Liber Occulti: Die Menschenschlachter von Herxheim

Liber Occulti I/MMXIV – Archäologen machen grausige Funde in Herxheim. Knochen von rund 1000 Menschen werfen die Frage auf: Gab es Kannibalen in der Jungsteinzeit?

Was man zwischen 1996 und 1999 bei Ausgrabungen einer steinzeitlichen Siedlung im rheinland-pfälzischem Herxheim fand, gab den Archäologen schaurige Rätsel auf. In einer länglichen Grube fand man unzählige menschliche Knochen von rund 1000 Menschen jeden Alters und aus ganz Europa. Das sie teilweise aus Frankreich und dem Elbtal stammten, konnte man anhand von Keramikscherben nachweisen, die man zwischen den Knochenstücken fand.
Die Toten wurden kurz nach ihrem Tod fachmännisch zerlegt, das belegen Bruch- und Schnittspuren an den Knochen die den Spuren an geschlachteten Viehknochen sehr ähneln. Die Forscher vermuten sogar, das zeigen Indizien an den Überresten, dass die Leichenteile an einem Spieß gebraten worden sein könnten. Manche der Knochen sind so fein zerschlagen, dass man auch von Knochenmarkgewinnung ausgehen muss, womöglich um sie in einer Suppe auszukochen. Haben die Bewohner der kleinen Siedlung, die auf das Jahr 5000 v.Chr. zurückdatiert ist, Menschen gegessen?

Man könnte auch von rituellen Opferungen ausgehen, denn einige der Schädel wurden zu Trinkgefäßen umgestaltet. Ein tiefer Schnitt längs über den Kopf – so zeigen die Spuren – war die Vorbereitung um die Haut vom Schädel zu lösen. Mit gezielten Schlägen gegen das Gesicht und den Halsansatz formte man aus den Schädeln Gefäße, aus denen man vermutlich trinken konnte. Allerdings sind die Bruchkanten so scharfkantig, dass man sich beim Trinken daran verletzen würde. Je mehr sich die Forscher mit den Details beschäftigen, umso mysteriöser wird es. Was geschah in dem kleinen Ort vor 7000 Jahren? Die Siedlung kann auf das Jahr 5300 v.Chr. datiert werden, rund 300 Jahre geschah nicht außergewöhnliches. Was veranlasste beinahe 1000 Menschen zwischen 5000 und 4950 v.Chr. dazu, sich in die winzige Siedlung zu begeben?

Kriegerische Handlungen kann man ausschließen, denn keiner der Knochen weist typische Verletzungen auf. Es gibt keine Knochenbrüche durch stumpfe Gewalteinwirkung und auch fand man keinerlei Pfeil- oder Speerspitzen. Im Gegenteil. Die meisten Toten erfreuten sich bester Gesundheit. Keine verschlissenen Gelenke, die Zähne sind ungewöhnlich gut erhalten und Mangelerscheinungen durch knappe Ernährung sind auch nicht zu finden. Selbst die Logik spricht gegen die Theorie feindlicher Auseinandersetzung. Es erscheint schlicht unmöglich, dass die kleine Dorfgemeinde innerhalb von 50 Jahren durch ganz Europa gezogen ist und dabei hunderte Gefangene machte um sie in ihre Siedlung zu verschleppen. Es muss davon ausgegangen werden, dass sich die Menschen freiwillig in den kleinen Ort pilgerten um sich rituell zu opfern.

4950 v.Chr. war alles vorbei. Niemand verlor in dem kleinen Ort mehr sein Leben, die Siedlung hörte abrupt auf zu existieren. Und alles sieht auch nach einem überstürzten Ende aus. Die Mitbringsel der Toten wurden zerstört und zwischen die Knochen der Toten gestreut, dazu Mahlsteine und noch unbenutzte Werkzeuge. Alles wurde zerstört, zerhackt, durchgemischt und in die längliche Grube geschüttet. Nur wenige Skelette sind im Verbund gefunden worden, für die Forscher immer noch ein Rätsel. Ob die Menschen tatsächlich verspeist wurden, lässt sich nicht wissenschaftlich belegen – es ist jedoch offensichtlich, dass die Toten freiwillig starben und aus ganz Europa in eine winzige Siedlung pilgerten. Es gibt viele zu lösende Rätsel und einige davon könnten sogar zu einer Korrektur der Geschichtsbücher ausreichen.

Mehr erfahren? Spiegel Online, LBK-Projekt HerxheimAntiquity, Zeit Online

Herxheim Massengrab
Viele der Knochen wurden zerkleinert und mit Keramiksplittern in die Grube geschüttet
(c) Herxheim DFG-Projektseite
Schaedelknochen
Viele der Schädelkalotten sind nach dem gleichen Muster bearbeitet und wurden unmittelbar nach dem Tod der Menschen angefertigt.
(c) Herxheim DFG-Projektseite

Hier eine sehr interessante und ausführliche Dokumentation, auf die ich von Regin Leif aufmerksam gemacht wurde:

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ReginLeif
ReginLeif (@guest_49933)
Vor 10 Jahre

Gerade als Archäologin freut es mich natürlich sehr, dass auch hier Themen aus diesem Forschungsbereich aufgegriffen werden und diskutiert werden wollen. Ich selbst kenne die Ausgrabungsstätte in Herxheim ziemlich gut, da ich einige Jahre selbst mit im Gelände war und auch mit den dortigen Kollegen noch in Kontakt stehe.

Die Fundsituation ist dort äußerst komplex und gar nicht so einfach zu erklären. Vielleicht hierzu einige Anmerkungen:
Zunächst sollte man sich im Klaren sein, dass es hier zunächst eine ganz reguläre Siedlung gab. Es handelt sich hierbei um die erste sesshafte Kultur im mitteleuropäischen Raum – die sogenannte linearbandkeramische Kultur. Sie wird so bezeichnet, da ihre charakteristische Keramik mit eingeritzten Linien und Bänder verziert ist. Sie betrieben Landwirtschaft und lebten in großen Langhäusern (bis zu 40 m lang). Ihre Angehörigen bestatteten sie im Umfeld ihrer Siedlung in der sogenannten Hockerstellung. Um die kleinen dorfähnlichen Ansiedlungen wurden häufig kleine Erdwerke (Erdwälle) angelegt.

Genau so sah es auch in Herxheim bis um 5000 v. Chr. aus. Dann kommt es zum Bruch in der Tradition. Das Erdwerk wird in mehrere ineinander verschachtelte Grubensysteme (2fach) errichtet. Die zeitliche Tiefe ist hier noch nicht im Detail geklärt. Aber ganz sicher war der Zeitraum nicht länger als 50 Jahre. Der Auslöser für die Veränderung im Bestattungsritual ist Teil der noch aktuell laufenden Ausgrabungstätigkeiten und Forschungsarbeiten. Im Gespräch sind u.a. Klimaveränderungen, Zusammenbruch von lokalen wirtschaftlichen Systemen oder großflächige Veränderungen von z. B. Landschaft und Boden. Man muss davon ausgehen, dass es zu dieser Zeit sicherlich schon eine Art von Glauben und Kult gab. Allerdings mit ganz anderen Hintergründen wie man es heute kennt. Der Umgang mit dem Tod und den unterschiedlichen Umweltphänomen ist nicht vergleichbar mit heute. So lassen sich Vergleiche in den Niederlegungen der Skelette unter Umständen nur im ethnographischen Bereich finden. Denn die Skelette weisen einige Besonderheiten auf. Zum einen sind einige Hiebspuren (v.a. am Schädel) deutlich verheilt, d.h. dieser Mensch lebte noch eine ganze Weile nach der Unfallsituation weiter. Zum anderen wurden ganz sicher Menschen sekundär bestattet, d.h. man begrub sie an einem Ort, um sie nach einer bestimmten Zeit wieder aus der Grube zu holen und an einen anderen Ort (=> Herxheim) zu bringen. Das ist dadurch belegt, da einige Bestatteten nur fragmentarisch (mehr Schädel als Langknochen) im Grubenwerk niedergelegt wurden und die Isotopenanalysen ortsfremde Marker aufweisen. Allerdings lassen sich zwei unterschiedliche Muster definieren, die sich zum einen aus Depots mit Schädelkalotten mit einer sehr kleinteiligen Zerlegung der restlichen Funde charakterisieren lässt und zum anderen aus Teilbestattungen mit geringer Zerkleinerung. Die Brandspuren deutet selbstverständlich auf einen Kontakt mit Feuer hin, aber weniger in Verbindung mit Kannibalismus als vielmehr als ein Teil eines uns nicht bekannten Rituals. Wirklich verbrannte Knochen sind kalziniert und haben eine völlig andere Struktur.

Vergleichbare Fundsituation gibt es aus diesem Zeithorizont nicht. Es gibt eine weiteres „Massengrab“ in Talheim . Der Titel des Wiki-Artikels macht es schon deutlich, dass hier die Situation sich völlig anders darstellt. Hier wurden mehrere Individuen überfallen und umgebracht. Es sind Hiebspuren, die zum Tod geführt haben, zu erkennen. Asparn kann hier ebenfalls als Vergleichsfundplatz hinzugezogen werden.

ReginLeif
ReginLeif (@guest_49968)
Vor 10 Jahre

Na dann will ich mal auf deine Fragen im Detail eingehen…

Sekundärbestattungen können mit Sicherheit als Teil dieses Rituals angesehen werden…..wie bereits an andere Stelle angesprochen, wäre u. U. eine „offizielle“ Bestattung in einem bestimmten Zeitraum an einer bestimmten Stelle (=> Herxheim) denkbar….wobei sich das zugleich entkräftet, da es wirklich nur einer sehr kurzer Zeitraum ist und dass man bis jetzt an keiner anderen Stelle ein ähnliche Fundsituation nachweisen konnte….sprich ein Ritual mit Alleinstellungsmerkmalen…(Widerspruch in sich, da ja Rituale immer wiederkehrende Ereignisse darstellen)….der Grund für die Umbettung ist eben in der Glaubenswelt der damaligen Bevölkerung zu suchen…

Als Archäologe stellt sich die Frage: Warum bricht ein fest etabliertes Bestattungsritual – was wirklich über mehrere 100 Jahre und über weite Entfernungen (Karpatenbecken bis ins Pariser Becken) hinweg – plötzlich ab und wird für einen kurzen Zeitraum und nur an einem Ort verändert?! Ich spreche der steinzeitlichen Bevölkerung keineswegs eine komplexe Glaubenswelt ab…solche lassen sich an Idole (kleine Tonfigürchen) und „Heiligtümern“ nachweisen…

„In wie weit lässt sich das mit den Funden in Herxheim nachvollziehen, denn bis auf die bandkeramischen Arbeiten gibt es doch keinerlei religiöse Bezüge, oder?“

=> was meinst du an dieser Stelle mit „bandkeramischen Arbeiten“?

Zur Frage…warum genau Herxheim „aus erwählt“ wurde kann man bis heute noch nichts sagen…das es auch zur damaligen Zeit Vordenker gab, ist offensichtlich…sonst würde verschiedene Transportwege von zum Beispiel Feuerstein gar nicht über so weite Strecke funktionieren…es dienten dabei sogenannte Erdwerke unter Umständen als zentrale „Koordinierungsstelle“…

ReginLeif
ReginLeif (@guest_49977)
Vor 10 Jahre

Also neben den Keramikscherben gab es auch kleine verzierte Statuetten….welche Funktion/Bedeutung sie zur damaligen Zeit hatten, ist natürlich im Detail nicht zu klären…..hier einige Beispiele: https://www.tagesspiegel.de/images/14_ebene-2-adonis-von-zschernitz-alte-aufnahme/9922190/2-formatOriginal.jpg

Was das Einzugsgebiet angeht…..es gibt anscheinend beide Optionen….zum einen kam die Bevölkerung aus weit entfernten Gebieten nach Herxheim…zum anderen wurden eben die bereits beschriebenen Sekundärbestattungen vorgenommen…..beides lässt sich durch Isotopenanalysen nachweisen….der unterschied zwischen Sekundär- und regulärer Bestattungen ist anhand der Knochen ersichtlich….

Karten wie wir sie in heutiger Zeit kennen, gab es eher nicht…..aber es gab Landmarken und man hat sich nach den Gestirnen orientiert……der Kreislauf des Jahr war mit Sicherheit schon bekannt, sonst wäre der Anbau von Getreide etc. nicht möglich (=> Beispiele für Sonnenobservatorium http://www.sonnenobservatorium-goseck.info, es datiert etwa 200 Jahr jünger) … Als Schutz dienten die Erdwerke eher weniger…dazu waren sie einfach nicht effektiv…. während auch in anderen steinzeitlichen Zeitstellung die einzige logische Erklärung eines zentralen Austauschplatzes ist…. vgl. Michelsberger Erdwerke https://de.wikipedia.org/wiki/Michelsberger_Kultur

Mitranox
Mitranox (@guest_49978)
Vor 10 Jahre

Es ist großartig, dass hier auch einmal ein archäologische Thema angeschnitten wird! Ich finde das Gebiet sehr faszinierend und mich erstaunt immer wieder aufs Neue, was man heutzutage Wissenswertes aus gemachten Grabungsfunden ableiten kann und auch, welche Schlüsse sich aus ihnen über das Leben früherer Gesellschaften ziehen lassen. :)

Ich wollte nur einen kleinen, aber absolut empfehlenswerten Linktipp hierlassen: angegraben, der archäologische Podcast. Dieser hat sich in Folge 18 ebenfalls mit Herxheim befasst: http://buddler.atria.uberspace.de/?podcast=18-nagende-ungewissheit

ReginLeif
ReginLeif (@guest_50001)
Vor 10 Jahre

Es ist echt spannend wie viele Personen sich mit Herxheim beschäftigt – neben den eigentlichen Forschern. Im Podcast werden einige wichtige Aspekte genannt. Aber ohne die Materialkenntnisse kann man natürlich nicht so viel zu den einzelnen Analysen sagen bzw. einige Vergleiche sind einfach in dieser Form/Zeitstellung nicht machbar (=> Koprolithen).

ReginLeif
ReginLeif (@guest_50035)
Vor 10 Jahre

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