Gothic Friday April: Das allerwichtigste für mich ist Zeit, Respekt und Höflichkeit (Anna)

Anna aus Köln dachte sich: Ich mache einfach mal mit. Eine gute Entscheidung, wie ich finde. Denn Ihr Privileg, in seinem Traumberuf tätig zu sein, wird nicht jedem zu Teil und so macht es einfach Freude, Annas Zeilen bei der Beschreibung ihrer Tätigkeit zu lesen. Ihr Artikel zum Gothic Friday im April ist erfrischend persönlich und wirft eine ganze neue Sichtweise auf Ihre Berufung.

Welchen Beruf übst du aus?
Ich arbeite in der (mobilen) Seniorenbetreuung. Anders als der klassische Altenpfleger/in übe ich keine pflegerische Tätigkeiten aus und besuche die Leute meist noch in ihrer eigenen Wohnung. Ich kümmere mich dort um alles, was es den Menschen ermöglicht, selbstständig in ihren eigenen vier Wänden zu leben – also eher um die „zwischenmenschlichen, häuslichen Dinge“, für die in der „Pflege“ nur selten Zeit bleibt.

Ich begleite sie zu Arztbesuchen und Spaziergängen, hole Rezepte/Medikamente ab, unterstütze im Haushalt bei der Wäsche, dem Putzen der Fenster oder den Einkäufen, kümmere mich aber auch um administrative Dinge wie Briefe der Krankenkasse und Ämter oder die klassische Demenzarbeit. Es kommt aber auch vor, dass ich einfach nur mal auf eine Tasse Kaffee rumkomme und mit einer schwerst depressiven Dame Zeit verbringe, ihr zuhöre und versuche, ihrem Lebensgefühl etwas „Sinnlosigkeit“ zu nehmen.

Da ich auch aus der klassischen Altenpflege komme und es mir immer (!) nahe ging, kaum Zeit für die Menschen zu haben, ist es für mich der absolute Traumberuf. Ich arbeite recht selbstständig, bekomme von der Chefin wöchentlich den Dienstplan mit der groben täglichen Planung. Wenn Frau XY sich die Seele aus dem Leib weint, weil Pudel Achilles Leben tragisch endete, kann ich mir auch die halbe Stunde Zeit nehmen, um zu trösten. Was mich so glücklich macht, ist, dass ich den Menschen das schenken kann, was für mich das Allerwichtigste ist: Zeit, Respekt und Aufmerksamkeit

Denn gerade viele ältere Leute sind sozial wahnsinnig vereinsamt und so wird sogar ein Ausflug mit dem Rollstuhl zum Edeka um die Ecke zum absoluten Highlight.

(Wie) Lassen sich Gothic und Beruf verbinden und ist das überhaupt wichtig?

Mir ist es insofern wichtig beides zu verbinden, weil ich mich ja auch wohlfühlen muss. Müsste ich morgens mit Pünktchenrock und Blümchenbluse in pastellpink aus dem Haus, wäre der Tag für mich gelaufen und genau das würde ich dann wohl auch ausstrahlen. Ich halte es meist mit schlichter schwarzer Klamotte und Chucks oder Stiefeln, mal eine Kette, wenig geschminkt und gepflegt. Meine Chefin ist zum Glück sehr tolerant. Sie hat schon diverse Haarfarben miterlebt und es wohlwollend mitgemacht. Schwarz, rot, neonpink, pastellrosa, lila und aktuell kupfer und es gab nie auch nur ein böses Wort. Auch meine Tätowierungen und mein Nasenring waren nie wirklich ein Thema. Obwohl, da gabs mal was:

Welche Abstriche nimmst du bei deinem Äußeren im Kauf oder würdest du in Kauf nehmen?

Anna - BlumenstiefelDienstbesprechung mit der Chefin.

Chefin: „Sagen Sie mal Frau XY, da gibt es etwas, darüber muss ich mit Ihnen reden. Das ist mir ja sooo unangenehm und eigentlich ist es mir auch völlig egal. Es soll sich ja jeder selbst verwirklichen...“

Das Telefon klingelt, Chefin geht dran. Ich sitze da und mein einziger Gedanke ist: Neeeeeein…oh bitte nicht! Die Haare. Bitte nicht…! Noch nie verstrichen Minuten so langsam, gefühlt dauerte das Telefonat ewig und ich wusste ja, wenn Gespräche SO beginnen, naja…

Chefin kommt zurück: „Also, Frau XY hat gesagt, Sie haben sich tätowieren lassen. Am Unterarm. Also mir ist das ja völlig egal, aber Frau XY findet das wohl „fies“…“ (*PUH* Nicht die Haare… :D )

Ich: „Ach sooo, und ich hatte schon Angst wegen meinen Haaren. Nein, das kann ich völlig verstehen. Wenn Frau XY damit nicht kann, trage ich bei ihr was langärmliges. Ist ja kein Problem…

Chefin: „In Ordnung. Aber nicht im Sommer. Es kann keiner von ihnen verlangen, dass sie sich totschwitzen. Und jetzt zeigen Sie doch mal…“ Danach gab es dann noch ein ausführliches Gespräch über Tattoos und allen möglichen SchnickSchnack.

Welche Vorurteile oder Probleme tauchen im Umgang mit Chefs, Kollegen oder Kunden auf?

Generell freuen sich alle meine Leute über meinen „Farbtupfer“ auf der Haut oder in den Haaren. Das Interesse ist immer riesig und es gibt immer ein Gesprächsthema.

Eine ältere Dame (86) begrüßte mich mal mit den Worten: „Anna, komm mal her und zeig mal dein Bein.“ Und zu ihrer Tochter sagte sie: „Anna hat Fledermäuse am Bein. Das musst du dir ansehen. Das ist wirklich toll!

Eine andere Dame (84) nannte mich aufgrund meiner knatschpinken Haare immer „Mein Kamellchen“ (kölsches Wort für Bonbon) und sagte neulich zu mir: „Du bist ja auch ein Schwarzfahrer. Immer in Schwarz unterwegs…“ was für herrliches Gelächter bei dem alten Ehepaar sorgte.

Eine andere Dame verbrachte das Wochenende mal damit, mir aus sämtlichen Zeitungen Berichte über Tim Burton auszuschneiden, weil sie wusste, das ich an dem Wochenende zur Autogrammstunde von ihm gehe und ein Riesenfan von ihm bin. Und immer wieder bekomme ich aussortierte schwarze Oberteile geschenkt „damit ich da noch was draus machen kann„. Vorurteile und Berührungsängste habe ich bisher in keinster Weise erlebt, eher im Gegenteil. Meine Chefin wird regelmäßig von Leuten angerufen (bei denen ich zum Beispiel das erste Mal war oder bei denen ich nur als Urlaubsvertretung eingeplant war) mit der Bitte ob „meine Anna“ nicht jedes Mal kommen könnte.

Ich denke, wenn man den Menschen respektvoll und offen gegenüber tritt, hat man die Sympathien schon von 80% der Leute in der Tasche. Und den restlichen 20% ist dann auch nicht mehr zu helfen… :)

Ähnliche Artikel

Kommentare

Kommentare abonnieren?
Benachrichtigung
guest
3 Kommentare
älteste
neuste beste Bewertung
Inline Feedbacks
Alle Kommentare anzeigen
strangeplant
strangeplant (@guest_52116)
Vor 8 Jahre

Ich denke, wenn man den Menschen respektvoll und offen gegenüber tritt, hat man die Sympathien schon von 80% der Leute in der Tasche. Und den restlichen 20% ist dann auch nicht mehr zu helfen… :)

Genauso empfinde ich es auch. Berufsübergreifend quasi.

Tanzfledermaus
Tanzfledermaus(@caroele74)
Vor 8 Jahre

Da hast du wirklich großes Glück, einen so dankbaren Job zu machen in dem Sinne, dass Du helfen und unterstützen kannst, ohne davon allzu sehr geschlaucht zu werden. Zeit hast für Zwischenmenschliches. Das ist ja gerade bei vielen Altenpflegern, die voller Idealismus begannen, oft ein Grund der Frustration, dass viel zu wenig Zeit für Einzelne bleibt, alles schnell gehen muss und man mitbekommt, wie sehr die zu Betreuenden darunter leiden.
Toll, dass Du ein so gutes Feedback hast, das nimmt vielen Gegenargumenten wirklich den Wind aus den Segeln und zeigt, dass der Mensch nun wirklich wichtiger ist als seine Klamotten und Haarfarbe.

Ältere Leute sind scheinbar sehr, sehr verschieden drauf, das habe ich auch schon erlebt.
Es gibt ein paar, die sehr offen und tolerant sind und leider nicht wenige, die – vermutlich durch die biedere Nachkriegszeit geprägt – sehr konservativ und schubladendenkend. Da gerät der bloße Anblick eines Tattoos zur optischen Beleidigung. Dabei sind Tattoos heute alles andere als selten oder unnormal.
Und es gibt sogar nicht wenige ältere Damen, die sich bunte Strähnen oder gleich komplett bunte Haare färben lassen – zumindest in Berlin öfter zu sehen.

Meine Oma, die sich oft genug in meiner Gegenwart über mein Styling ausließ („Deine schönen blonden Haare, wie kannst du die nur schwarz färben!“) hat mich mal gegenüber einer Nachbarin aus ihrer Seniorenwohnanlage verteidigt. Die hatte sich beschwert, dass ich immer so schwarz angezogen bin. Meine Oma meinte daraufhin, dass es wichtiger wäre, wie ich „innen drin“ bin, als wie ich rumlaufe, und dass ich ein liebenswerter Mensch sein. Das habe ich ihr hoch angerechnet.

Anna
Anna (@guest_52151)
Vor 8 Jahre

Hallo Tanzfledermaus,

es stimmt, viel ältere Leute können durchaus biestig sein. Allerdings habe ich die Erfahrung gemacht, dass oft eher Unsicherheit, Alltags/Sozialfrust und/oder Einsamkeit dahinter steckt. Je mehr man sich mit den Leuten beschäftigt, umso „freundlicher“ werden sie. Natürlich gibt es auch die, die schon immer intolerant und gemein waren, die ändern sich auch im Alter meist kaum.

Ich hab da z.B ein schönes Beispiel:

Herr R. (98 Jahre) und Frau H. (87 Jahre). Beide sind seit vielen Jahrzehnten ein Paar, leben allerdngs in getrennten Räumlichkeiten. Betreut wurde Fr.H, Herr R. ließ es sich aber nicht nehmen, mir immer! auf die Finger zu schauen und mein Tun mit „netten“ Kommentaren zu garnieren.

„Wie lange bleibt DIE denn heute schon wieder?“ (ich war in Hörweite)
„Was? Und für das Mensch-ärger-dich-nicht spielen bekommt DIE auch noch Geld?“
Das sind nur einige der Nettigkeiten, mir wurde halt jedes Mal klar gemacht, dass ich von ihm unerwünscht war.
Nach ein paar Wochen taute er langsam auf, da ich beharrlich freundlich blieb und seine negativen Kommentare z.T unkommentiert ließ, bzw. ich ihm mit viel Freundlichkeit klar machte, das ich so leicht nicht wegzuekeln wäre.

Leider musste Fr.H nach einem Sturz und aufgrund der voranschreitenden Demenz in eine Pflegeeinrichtung. Herrn R. habe ich noch einmal getroffen und ich war echt erstaunt über die herzliche Begrüßung.

Vor ein paar Wochen dann eine e-mail meiner Chefin: Hr.R hat angerufen. Er braucht dringend Unterstützung im Haushalt und er hat explizit nach mir gefragt, ob ich kommen könnte.

Ich hab mit allem gerechnet, aber nicht damit und es hat mich wahnsinnig gefreut. Und daher, denke ich, sind viele gar nicht so gemein wie sie tun. Es ist oftmals leichter die ganze Welt für seine Befindlichkeiten verantwortlich zu machen, als mal drüber nachzudenken was man selber ändern kann bzw. wo man Hilfe herbekommt.

Lieben Gruß
Anna :)

Magazin 2024

Spontis-Magazin 2024

Jetzt mithelfen, uns unterstützen und kostenloses Magazin sichern!

Diskussion

Entdecken

Friedhöfe

Umfangreiche Galerien historischer Ruhestätten aus aller Welt

Dunkeltanz

Schwarze Clubs und Gothic-Partys nach Postleitzahlen sortiert

Gothic Friday

Leser schrieben 2011 und 2016 in jedem Monat zu einem anderen Thema