„Aufklärung in Bilder“ – unter diesem Titel führte Deutschlands größte Jugendzeitschrift, die BRAVO, 1972 die Foto-Love-Romane ein. Neben der Unterhaltung sollten die bebilderten Kurzgeschichten „neben viel Spannung auch noch klare Fakten zu Aufklärungsthemen (bringen). Sex, Flirten, Körperfragen, Verhütung und mehr – verpackt in spannende Geschichten!“ 1 Kein Thema der Jugend wurde ausgelassen, kein Trend übersprungen und so kam es, das sich die Bravo 1987 auch den Grufties zuwendete, nachdem sie den Trend bereits in anderen Zusammenhängen für sich nutzte. Wieder mit von der Partie ist Carla, die mittlerweile 20 Jahre alt sein dürfte und bereits in Carla, die Schock-Friseuse eine Seite der Bravo füllte.
Diese Carla ist aber auch ein Münchener Wave- und Gothicstrudel und hat gleich reihenweise jungen Menschen in das düstere Verderben gezogen. Nicht nur das viele den Artikel über sie verschlungen haben und ihrem Beispiel folgten, jetzt macht sich auch noch Karriere in einem der renommiertesten Jugend-Foto-Romanen der 80er. Wir wollen in der mehrteiligen Reihe beobachten, was aus Carla und ihren Freundinnen wird und wie die BRAVO die moralische Kurve kratzt.
Dagmar beichtet Timmy alles (Teil 8)
„Vero und Dagmar wollen sich an die Wave-Welle anhängen: Weil ihr „Idol“ Ratte, die „Grufti“-Königin von München, nach London gezogen ist, sind sie ihr nachgereist und haben bei Ratte Unterschlupf gesucht. Aber die Begrüßung war sehr kühl; Vero und Dagmar haben schon nach einem Tag London die Segel gestrichen und sind nach München zurückgefahren. Besonders enttäuscht ist Dagmar: Wegen Ratte und dem Wave-Tick hat sie sich mit ihren Freund Timmy verkracht. Das tut ihr inzwischen unheimlich leid – wie überhaupt der mißlungene London-Trip. Ihre Eltern sind stinksauer, und in der Klasse werden Vero und Dagmar von ihren Mitschülern dumm angeredet…“
Da haben wir den Salat. Grufti-Outfit findet man in London offenbar doof und Dagmar und Vero haben ihre ganze Kohle auf den Kopf gehauen. Das schlechte Gewissen zieht sie nach Hause, während die Mitschüler sich über den Reinfall amüsieren. Eine moralische Kehrtwende? Möchte die BRAVO suggerieren das es nichts bringt ein Grufti zu sein, oder das Weglaufen sich nicht lohnt? Die Mischung erscheint auf den zweiten Blick brisant. Weglaufen ist selbstverständlich keine Lösung und dazu noch äußerst gefährlich, aber nicht die Symptome sollten bekämpft werden, sondern die Ursachen.
Aber besser ich spare mir die moralische Keule ebenfalls. „Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.“ Die Szene ist nie eine Heimat für Weggelaufene gewesen und auch sicher nicht der Auslöser dafür. Vielleicht ein Art sein Leben zu verbringen, ein alternativer Weg der Weltanschauung und mit Sicherheit eine Lebensbejahende Weise seine Sicht zu erweitern. Lassen wir uns überraschen, welcher Geschmack zurück bleibt.
„…und vermutlich ist dir die ganze Welt auf den Keks gegangen, stimmt’s?“ – „Stimmt. Aber von Wavern und vor allem von Ratte bin ich geheilt. Die Haben ja allen den totalen Kopfschuß, ehrlich!“ Genau. Lieber ertrinken ich weiter in meiner Mittelmäßígkeit ohne wirklich verstanden zu haben, worum es geht. Hoppla, jetzt werd ich doch noch polemisch. Mit „Flucht aus der Welt“ ist vielleicht ein Stückchen Wahrheit daran, denn so ist wohl für einige gewesen und auch heute noch. Die Abkehr vom normalen, vom bunten, die Suche nach etwas anderem was romantisch und düster erscheint und durchaus als „Flucht“ betrachtet werden kann. Was ist daran schlimm? Soll man doch froh sein, das sich das eigene Kind oder die Jugendlichen anders anziehen, sich die Haare abrasieren und ein paar Piercings stechen lassen, anstatt ihr Flucht wörtlich zu nehmen, oder die Welt mit Alkohol und Drogen auszublenden.
Denn tatsächlich ist die Gothic-Szene immer noch einer sehr abstinente Szene, in der Alkohol kaum ein Rolle spielt, Drogen selten gesehen werden und Friedfertigkeit ein Lebensmotto ist. Szenemitglieder lesen gerne, kennen sich aus in der Vergangenheit und haben ein recht breit gefächerten, intellektuellen Musikgeschmack.
„Dagmar merkt jetzt, wie wichtig ihr Freund für sie ist und daß sie sich von Vero ganz schön rumkommandieren ließ. Im Grund war Vero der Motor und Dagmar nur ein Trittbrettfahrer in Sachen Wave. Daß Wave eben mehr ist als nur schwarze Klamotten tragen und bestimmte Musik hören, das hat Dagmar nun begriffen. Und sie trifft Vero nun nur noch in der Schule – weil sie in ihrer Freizeit immer mit Timmy zusammen ist. Udo und Vero dagegen gehen getrennte Wege, denn Vero wird immer extremer in ihren Klamotten und ihren Ansichten. Jedem das Seine … das haben die beiden nun begriffen …“
Ich hab da mal was fett gedruckt. Klingt doch tatsächlich nach mehr, und dass 1987, ich bin überrascht. Fassen wir zusammen:
Eine nette Love-Story auf dem Rücken der Waver, Ratte steht da wie die große Verliererin. Die Waver-Queen akzeptiert in London niemand und ihr Style ist angeblich out. Dagmar, die sich von ihrer Freundin Vero in den Sumpf ziehen ließ, ist nun geläutert und wieder auf dem Pfad der Tugend. Die Bravo hat den Spagat zwischen Jugendkultur, Weglaufen, Liebe und Abenteuerlust versucht und eine Geschichte produziert, die viele zum Anlass nahmen sich überhaupt mit den schwarze zu beschäftigen. Man munkelt, dass sich sogar einige direkt auf Ratte berufen und nur wegen diesem Bericht auch heute noch in der Szene zu finden sind.
„Ratte macht die Fliege“ ist vorbei. Eine schöne Zeit, die ohne 8-teiligen Bericht in der Bravo nicht möglich gewesen wäre. Nahezu ein halbes Jahr habe ich gebraucht um allen Ausgaben im Original habhaft zu werden, habe gesucht und recherchiert. Es hat sich gelohnt. Ich weiß endlich wie die Bruchstücke aus meiner Erinnerung zusammenpassen und ganz nebenbei habe ich auch noch einen ganz ansehnlichen Fundus weiterer Artikel zusammengetragen, die ich selbstverständlich im Rahmen der „Dunklen Vergangenheit“ wieder für euch kredenzen werde. Bis dahin überlasse ich euch die ganze Geschichte in Übersicht zum nachlesen, stöbern und weiterverlinken.
- Folge 1: Ein neuer Anfang
- Folge 2: Zoff um Dagmars Glatze
- Folge 3: Dagmar zieht ’ne Show ab!
- Folge 4: Ratte packt den Sargkoffer
- Folge 5: Eiskalter Schock in London
- Folge 6: Timmy macht sich große Sorgen
- Folge 7: Ratte schläft im gemieteten Sarg
- Folge 8: Dagmar beichtet Timmy alles
Einzelnachweise
- Aus dem Artikel: Spannung in Serie: Die Romane in Bravo, abgerufen am 06.11.2010[↩]
Hab schon befürchtet, danach käme keinen Artikel mehr aus der Zeitschrift, die Goethe wie Lyrik vom Bahnhofsklo erscheinen lässt ;D
Wenigstens ein bisschen tiefgründige Botschaft in diesem Teil, mir fällt nur auf das Dagmar irgendwie ne miese Freundin is (also für Vero) oder besser war o.O
Stimmt, die Grufties stehen wie die Blöde da, dabei ist eigentlich Dagmar die doofe.
Hat sich lustigerweise nix geändert mit diesen Foto-Lovestory, meine Schwester ist Bravo-Leser und hin und wieder wenn die Langeweile zu groß wird blätter ich da auch durch und egal was passiert ist, auf den letzten twei, drei Bilder hängen sich die beiden Hauptpersonen immer in den Armen xD
Ja und die Fotostories suchen immernoch szenemäßige Klischees heruas, um sie breitzutreten. Siehe hier:
ElisaDay: Und solange sie das tun gibt es aufmerksame Leser und engagierte Szene-Mitglieder die darüber berichten um dem etwas entgegen zu setzen. Es geht nicht darum den Kampf gegen die Windmühlen zu kämpfen, sondern eine Alternative zur Ansicht der Bravo zu liefern. Den Kampf gegen das Privatfernsehen erachte ich als hoffnungslos ;)
@Schatten: Wird Zeit für eine eigene Love-Story, wo sich die Hauptpersonen zerstreiten, mobben und bedrohen, wie im echten Leben also :)
Ich stelle gerade einen Blogbeitrag zusammen, in dem ich Seiten aus verschiedenen STERN-Magazin-Ausgaben aus 1996 einbinden will. Ich frage mich gerade, ob ich erst den Verlag fragen muss, bevor ich das tun darf. Wie habt ihr es mit der BRAVO gehalten?
Das ist schwer. Natürlich liegt das Urheberrecht bei den Verlagen, ich habe versucht die BRAVO anzuschreiben, leider ohne Antwort. Daher habe ich mich entschlossen, die Bilder zu verwenden und sie in einem redaktionellen Zusammenhang zu stellen um evt. vom Zitatrecht Gebrauch zu machen. Aber letztendlich ist das ein Grauzone.
Danke für Deine Antwort. Ich habe heute auch mit der STERN Redaktion telefoniert und habe eine Abfuhr kassiert. Der STERN gibt generell keine Artikel für Online-Medien frei. Als Ausweg bot mir die Dame am telefon in der Tat das Zitatrecht an und so erde ich es für mich auch definieren. Wir schreiben ja unsere Artikel, in die wir Medien erläuternd und ergänzend einbinden, selber. Wir verdienen damit (hier) kein Geld. Diese beiden zentralen Aspekte sollte uns vor Übergriffen durch Abmahnanwälte schützen.
PS: grau ist fast schwarz :-))
Immerhin sehr nett von der Dame, dir so etwas vorzuschlagen. Im Prinzip ist es schon klar, dass man sich generell von so etwas distanzieren möchte, man hat wohl Bedenken davor, das nach dem kleinen Finger die ganze Hand genommen wird.
Aber wie du schon sagst: Wir verdienen kein Geld damit, nehmen hauptsächlich „uralte“ Artikel und verweisen auch brav auf die Quelle. Kommt tatsächlich eine Abmahnung, hat der Anwalt natürlich recht, aber moralisch eher fragwürdig. Dazu kommt das in diesem Fall wohl §97a zum tragen, der vielleicht die Kosten auf 100€ deckelt. Aber das ist nur eine Laienhafte Einschätzung :)
Ein bisschen Mut müssen wir schon beweisen und im Hinterkopf behalten, das es so ist wie es ist, leider. Genau aus diesen Gründen (unter anderem) bleibt Spontis auf Werbefrei, damit mir nicht noch einer Unterstellt, ich hätte Gewinnabsicht. (Alles schon dagewesen)
Ich habe es getan. Der Artikel ist endlich fertig und ich werde in der ersten Insatnz auf das Zitatrecht verweisen. Wir machen das hier immerhin nicht zum Vergnügen, sondern rein aus soziologischem Forschungsdrang. :-))
Falls Du Lust auf einen vergilbten STERN-Artikel über Gothics hast: http://www.werturteilsfrei.wordpress.com/2011/03/24/nur-scheisse-drauf/
Tobikult: Super Artikel! Werde das in der kommenden Wochenschau gleich mal verlinken, vielen Dank für den Hinweis.
Moin! Ich bin mittlerweile 50 und war Gruftl der ersten Stunde. Zumindest was D anbelangt. Ich finde es interessant, dass du das so ernst nimmst, denn es ist doch eindeutig, welche Zielgruppe Bravo hier anspricht. 1987 war doch alles schon vorbei und nur noch Teenies haben die Kommerzialisierung nicht erkannt. Meine Gruftzeit war die Sisters of Mercy Zeit, 82-ca. 85. Danach ist alles nur noch innen passiert. Grunge war der Nachfolger und danach kam nichts mehr. Ich bin glücklich, dass die 80er mein Jahrzehnt waren und Gruft mir so viel gegeben hat. Manchmal hätte ich gerne eine Zeitmaschine.
Hallo Kerstin!
Natürlich ist es klar, dass die Zielgruppe hier die breite Masse ist und gerade Ratte ein Stück weit zur Kommerzialisierung beigetragen hat. Es ist aber auch für viele (auch für mich) ein Stückchen Vergangenheit, denn Ratte habe ich inhaltlich verschlungen und war damit mit ein Grund in die Szene zu rutschen. Da ich (mit einigen Pausen) immer noch dabei bin, darf ich behaupten, dass eine Kommerzialisierung stattgefunden hat, es aber nach wie vor noch den Untergrund gibt, den Du möglicherweise damals kennengelernt hast.
Was meinst du mit „ist alles nur noch innen passiert“?