ und Veranstalter schwarzer Parties aus dem Herzen.
In dem Zuge möchte ich auch nochmals auf unsere Veranstaltungen hinweisen, die wirklich sehr den Underground bedient – vielleicht dem ein oder anderen schon zu viel Underground?
Es fängt bei der apokalyptisch-heimeligen Location an, die sehr klein ist und eben kein aufgemöbelter Club, bei dem es nur um das „Gesehen werden“ ankommt.
Und ja, bei uns gibt es auch eine Toilette, auch wenn so mancher das Gegenteil behauptet.
Schaut einfach mal unter klirrbar.wordpress.com rein.
Wohnzimmerkonzerte haben wir in Planung – das erste Mal hatten wir damit auf der Make Rhein-Main Bended Realities 2015 Berührung und waren davon gleich begeistert.
Nun bin ich wenig szenepessimistisch… und als OWLer weiß man über die Grenzen hinaus das nicht nur Gruftis mitn waagerechten Strich im Gesicht lachen/lächeln…das Festival am Hermann hab ich aber entweder vergessen, übersehen, oder nicht aufgepasst. Danke für den Tipp. :-[ ;-}
Um die Liste für Infos etwas fortzuführen
Meine Nr. 1 in Sachen Musik und Infos. https://post-punk.com/ oder Post-Punk @ Facebook
Musiktipps auf Facebook:
Cold on the Wave (Gruppe)
In Goth We Trust (Gruppe)
Chris Juracid (DJ)
Attitude (Radio)
Und bereits schon einmal an anderer Stelle erwähnt: Andrew Pettit mit https://www.mixcloud.com/
Was den Informationsfluss betrifft meine ich, dass die Vernetzung im Internet immer besser funktioniert. Natürlich lebt das Ganze davon, indem man nicht nur Infos konsumiert sondern auch weitergibt. Halt wie früher bei der Mundpropaganda.
Vom musikalischen Angebot her fühle ich mich im Moment wie im Paradies. Über fehlende gute Musik kann ich mich nicht beklagen. Allein am Wochenende 24.-26. März müsste ich mich dreiteilen um überall dort sein zu können, wo ich gerne wäre. Ich habe mich für Berlin und das Dark Spring Festival entschieden.
Seit einigen Wochen bin ich ganz angetan von Drab Majesty Zu sehen im Blue Shell Köln am 24.03. und im Underground Köln am 13.04. Die Tourdaten lassen sich auf FB finden.
Gabrielle, wo Du Mixcloud erwähnst: Da darf natürlich auch die wunderbare Radioshow von dem Mick Mercer nicht fehlen! https://www.mixcloud.com/ – Da gibt es streckenweise ne ganz verrückte Mischung aus alt und neu und dazwischen. Und das alles mit diesem wunderbar trockenen britischen Humor! Nicht immer voll gruftig, aber zum großen Teil doch szenig.
Und dann noch ne Ergänzung zu Bandcamp:
Der Dresdner DJ Marco Kirste hat ebenfalls eine sehr empfehlenswerte Sammlung aufgebaut: https://bandcamp.com/MarcoKill
Ich glaube, dass die Clublandschaft sich derzeit ändert, wenn man sich mal die Playlisten von DJs wie den Chris, den Marco oder den RobertIanJim anschaut. Selbst im Dark Flower (!!) kann die Annieheaven sehr erfolgreich ihre dunkelromantischen Nächte durchziehen. Was sie da spielt unterscheidet sich kaum von der Musik bei der Blauen Stunde (selbst Songs aus den doch recht speziell gewordenen letzten beiden Ausgaben unserer Snowflakes-Reihe bringt die da unter, wo mir noch vor ein paar Jahren jeder VA gesagt hätte, dass man das in Clubs niemals nicht bringen kann! Wave wäre ja schon schwierig, aber Dark Folk und Southern Goth? Niemals nicht, tja, Zeiten ändern sich). Das sind natürlich alles nur punktuelle Beobachtungen, aber diese Intoleranz seitens des Publikums bricht gerade sehr schön auf, finde ich.