Die schwarze Szene ist dem Untergang geweiht. Gothic stirbt aus und wird von Cyber, Metal und „Mittelalter“ ersetzt. So oder so ähnlich ist ja oft der Tenor, oder doch zumindest das was man der Gruppe der „Ewiggestrigen“ gerne in den Mund legt, die zum einen aus Gruftis, Wavern und Alternative-Volk der ersten Generation besteht, zum andern aus Menschen wie mir: Schwarzkitteln von (für die Szene) mittlerem Alter (um die 30), die zwar zu jung sind um die 80er schon schwarz erlebt zu haben, aber doch alt genug um sich über so manche Neuerung der letzten Jahre zu ärgern.
Meines Erachtens leben diese Menschen allerdings nicht zwangsweise in der Vergangenheit – das sei am Rande erwähnt. Sie haben nur vermutlich festgestellt, dass man neuere Musik in der Tradition von Wave und Post-Punk heutzutage nicht mehr in der Szene findet. Und so hört so ein „Old School Goth“ vielleicht auch brandaktuelle Interpreten wie die Editors, Veil Veil Vanish oder O.Children, aber diese kennt man in der aktuellen Gothic-Szene kaum (weil sie sich dort einfach nicht bewegen) und bekommt nur mit, dass diese Menschen mit den aktuellen Größen wie Unheilig, Combichrist oder Blutengel nichts anfangen können – und schon ist der Stempel aufgedrückt.
Aber Moment mal, ist das wirklich so mit den jüngeren Goths?
Gibt es da nur noch Leute, die den aktuellen Kram konsumieren, der ihnen von den einschlägigen Zeitschriften aufgetischt wird und die sich in Einheitskleidung aus Onlineshop XYZ einkleiden? Stirbt das was Wave und Gothic mal war wirklich aus? Meines Erachtens glücklicherweise: Nein!
Ich habe in den letzten zwei Jahren immer wieder Leute kennengelernt (meist im Netz), deren Lebensweise man heute schon Retro nennen muss. Leute, die gerade mal 20 sind oder auch noch deutlich jünger, und die sich dennoch in der „alten Szene“ mehr zuhause fühlen als in allen anderen Ausprägungen der aktuellen schwarzen Szene: New New Waver müsste man sie fast nennen, und meiner Einschätzung nach zeichnet sich langsam ein Comeback ab, das ich persönlich sehr begrüße. Lasst mich anhand einiger junger Menschen exemplarisch umreißen, wie ich zu dieser Annahme komme:
Etienne
Der 17-jährige Etienne etwa ist mir mal auf der Horror Highschool als einer der sage und schreibe neun Pikes-Träger aufgefallen – das sagt ja schon immer recht viel über den Träger aus, wie ich meine festgestellt zu haben. Der kreative jungen Mann mit dem Undercut hat die „alte Szene“ irgendwann für sich entdeckt und auch er lebt dennoch nicht nur im Gestern: In seinem CD-Player etwa befinden sich mit Samsas Traum und Subway to Sally durchaus auch moderne schwärzere Interpreten. Doch mit seinem eigenen Musikprojekt Endzeit-Phänomen wandelt er eher auf den Spuren Oswald Henkes und auf die Tanzfläche ziehen ihn vor allem die alten Größen wie Joy Division, X-Mal Deutschland oder Depeche Mode. Und irgendwann schaffen wir es bestimmt auch mal zusammen zu jammen ;)
Rose
Wirft man dann z.B. einen Blick auf die 19-jährige Rose mit ihrer wild toupierten Wave-Mähne fühlt man sich direkt zurückversetzt in eine Zeit in der sie noch gar nicht geboren war. Irgendwo zwischen deutschen Wave und englischen Goth wird man die junge Dame mit dem großen Hang zum DIY optisch am ehesten stecken können, garniert mit einer Prise der modernen Deathrock/Batcave-Szene und etwas Schwarzromantik im Stil der 90er.
Die weiten Pluderhosen hat sie stilecht in London erstanden, und die ersten zufriedenstellenden Pikes auch endlich gefunden. Musikalisch geht es bei ihr vor allem punkig zu, von Specimen über Misfits bis zu Alien Sex Fiend, jedoch ohne dabei etwa auch New Order oder D.A.F. auszulassen.
Jan David
Mein guter Freund Jan David, 20, hat seinen optischen Stil irgendwo zwischen Schwarzromantik und Wave gefunden und schafft dabei in meinen Augen oft eine interessante Gratwanderung (links eher wavig, wie ich finde). Musikalisch ist er eigentlich mit allem zufriedenzustellen, was das Umfeld von Wave, Post-Punk, Gothrock, etc. hergibt, wobei ich immer wieder meine eine besondere Vorliebe für Synthpop der 80er festzustellen. Wenn es stimmt, dass man damals als die Szene noch jung war mehr Leute gefunden hat, mit denen man Stunde um Stunde philosophierend und über düstere Literatur diskutierend verbringen konnte, dann erfüllt er auch dieses Clichee mit Bravour, während seine schwarzen Altersgenossen in der Regel vorziehen, zu „Industrial“ abspacken zu gehen.
Alice
Eine weitere Freundin ist Alice, 19, die kaum offensiver in 80ern leben könnte. Zwar beschränkt auch sie sich natürlich nicht ausschließlich auf ein 80er-Jahre-Reenactment, aber ohne die Sisters of Mercy und Synthpop kann man sie sich garnicht vorstellen. Ihr Haarspray-Verbrauch kann auch im Alltag Ozonloch-erregende Ausmaße annehmen, und sie ist so ziemlich der letzte Mensch auf Erden, den ich mir mit Kleidung von der Grufti-Stange vorstellen könnte. Diskussionen über Literatur zum Beispiel der (dunklen) Romantik kann man mit ihr übrigens ebenso gut führen.
Schatten
Der jüngste in der hier vorgestellten Runde ist mein Blogger-Kollege Timo (a.k.a. „Schatten“) mit gerade mal 16 Jahren, den man oberflächlich betrachtet mit einem Wort zusammenfassen kann: Wave. Auf dem Kopf ein toupiertes Vogelnest oder ein steifer Turm, an den Füßen die schon fast durchgelatschten Pikes und an den Beinen die selbst geschneiderten Pluderhosen – so konnte man ihn auch schon im zarten Alter von 15 sehen.
Aber auch er ist musikalisch deutlich weniger fixiert und eingeschränkt als man vielleicht denken sollte, sodass sich auch etwa Evanescence und Linkin Park in seinem Musikregal befindet. Doch der Schatten wäre nicht der Schatten, wenn seine große Vorliebe nicht vor allem Fields of the Nephilim wäre, gefolgt von The Cure, Joy Division, Alien Sex Fiend und Iggy Pop, und auch in ihm finden wir einen Nachwuchsmusiker, der sein Bassspiel gerne durch das Nachspielen von Cure- und Pink-turns-Blue-Stücken trainiert.
Sind diese Handvoll junger Leute wirklich repräsentativ für die schwarze Szene von heute?
Nein, sicherlich nicht. Aber sie zeigen doch, dass der traditionelle Stil keineswegs in Vergessenheit geraten ist und man nur genauer hinschauen und besser suchen muss, um letztlich in jeder Altersklasse Menschen zu finden, die mit „Gothic“ das gleiche verbinden wie ich und die meisten meiner Leser. Zurück zur SUBkultur ;)
ich bin mir nicht sicher, ob ich es gut finde, wenn junge Leute Styles kopieren, die es selbst in meiner Jugend nur noch selten und vereinzelt gab. Stagnation ist nie gut. Ich bin für Weiterentwicklung. Ich hab damals die älteren auch nie abgekupfert, sondern was eigenes draus gemacht. Es bringt mir auch nichts, wenn jemand aussieht wie ein Waffler von 1985 und dann schubway to schally hört… was soll ich mit so jemand reden? Ich glaube die jüngere Gothicszene 2020 scheitert nicht am Outfit, sondern daran, das zu wenig Interesse an Gothicmusik besteht, die ihr Fundament an den 80gern oder 90gern aufbaut. Mir wurde in Diskussionen oft gesagt, gewisse metalbands seien ja wohl die Weiterentwicklung von Gothic Rock… Kann ich weder unterschreiben noch verstehen. Eine Weiterentwicklung ist eher etwas, das auf dem alten aufbaut und es in andere Dimensionen leitet. Beispiel The Hex Waves aus Neuseeland. Die sehen zwar nicht wie ein 80ger Jahre Waffler aus, aber machen zumindest mal saugeile Musik… was man von all diesen öden massenproduktionspießergrinzebackenbarbiepuppenmetalbands nicht sagen kann
Ich persönlich habe nichts gegen das kopieren eines alten Styles, es betrifft ja sowieso nur eine recht überschaubare Anzahl an Nachwuchsgruftis. Außerdem sehe ich da auch immer noch eine Weiterentwicklung mit neuen Materialien vermischen mit anderen Einflüssen und vielen anderen Dingen.
Grundsätzlich gibt die Szene ja auch einen Dresscode vor oder hält ihn zumindestens in einigen Dingen im Rahmen. Ich bin der Ansicht, das Abgrenzung auch mit Begrenzung zu tun hat, was bedeutet, dass eine zu intensivere Entwicklung eines Styles schnell darin enden kann, etwas völlig neues „unpassendes“ kreieren.
Mit der Musik dürfte es wohl ähnlich sein. Es ist im Prinzip schon alles dagewesen. 2020 Patchen und Reworken immer noch alte Dinge mit neuen Möglichkeiten und bringen somit immer neue Ableger heraus. Was Metal jedoch mit Gothic Rock zu tun haben soll, erschließt sich mir nicht. Die Atmosphäre der Musik ist ja eine völlig andere. So geht es mir übrigens auch mit vielen aktuellen Stilen innerhalb der Szene, die allein durch ich Abweichung von der Stimmung, die für mich wichtig ist, herausfallen.
@Robert. Ich habe leider die Begabung, mich unglücklich zu formulieren, und am End versteht niemand was ich sagen wollte.
Ich will nur den jüngeren sagen: Habt Mut. Seid kreativ. Verwirklicht euch selbst, man kann in seinem eigenen bescheidenen Rahmen sein dunkles Optimum finden, man benötigt keine 30 jahre alten Fotos, nach denen man sich richten muss.
(das hatte mir übrigens an der Generation um die Jahre 2002+- besser gefallen, die hatte zum Teil ihre eigene düstere Nische gefunden)
Musik:
In der Stadt, in deren Nähe ich lebe, tauchen seit etwa 3 Jahren, auf einmal unzählige junge Leute auf, die vom aussehen her, ganz deutlich und offenkundig Gothics (ich rede nicht von cybers oder ähnlichem) sind. Sind? Das ist die Frage.
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Ich hab viele von denen näher kennen gelernt. Der Witz ist, keiner von denen hört auch nur eine einzige Gothicband. Keine neue, keine alte. Nicht einmal eine einzige. Kein Wave, kein PostPunk, kein Death-Rock nicht und Gothic-Rock sowieso nicht. Nicht einmal Wave. Nein, metal. Das wars. Ok hie und da bisschen tekkno aber hauptsächlich metal. Nicht falsch verstehen, diese Leute hören nicht düsteren metal, sondern ganz normalen öden party-metal, symphonic -metal und tekkno. Ist nicht nur hier so, in Berlin ist es nicht anders.
Ja es ist schön, offensichtliche Gothics in unserem industriellen Hinterwaldskaff zu sehen, denn all die Jahre sah man hier so etwas nie. Aber diese Leute sehen nur so aus. Mehr nicht. Wie sagte die nette ältere Madame Noir im Bioladen: „Möchtegerns“.
Inzwischen finde ich es also nicht mehr schön, sondern reagiere gleichgültig. Ist eh nur ein Bekleidungstrend. In 5 Jahren ist er vorbei.
Für diese Kritik, werde ich oft kritisiert. „Der definiert was Gothic sein darf und was nicht“ wird dann oft gejammert. Tue ich das? Ich empfinde dies nicht so, das ich etwas definieren wöllte.
Ich will jetzt nicht schon wieder diese Debatte entfachen. Aber das ist es was ich meinte, was mich etwas stört. Nur weil jemand wie ein Gothic aussieht, muss das heutzutage leider garnix heißen.
Mir wurde vorgeworfen, man könnte solchen Leuten gute Musik zeigen und nicht nur meckern. Bevor mir das jetzt hier jemand vorwirft:
Darin kann ich keinen Sinn erkennen. Jeder Mensch sollte aus eigenem Antrieb intelligent genug sein, zu recherchieren. Zudem, hat mir irgendjemand was gezeigt als ich 14 war? ^^
@Nossi: Nein, Deine Kritik stört mich überhaupt nicht. Wir halten fest: Metal ist nicht Gothic und Gothic nicht ein Teil der Metal-Szene. Alles andere ist Blödsinn. Das sind meiner Ansicht nach zwei völlig unterschiedliche paar Schuhe. Da bin ich zu 100% bei dir.
Im Grunde bin ich auch Deiner Meinung, dass Gothic für vielen nur ein Trend ist, dem sie folgen, sei es innerhalb der Gothic- oder Metal-Szene. War früher auch schon so und wird wohlmöglich immer so bleiben. Ich bin jedoch gegen eine zu harsche Abgrenzung gegenüber denen, die wir im schwarzen Alltag als „Mitläufer“ empfinden. Wir dürfen nicht vergessen, dass nur eine lebendige Szene wirklich eine Szene ist. Ohne „Nachwuchs“ geht das nicht. Wir müssen unsere Kriterien immer wieder prüfen und auch offen für Einflüsse sein.
Und natürlich. Leuten ohne erkennbares Interesse muss man gar nicht zeigen, außer die kalten Schulter.