Man kennt es: Da will man an einem freien Nachmittag seinen Abstellraum entrümpeln, schwups hält man das erste Objekt in den Händen, von dem man sich dann doch nicht trennen kann. Gerade genau so geschehen mit einem Umzugskarton, in dem ich meine Zillo-Sammlung archiviert habe. Zillo? Richtig, das Musikmagazin, das zwischen 1989 und 2014 Pflichtlektüre in jedem gut informierten Grufti-Haushalt war.
Als ich irgendwann Anfang der 1990er Jahre mein erstes Magazin in den Händen hielt, war das eine kleine Offenbarung. Denn in meinem Dörfchen war das Zillo mein Draht zu bisher unbekannten Musik-Welten. Ein Schulfreund hatte mich auf das Heft aufmerksam gemacht. Fortan war Zillo neben der Radiosendung FFN-Grenzwellen mit Ecki Stieg und meiner Stamm-Disco PC69 im 25 Kilometer entfernten Bielefeld maßgeblich für meine musikalische Sozialisation.
2 Zillo’s für 1000 Einwohner – Wer hat mein Heft geklaut?
Freundlicherweise orderte der kleine Tante-Emma-Laden in unserem 1.000-Einwohner-Dorf jeden Monat zwei Zillo-Exemplare. Eins für meinen Schulfreund, der eher auf härtere Kost wie Bad Religion und Fugazi stand, und eins für mich, der sich vor allem für Düster-Kapellen wie die Sisters of Mercy interessierte. Die beiden Ausgaben warteten dann im Zeitschriftenregal zwischen Hörzu und Frau im Spiegel auf ihre Erlösung. Es kam allerdings vor, dass die beiden Hefte vergriffen waren, bevor ich meins in Händen halten konnte. Bis heute ist nicht geklärt, wer im Dorf die Unverschämtheit besessen hatte, „mein“ Zillo abzugreifen.
Das Zillo war anders als die Musikmagazin, die es damals bisher gab. Die Spex mit ihren oft in teils absurde kulturtheoretische Diskurse abdriftenden Texten war mir zu anstrengend, in den anderen Magazinen wie etwa Visions wurden Gothic- und Dark-Wave-Bands meist müde belächelt und sich über die „Schwarzkittel“ lustig gemacht. Zillo richtete sich in den ersten Jahren zwar an ein sehr breites Indie-Publikum, nahm Gothic und Dark Wave aber von Beginn an sehr ernst. Mehr noch: Zillo war mit dafür verantwortlich, dass es in den 1990er Jahren einen regelrechten Boom in der deutschen Gothic-Szene gegeben hat.
Denn viele deutsche Bands sind durch das Zillo, das zwischenzeitlich eine Auflage von 70.000 Exemplaren gehabt haben soll, erst groß gemacht worden. Das lag sicherlich auch daran, dass Magazingründer und Chefredakteur Rainer Easy Ettler ein kleines Zillo-Imperium aufbaute. Mit mehreren über die Jahre veröffentlichten Zillo-Samplern, einer Zillo-Disco in Lübeck und einem Zillo-Festival. Auf dem ersten „Zillo Mystik Sound Sampler“ befinden sich all jene Bands, die den deutschen Gothic der 90er geprägt haben und bis heute in der Szene präsent sind: Project Pitchfork zum Beispiel, aber auch Deine Lakaien, Pink Turns Blue und Das Ich. Unzählige Storys widmete das Zillo diesen Bands.
Da es mir als Schüler am nötigen Kleingeld und einem Auto mangelte, war ich nie auf einem Zillo-Festival, das zunächst im beschaulichen Durmersheim bei Karlsruhe stattfand. In den Nachberichten im Heft staunte ich dann aber über die dramatisch geschminkten mit reichlich Silberschmuck behangenen Gruftis in ihren wallenden Gewändern.
Zillo kam zu einer Zeit auf den Zeitschriftenmarkt, als das Internet noch in den Kinderschuhen steckte und an Smartphones noch nicht zu denken war. Facebook und Instagram gab es noch nicht, E-Bay-Kleinanzeigen und Amazon auch nicht. Aber es gab den Zillo-Kleinanzeigenmarkt auf den hinteren Seiten.
Die rosa Seiten nannten wir den Anzeigenteil, weil er zumindest in den Anfangsjahren auf rosa Papier gedruckt war. Dort fand man Gleichgesinnte, um Musik zu tauschen. Bands suchten in der Rubrik „Musiker-Börse“ nach Mitspielern oder priesen ihre neuen Veröffentlichungen an.
King Haarlack suchte das ultimative C&A Gothic-Outfit
Richtig spannend war die Rubrik „Bekanntschaften/Grüße“. Da wurde die schwarze Liebe fürs Leben gesucht oder auch mal deftig abgelästert: „King Haarlack sucht das ultimative C&A-Gothic-Outfit und möchte wissen, wie man am besten drei Schritte vor und zurück tanzt, ohne aus den Takt zu kommen, wenn er dabei mystisch seine Händen bewegt“, macht sich jemand in der Dezemberausgabe 1992 offenbar über einen Discobesucher lustig. Aus anderen Einsendungen trieft kitschige Weltschmerz-Prosa, wie sie wohl nur Heranwachsende in den 90ern in die Tastatur hämmern konnten.
Ich gestehe: Ich habe damals eine Menge dieser Anzeigen mit großem Interesse, manchmal auch mit ebenso großem Amüsement gelesen. Schließlich konnte man über den Anzeigenteil Gesprächen folgen, wie man das heute in den Kommentarspalten bei Facebook oder einem Blog wie Spontis kann.
Hier mal eine kleine original Kostprobe, die ganz gut den Grufti-Sound der 90er abbildet: „Lost Child! Ich küsse voller Mitgefühl eure eiskalte Hand. Ihr seid nicht allein in Eurem Schmerz. Black Hate! Ich liebe Eure Zeilen. Ihr seid von meiner Wesensart, wie wohl diese Entdeckung mir tut.“ Von vermutlich stark patchouli-vernebelten Jugendzimmern aus fanden derartige Grußbotschaften – damals noch per Post – den Weg in die Zillo-Redaktion.
Übers Zillo fand ich eine Kassetten-Freundin, mit der ich mir eine Zeit lang Musik hin- und herschickte. Irgendwann hatte ich sogar mal ein echtes Date. Damit bin ich wohl selbst der beste Beweis dafür, dass dieses Printprodukt im Prä-Internetzeitalter nicht nur ein Musikmagazin war, sondern auch ein Kontakte schaffendes soziales Netzwerk. Dass das Magazin mitunter als Grufti-Bravo verschrien war, könnte an den rosa Seiten gelegen haben.
Zillo – Immer offen für fruchtbare Kontroversen
Während ich meine alten Zillo-Hefte durchblättere, halte ich immer wieder besondere Ausgaben in den Händen. Besonders, weil sie zeigen, dass Herausgeber Easy Ettler und sein Team auch immer gesellschaftliche Themen aufgriffen – und Kontroversen nicht aus dem Weg gingen. In der Novemberausgabe 1995 etwa fährt Easy Ettler mit einem seiner Mitarbeitern und Umbra Et Imago-Chef Mozart an den Rhein, um dort Jay Kay für ein Doppelinterview zu treffen, für das das Zillo die Rubrik „Die Zusammenkunft“ ins Leben gerufen hat.
Jay Kay war Sänger der schon damals umstrittenen Band Forthcoming Fire, die sich Rechtsextremismus-Vorwürfen gegenüber sah. Gemeinsam fabulieren Mozart und Jay Kay in dem Gespräch über S/M, das Christentum, aber auch über deutschen Schuld-Kult. Ein wilder Mix. Später wird dem Magazin vorgeworfen, dass es immer wieder Anknüpfungspunkte für rechtsextremes Gedankengut liefert. Auch weil in dem Magazin eine Anzeige für eine CD zu Ehren Leni Riefenstahls geschaltet werden darf.
Für viel Aufmerksamkeit sorgt auch die Zillo-Häftlings-Befreiungsaktion, die Easy Ettler über eines seiner Vorworte anleiert. Darin berichtet er von einem obdachlosen Zillo-Leser, der eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen muss, weil er beim Schwarzfahren erwischt wurde. „Ich habe mir gedacht, wir als Zillo-Familie lassen einen Zilloisten nicht im Knast unter Schwerverbrechern schmoren, sondern werden die jetzt noch rechtlichen 2.300 Mark zusammen aufbringen, damit er rauskommt. Dies habe ich schon mit dem Gefängnisleiter besprochen„, schreibt Ettler. Es folgt das Zillo-Spendenkonto.
Zillo gegen die Sisters of Mercy
1992 kommt es zum Zwist zwischen dem Zillo und den Sisters of Mercy. Laut Easy Ettler habe Sisters-Frontman Andrew Eldritch verlangt, Fotos und Artikel vor Druck zur Genehmigung vorzulegen. Easy Ettler reagiert verschnupft und bricht daraufhin in seinem Magazin eine Debatte über Zensur vom Zaun. Abgedruckt werden in der Juli-Ausgabe nicht nur der zweite Teil einer großen Story über die Sisters of Mercy, sondern auch drei Seiten Leserbriefe, in denen die Absender, darunter viele Sisters-Fans, gegen die Forderungen der Band protestieren. Eine clevere Machtdemonstration der Redaktion.
Ungewöhnlich für ein Musikmagazin: 1996 erscheint ein mehrteiliger Bericht über den Transvestit Charlotte von Mahlsdorf. Durch den Rosa-von-Praunheim-Film „Ich bin meine eigene Frau“ wurde Charlotte von Mahlsdorf einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Easy Ettler lernt sie in ihrem Privat-Museum in Ostberlin kennen, wo Möbel und Erinnerungsstücke aus den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gezeigt werden. „Easy war sofort fasziniert von der außergewöhnlichen Persönlichkeit und der bewegenden Geschichte dieser Frau, die im Zweiten Weltkrieg fast an die Wand gestellt worden wäre und die durch vierzig Jahre Sozialismus hindurch Toleranz und Minderheitenschutz praktizierte“, schreibt daraufhin Autorin Kirsten Borchardt in ihrem einfühlsamen Porträt fürs Zillo.
Zillo und der Satansmord von Witten
2001 reagiert das Zillo mit einer ungewöhnlichen Aktion auf den sogenannten Satansmord von Witten. Damals hatte ein Paar, das sich der Gothic-Szene zugehörig fühlt, einen 33-jährigen Bekannten auf brutale Weise ermordet. In der Boulevardpresse werden daraufhin die längst vergessen geglaubten Tod-und-Teufel-Klischees über die schwarze Szene ausgepackt. Erstmals in seiner Geschichte druckt Zillo in seiner September-Ausgabe keine Band auf die Titelseite, sondern zeigt Dutzende Gesichter von Gruftis. Darüber setzt das Magazin in fetten Lettern: „Wir sind keine Mörder!“ Im Heft analysieren Mitarbeiter des Magazins, aber auch die Musiker Bruno Kramm (Das Ich) und Rudy Ratzinger (:Wumpscut:) die Folgen des Mordes beziehungsweise der Berichterstattung für die Szene.
Januar 2014 – Ein Feuer verwandelt die Zillo in Asche
Easy Ettler stirbt 1997, das Magazin lebt weiter bis es im Januar 2014, also vor ziemlich genau elf Jahren, zu einem Brand in dem Redaktionsgebäude in Ratekau bei Lübeck kommt. Damit ist das Zillo Geschichte. Denn anders als von den vielen Leserinnen und Lesern gehofft, nimmt die Redaktion ihren Betrieb nicht wieder auf.
In den Folgejahren hatte ich das Vergnügen, zwei Mitarbeiter dieses Kult-Magazins zumindest kurz kennenzulernen. In einem Internetforum hatte ich mich an einer Diskussion über die Comics von Nicole Scheriau beteiligt. Scheriau hatte in den Anfangsjahren des Zillos in jeder Ausgabe einen kleinen Comic, in dem sie die Szene augenzwinkernd aufs Korn nahm. Später übernahm Uwe Rösch diese Aufgabe mit seiner Comicfigur Dead. Wie mir Nicole Scheriau 2018 mitteilte, war meine Lobhudelei auf ihre Zeichnungen mit ein Anstoß für sie, ihre Zillo-Comics in einem Sammelband zu veröffentlichen. Spontis hat damals über die Veröffentlichung berichtet. Nicole Scheriau hat mir ein Exemplar mit Widmung zugeschickt, und ich habe mich sehr darüber gefreut.
2022 lernte ich im beruflichen Kontext Frank Rummeleit kennen, der über viele Jahre als Autor fürs Zillo tätig war. Natürlich habe ich ihm berichtet, dass ich seine Artikel regelrecht verschlungen habe. Denn über die Jahre wusste man als regelmäßiger Leser, der ich ja war, wie die Autorinnen und Autoren so tickten. Wenn der Rummeleit eine Band gut fand, dann mochte ich sie in der Regel auch. 1993 reiste Frank Rummeleit fürs Zillo zum Jugendsender Elf99, um dem TV-Publikum – mit Totenschädel in der Hand – Nachhilfe in Sachen Gothic zu geben. Auch darüber hat spontis.de berichtet.
Ob es das Zillo ohne den Brand im Redaktionsbüro heute noch geben würde? Wirtschaftliche Zwänge und die riesige Online-Konkurrenz haben den Musikjournalismus in den vergangenen Jahrzehnten vor allem was Print-Produktionen angeht, unter Druck gesetzt. Der teilweise radikale Journalismus eines Easy Ettlers wäre heute vermutlich nicht mehr möglich. Andererseits: Vielleicht würden etwas mehr Charakter, Experimentierfreude und Mut den heutigen Musikmagazinen ganz gut tun.
Meine gesammelten Hefte sind statt im Altpapier wieder in den Umzugskarton gewandert. Ich konnte mich nicht von ihnen trennen.
Das…der…die (?) Zillo, ich kenn’s auch noch, auch wenn meine Lektüre mehr Orkus und Sonic Seducer war.
Ich fand die Dead Comics immer toll und hab sogar heute noch eine Collage aus Dead Comics im Wohnzimmer hängen 😁.
Dass es das Magazin irgendwann nicht mehr gab, fiel mir auch auf, aber die Umstände, mit dem Brand, waren mir bis heute nicht bekannt gewesen.
Es hatte tatsächlich seinen eigenen Flair gehabt. Schon vom Papier her, habe ich es anders in Erinnerung, als Orkus oder Sonic Seducer. Naja und für das entsprechende Festival war ich damals noch zu jung gewesen.
Hö!? Zillo gibts gar nicht mehr?
Sachen gibts…
Das war jetzt aber ein Scherz, oder? 🤔