Spätestens Mitte der 80er Jahre hatte sich der Bekleidungsstil der sogenannten „Gruftis“ als festes Zugehörigkeitsmerkmal etabliert. Die Mischung aus Punks und New Wavern, die zu Beginn des Jahrzehnts eher eine lose Mischung aus Anhänger von Gothic-Rock, Wave und Synthie-Pop bildeten, wurde um den typischen „Gothic“ erweitert. Menschen mit blass geschminkten Gesichtern und schwarzer Kleidung, die mit okkulten und religiösen Symbolen in Form von Schmuck und Accessoires bestückt waren, unterschieden sich immer deutlicher von ihren Wurzeln. Die übrige Bevölkerung, die die gewollte Provokation der Punks schon fast gewohnt war, schlussfolgerte lapidar eine weitere Provokation, die sich diesmal gegen ihre Religion, die Kirche und ihre Moralvorstellungen wandte.
So wundert es nicht, dass Medienszenarien, wie „Die Wiederkehr des Teufels“ oder „Geht die Jugend zum Teufel?“ Mitte der 80er Jahre aufkeimten 1 und schnell für ein Klischee sorgten, das der Szene bis heute anhaftet. Es war also keine bewusste Provokation, sondern eine eher beiläufige. „Dass der Stil den Normalbürger trotzdem schockiert, ist eher als Nebeneffekt anzusehen, denn eine Auseinandersetzung mit Außenstehenden wird in der Regel nicht angestrebt. Tendenziell bevorzugt man die Abgeschiedenheit oder besteht sogar darauf, in Ruhe gelassen zu werden. “ 2 Sowieso kam bis Mitte der 80er niemand auf die Idee, die „Gefahr für die Jugend“ als Szene zu begreifen, sondern nur als potenzielles Risiko für das Wohl der Kinder. In Deutschland begann die Bravo im März 1986 3 damit, das Phänomen als Bewegung zu begreifen und titelte „Die Gothics lieben Grüfte„. 1987 ging es dann Schlag auf Schlag. Der Foto-Love-Roman „Ratte macht die Fliege“ sorgte unter den Jugendlichen für Aufsehen und ein reges Interesse an der noch jungen Szene. Im November 1987 griff die Bravo dann die Stilelemente der Gothics und New Waver auf und degradierte sie zur Mode für jedermann.
Schwarz ist heiß!
„New Wave – alles in Schwarz ist angesagt. Man kann die dunklen Klamotten gut mit Alltagssachen kombinieren. Schnallenschuhe, Handmanschetten und andere Accessoires helfen euch dabei.“ Ein ästhetischer Todesstoß, eine schwarze Kutte mit einer Blue-Jeans zu kombinieren. Waschechte Grufties laufen beim Anblick schreiend in ihre Höhlen und hängen sich kopfüber unter die Decken. Und überhaupt ruiniert der Artikel den so geliebten Stereotyp des Gothics. Hier wurden ein paar Models mit Haarspray ein bisschen „wuschig“ gemacht und mit dem zu dieser Zeit schon verfügbaren Shop-Angeboten sogenannter „Underground-Läden“ in Szene gesetzt, während sie merkwürdig lächelten. Ja, sie lachen sogar!
Schon zu dieser Zeit wird deutlich, dass man sich den typischen Bekleidungsstil dieser neuen Jugendkultur ganz einfach zusammenkaufen konnte. Einen Flattermantel für 150 DM, eine „Sarouelhose“ für 130 DM und, Schnallenschuhe für 130 DM und noch ein paar Accessoires für rund 50 DM machen aus dem normalen Bravo-Leser mit dickem Geldbeutel einen bekleidungstechnischen Super-Gruftie! Wir rechnen zusammen: 460 DM für ein Outfit aus dem Katalog, ohne das notwendige Haarspray und die obligatorische Schminke. Kein Wunder also, dass man schon damals begonnen hat, die Sachen selbst zu kreieren. Ich persönlich hätte im zarten Alter von 15 fast 1 Jahr lang sparen müssen um mir das leisten zu können. Logisch, dass Gothics – wenn man der einschlägigen Szeneliteratur glaubt – aus der besseren, bürgerlichen Mittelschicht stammten. Bei den Preisen ist Mittelschicht gerade gut genug. Zynisch gesprochen.
Doch wer hat hier von wem abgeguckt? Waren es die Szenelabel, die von den Szene-Anhängern abkupferten, nachdem diese von der Bühne kopierten? Oder haben sich die Label gleich bei den Idolen bedient? Alles Spekulation. Fakt ist, dass das eigene Erscheinungsbild einen großen Teil der Szeneaktivität ausmacht(e). Es wird viel Zeit, Leidenschaft und Kreativität aufgewendet, um sich seinen eigenen Stil anzufertigen, auszuwählen, zusammenzustellen um letztendlich seine Kombination aus Kleidung, Frisur und Accessoires „Zur Schau zu stellen“. Dass man mittlerweile auf ein breites und kommerzielles Angebot zurückgreifen kann, ist der Zeit geschuldet. Ist eine Jugendkultur beständig genug, gibt es schnell einen Markt, der Geld damit verdient. Daran ist im Grunde auch nichts auszusetzen.
Und dennoch, bevor ich Euch mit dem geballten Angebot des Jahres 1987 schockiere, möchte ich noch einen klugen Satz zitieren, der eine ganz wichtige Sache auf den Punkt bringt und durchaus als Unterscheidungsmerkmal von „Mitläufern“ dienen könnte. Inwieweit das heute noch gültig ist, überlasse ich Eurer persönlichen Einschätzung:
Charakteristisch für Grufties ist nämlich, dass sie nicht wie andere Jugendkulturen (…) den Brennpunkt des modernen Lebens, die Straße, als Aufenthaltsort und Bühne zur Selbstdarstellung bevorzugen, sondern Orte der Stille, Einsamkeit und Besinnung, wo sie – ihren Rückzugsintentionen entsprechend – ungestört und unter ihresgleichen sind. 4
Einzelnachweise
- Vgl.: Werner Helsper: Okkultismus – Die neue Jugendreligion?, Leske + Budrich Verlag 1992, Seite 6ff.[↩]
- Axel Schmidt, Klaus Neumann-Braun: Die Welt der Gothics – Spielräume düster konnotierter Transzendenz, VS-Verlag, 2. Auflage 2008, Seite 79[↩]
- Aufruf: Wenn jemand die konkrete Ausgabe vorliegen hat (nach meiner Recherche Ausgabe #11, #12 oder #14/86) wäre ich für einen Scan in meinem Postfach sehr dankbar.[↩]
- Doris Schmidt, Heinz Janalik: Grufties. Jugendkultur in Schwarz, Baltmannsweiler 2000[↩]
Hach, ich finds doch immer wieder herrlich, wie manche alten Szene-Hasen behaupten, dass früher „alles so viel besser war“. Und ich junges, dummes Ding habe das sogar geglaubt.
Danke, das gibt mir doch gleich wieder etwas Hoffnung, dass ich doch nicht „zu spät“ geboren wurde und in einer verkorksten Szene verkehre. ^^
So großartig „verkleidet“ und „wuschig gemacht“ kommen mir die Models gar nicht vor. Exakt so sah die Szene doch aus damals. Ich jedenfalls kann mich nicht an Leute wie „Ratte“ erinnern. Meine „Szene“, die uns damals kaum als „Szene“ bewusst war, sah eher so aus wie die Bravo-Models hier. „Ratte“ kam viel später. Und Jeans waren damals nicht ungewöhnlich oder gar ungruftig (auch dieses Wort war damals noch keins). Selbst Robert Smith ist mit Jeans, buntem Shirt und weißen Turnschuhen rumgelaufen.Bei dem Mädel mit der Kreuzkette in der Mitte haben sich „die Label“ ganz klar bei Madonna bedient.
Würde ich auch so sehen wie Sabrina. Die „Szene“, wenn es damals überhaupt eine gab, war doch verspielter wie heute. Und Blue Jeans galten auch in den 80ern noch als rebellisch unter den Jugendlichen. Zudem denke ich, dass es damals garnicht so einen harten Schnitt zwischen den verschiedenen Jugendkulturen gab.
Na ja, früher war schon einiges besser, besser gesagt anders.
Der grosse Unterschied war, daß Kleidung mit Identifikation verbunden war. Man hat versucht, sich abzugrenzen. Heute ist es mehr ein Versuch, zu provozieren.
Also ich habe für mich selbst soetwas profanes wie Kleidung nie als Identifikation gesehen. Mich muss Kleidung warm halten, gemütlich sein und das war es dann auch. Ich sehe Kleidung einfach als Nutzgegenstand und ich weiß nicht, wie man da soviel Inhalt reininterpretieren kann. Sich abgrenzen geht doch eher über die eigenen Gedanken, die persönliche Einstellung. Ich finde, dass so Abgrenzung auch Inhalte bekommt, woraus dann etwas beständiges wachsen kann. Mit Kleidung als Abgrenzung und Statement habe ich so meine Probleme, weil es in meinen Augen konsumistisch ist.
Ist aber nur meine persönliche Einstellung.
Ich frage mich gerade, wie man ausgerechnet einen Modeartikel aus der Bravo so bierernst nehmen und als Szenedokument verwerten kann. Ein bisschen mehr Skepsis wäre angebracht, liebe Kommentatoren.
Genau das und nicht mehr ist es. So sahen höchstens Leute aus, die Sandra und Modern Talking hörten. Darüber kann auch keine „modische Erweiterung“ mit Kleidungsstücken aus der Düsterecke hinwegtäuschen. Der klassische Post-Punk hätte sich geradewegs übergeben…
Ist eines der Hauptidentifikationsmerkmale traditioneller Jugendszenen.
Kleidung Hauptidentifaktionsmerkmale?
Da ist also eine Industrie, in diesem Fall verschiedene Modehersteller, die da sagen: „Kauf Dir diese und jene Kleidung, dann grenzt Du Dich ab!“ – Sorry, aber das ist mir persönlich einfach zu platt und so funktioniert es auch meiner Ansicht nach nicht. Abgrenzung, Provokation, usw. kann man sich nicht erkaufen – dies wächst in einem selbst. In der Entwicklung eines Menschen, meist in der Pubertät, steckt doch erstmal ein anderes Ziel: Rebellion auf irgendeine Art und Weise. Kleidung kann ein Ausdruck dieser Rebellion sein, aber nicht der Inhalt. Gibt es denn wirklich Gothics die schwarz sind, weil ihnen nur die Kleidung gefällt? Dann haben sie das Wesen einer Subkultur nicht verstanden und sind die besten Kunden oben angeführter Modeindustrie.
In meinem Verständnis ging es immer darum eine Alternative zu bunten Plastikgesellschaft aufzuzeigen, sich mit Inhalten auseinanderzusetzen und ganz wichtig: Offen zu sein und nicht diese Intoleranz zu fröhnen, welche in der Gesellschaft so vorherrscht. Für mich hat die Lebenseinstellung „Gothic“ auch sehr viel mit Werte zu tun. Deswegen habe ich beispielsweise auch mit diversen „Elite-Gothics“ so meine Probleme, weil sie dieselben Werte in sich tragen wie die normale Gesellschaft auch (Stichwörter: Kleidung, Status, Aussehen; und genau gegen solche Oberflächligkeiten rebelliere ich persönlich ganz bewusst seit nun 15 Jahren).
Wenn man sagt, dass Kleidung das Hauptidentifikationsmerkmal einer Jugendszene oder eine Subkultur ist, dann ist das schon ganz schön starker Tobak und ich muss mich da fragen wo genau da eigentlich der Unterschied zur normalen Gesellschaft ist.
Industrie spielte dabei weniger eine Rolle. Es ging um Musik, es ging um Identifikation mit dieser Musik, was den Kleidungsstil hervorbrachte, der wiederum der Erkennung und Abgrenzung diente. Ich weiß nicht, was ihr von traditionellen Jugendszenen erwartet. Tiefsinn?
Mit Subkultur hat das alles sowieso nichts zu tun. Wenn wir akademisch herangehen, ist Jugendszene die einzig richtige Bezeichnung, trotz einer Horde Szene-Opis.
Hier waren Jugendliche am Werk. Natürlich werden Intoleranz kritisiert und Ideale hochgehalten, aber dabei stets die eigene Intoleranz und Spießbürgerlichkeit vergessen. Die Mehrheit der Menschen besteht nun einmal nicht aus Denkern. Auch Szenen können davor nicht schützen.
Auf irgendeine Lebenseinstellung namens „Gothic“ gehe ich definitiv nicht mehr ein…
Ich erkenne keinen Unterschied zu einer heutigen Ausgabe einer Zillo/Konsorten.
Da blättere ich auch durch und frag mich, wer denn bereit wäre auch nur 200€ für ein Outfit (welches bestenfalls gerade mal die „kritischen Stellen“ bedeckt – aber dies ist wohl unserer Zeit geschuldet) hinzublättern. Erschreckenderweise aber habe ich in den letzten Jahren genug Leute kennen gelernt, die damit prahlen, sich für nen Tausender neu aus dem Katalog eingekleidet zu haben.
Ich habe keine bewusste Erinnerung an die Mode der 80er, was einfach auch an meinen Alter liegt, daher meine Frage an euch Zeitzeugen: War es damals so eine starke kleidungstechnische Abgrenzung? [ich denke gerade an die ganzen Outfits vom X, die meines Erachtens nach einfach überhaupt nicht alltagstauglich sind und idR eh nur auf Parties getragen werden – vorzugsweise von jenen, die unter der Woche so „normal“ aussehen, dass man sie gar nicht erkennt] Eine optische Abgrenzung war bestimmt bewusst angestrebt – aber diente sie damals ausschließlich dem Zweck zur Abgrenzung oder war sie auch so kombiniert, dass sie für die eigenen Zwecke auch noch brauchbar war?
Axel schreibt ja:
Das sehe ich nicht anders. Nur muss sie mir auch gefallen / zu mir passen. Daher entscheide ich mich bewusst gegen die ganze heutige Szenekleidung aus den großen Ketten – denn für mich muss Kleidung auch strapazierfähig und alltagstauglich sein. Da kaufe ich dann lieber in den „stinknormalen“ Ketten ein und verpasse ggf. der Klamotte mit ein paar Handgriffen meinen Stempel (und zugegebenermaßen wurde das in meiner – idealisierten – Vorstellung der damaligen Szene auch eher so gehandhabt).
@mela
Von der Intention her war es – nach der Entdeckung entsprechender Musik – mehr „Dazu-gehören-wollen“ zu einer Gruppe als „abgrenzen“ von der Gesellschaft. Also kombinierte man alltägliche Kleidung mit spitzen Schuhen und Accessoires, bastelte sich die Klamotten irgendwie um und ab uns zu ergatterte man mal in „Underground“-Läden einen „echten“ Rock oder „richtige“ Schuhe aus England. Das Ganze aber eher ordentlich als punkig. Ich kann mich da noch an einen schwarzen Minirock mit einer riesigen Sicherheitsnadel erinnern, den ich in Düsseldorf in so einem Shop gekauft habe. Den hab ich mir zu Weihnachten gewünscht und meine Mutter ist extra mit mir dort hin gefahren. Sie fand ihn auch hübsch, so dass er wohl doch auch alltagstauglich gewesen sein muss ;-)Generell war „meine“ Grufti-Szene sowieso sehr edel-schwarz gekleidet, so dass man mit den Klamotten ohne Weiteres zur Schule oder durch die Stadt gehen konnte. Ich würde Deine Frage so beantworten: Man trug überwiegend etwas ausgefallenere, edle Kleidung, die es im Alltag gab, kombinierte sie aber so, dass ein besonderer Look herauskam. Ob das nur bei uns so war, vermag ich nicht zu sagen. Ich bin in einer kleinen Stadt aufgewachsen. In Großstädten oder anderen Regionen mag das anders gewesen sein.
Orphi: Ja, das sagt mir auch meine Erinnerung. Mein Beispiel ist deutlich überspitzt dargestellt. Das hat den Zweck, die heutige Sichtweise auf „damals“ zu spiegeln. Denn es wird viel idealisiert und glorifiziert, vor allem was den Bekleidungsstil der Szene angeht. Eine noch tiefere Selbermacher-Kultur war bei der kleinen Gruppe der Grufties in der ehemaligen DDR anzutreffen, da hier zwar Stilvorlagen in Form von Zeitschriften oder auch Fernsehsendungen zwar präsent waren, aber mangels Verfügbarkeit und finanziellen Mitteln nicht umgesetzt werden konnten.
@Death Disco: Richtig, genauso war mein Artikel auch gemeint. Ein Mischung aus Wissenschaft, Fakten und einer belustigenden Überspitzung. Ziel ist es, zu entmystifizieren und sich auf Tatsachen zu berufen oder mit eigenen Erfahrungen zu bereichern.
Ich bin jedoch anderer Meinung, wenn es um den Begriff „Jugendkultur“ geht. Das mag in den 80ern zutreffend gewesen sein, hat sich heute jedoch geändert. Ich bin selber etwas verstört, dass noch niemand ein Buch über die „Erwachsenenkultur“ der Gothics veröffentlicht hat, vielleicht ist es deswegen noch nicht wirklich greifbar. Keine Frage, auch heute ist es noch eine Jugendkultur doch ich stelle mir persönlich die Frage, was immer mehr Erwachsene dazu bewegt, sich heute einer Szene (im Sinne von Bekleidung und Musik) anzuschließen, nicht mehr auszusteigen und das „schwarze Dasein“ mit Inhalten zu füllen. Individualisierung? Verlorene Jugend?
Axel: Das Blue-Jeans in den 80er ein Zeichen für Rebellion waren, stimmt nicht. Jedenfalls nicht in West-Deutschland. In den 60ern mit aufkommen der „Halbstarken“ waren die Blue-Jeans, die zu dieser Zeit noch allesamt aus den USA stammten tatsächlich ein Zeichen für Rebellion. Dieser Effekt nutzte sich im Laufe der folgenden Jahre immer mehr ab, so dass man in den 80ern nicht wirklich von Rebellion sprechen konnte. Kleidung war und ist tatsächlich eines der wichtigsten Identifikationsmerkmale, um dazuzugehören, musst du zunächst einmal entsprechend aussehen. Das war schon immer so und wird wohl immer so bleiben. Auch wenn es nur schwarze Jeans, Schuhe und Hemden sind.
Wenn man NUR von der Bekleidung ausgeht unterscheidet uns von der normalen Gesellschaft im Grunde NICHTS, deshalb begann man meiner Ansicht nach auch damit, sein persönliches Dasein mit Inhalten zu füllen und eine gewisse Form der passiven Rebellion zu entwickeln. Großer Unterschied ist zum einen des musikalische Geschmack (siehe Death Discos Kommentar) und MITTLERWEILE, ein weiter individualisierender Prozess, der Interessen, Vorlieben und auch das Alltagsleben beeinflusst.
@mela: Früher war das kein bisschen anders und deckt sich mit der Einschätzung und dem Vergleich mit dem Zillo. Auch früher war Bekleidung unter Jugendlichen längst ein Statussymbol. Hier wurde auch mit Marken oder Herkunft geprahlt, dass sich die Balken bogen. Mit ein paar Schuhen, die so ähnlich aussahen wie Pikes, jedoch von einem kleinen Schuhladen aus der Stadt stammten und nur 59 DM kosteten, wurde man nicht beachtet. Sätze wie „Guck mal, die hat mir meine Schwester aus England mitgebracht!“ hat man damals Aufmerksamkeit erregt. Eigentlich ziemlich blöd, aber Tatsache ;)
Um Deiner idealisierten Vorstellung Futter zu geben: Genauso war es auch. Man hat noch mehr selbstgemacht, kombiniert oder verfremdet, weil die Allverfügbarkeit nicht gegeben war. Es gab kein Internet und Läden mit entsprechendem Angebot nur in den Großstädten. Es gab kaum Baumärkte, die dazu einluden sich die Kleidung mit Schnallen, Ketten oder Ösen zu versehen. Einzige Möglichkeit waren Mail-Order Händler, die ihr Angebot in Zeitchriften präsentierten (Bogeys) oder als Mitbringsel eines Freundes. Man hat selbst gemacht, weil man es nicht bekommen konnte. Darüber hinaus war der Lebensstandard in den 80er noch ein wenig niedriger.
Kleidung muss warum halten und gemütlich sein? Du erweiterst das schon um „muss gefallen und zu mir passen“. Selbstdarstellung in Form von Kleidung ist in der Szene immens wichtig. Für mich spielt es keine Rolle woher etwas kommt oder was es gekostet hat, für Jugendlich ist das sicherlich anders. Die Reduzierung der Kleidung auf ihre reine Funktionalität ist manchmal (!) ein (Achtung Provokation!) Selbstbetrug und den fehlenden Möglichkeiten oder einem fehlenden Selbstbewusstsein geschuldet.
Das man Funktion und Aussehen mischt, gehört auch für mich zum Alltag. Doch Selbstdarstellung durch kombinieren, zurechtmachen und zerschneiden gehört dazu. WOHLFÜHLEN ist hier ganz wichtig. Sich GUT fühlen ebenso. Und so richtig gut fühle ich mich, wenn ich mich entsprechend zurechtmache, schminke und Kleidung trage, die nicht unbedingt ihrer Funktion nachkommt :)
Für mich gehört es nicht nur zum Alltag, es macht meiner Meinung nach auch einen persönlichen Stil aus. Dass man sich selber durch Kleidung darstellt, ist wohl nicht zu hinterfragen. Sonst würde man ja in den Laden gehen und das erstbeste kaufen, was einen passt – ganz gleich, wie es aussieht oder geschnitten ist. Ich kenne niemanden, der das derart handhabt.
Den letzten von dir genannten Punkt (sich WOHL und GUT fühlen) finde ich unglaublich wichtig. Ich finde, vielen auf den Parties kann man direkt ansehen, dass sie sich in ihrer Kleidung eben nicht wohl oder gut fühlen – auch wenn das Stück Stoff ach so toll aussieht oder ach so teuer war. Von Schuhen ganz zu schweigen!
Da schreit die Körpersprache förmlich ein „Ich möchte etwas darstellen, das ich gar nicht bin“ um jedermanns Ohren. Und ich frag mich, warum so viele das machen. Nicht selten wünschte ich mir einen Einkaufswagen im Lautraum herbei, damit ich diesen so einigen in die Haken fahren kann – nur damit sie endlich mal gerade stehen. Nehme nur ich dieses extreme „Verkleiden zur Party“ wahr und wenn nein – war es früher auch so?
Über solche Artikel hat man sich tatsächlich allenfalls übergeben. Ich hoffe, es nimmt nicht wirklich jemand an, die Bravo hätte jemals die Szene authentisch wiedergegeben. Damals gab es wie heute „Trendscouts“, die sich gerne aus dem Repertoire der Subkulturen bedient haben, um es entschärft als letzten Schrei massentauglich anzupreisen, war beim Punk nicht anders. Wir haben aber durchaus einen Unterschied gemacht. Fällt mir aber auch immer wieder in Punkto 80´er Mucke auf. Da meint man auch, als Grufti hätten wir damals alles gehört, dabei sind das allenfalls 80´er Revival-Partys, die heute stattfinden, wo alles mit Wave in Verbindung gebracht wird, obwohl das teilweise stinknormale Stino-Musik war, die man täglich im Radio vorgesetzt bekam.
Also ich suche mir schon auch Kleidung danach aus ob sie mir gefällt oder nicht, so ist das nicht. Aber manche Zeitgenossen interpretieren in Kleidung einfach zu viel, wie mir scheint. Und genau das, dass sich viele scheinbar nur über Kleidung definieren, kann ich nich nachvollziehen.
Da gibt es vereinzelte Artikel zu und auch sowas wie ein Buch
Aber da kommt demnächst noch mehr…
Vielen Dank für diesen wunderbaren Beitrag! ^^
mit Verlaub: Gothic wäre ohne den sich von der Masse abgrenzenden Bekleidungsstil nicht denkbar, zumindestens für mich nicht. Nicht zu vergessen: Frisur/Körperschmuck und das jeweilige Auftreten.
Das Styling der Szene hilft einem das Jetzt zu vergessen, sich in andere Welten zu versetzen, sich zu wundern, staunen sich ekeln..das ist für mich alles Gothic.
Axel. du hast irgendwie ne Phobie vor gestylten Gothen, jedenfalls scheint mir es so, weil du dass in fast jedem deiner Artikel herausstellst. Wurdest du wegen deiner Bekleidung gemobbt oder was ist der Grund für deine Attacken auf Gothicklamotten?
Dan liest Du meine Kommentare nicht richtig, Kara. Von meinen 100 Kommentaren habe ich diesen Bekleidungswahn vielleicht 5x oder so kritisiert.
Aber um Deine Frage zu beantworten: mit Mobbing hat das ganze schon zu tun, aber anders als Du es Dir denkst. Ich bin seit meiner Jugend jemand, der sehr kritisch gegenüber Kapitalismus und Konsumismus ist. Ich kaufe generell Second Hand und gebraucht, betreibe auch viel Tauschgeschäfte und solche Dinge. Kurz: ich verwirkliche so meine Gedanken und demenstprechend mich selbst. Und von wem werde ich dann immer wieder kritisiert und häufig auch gemobbt? Von eben diesen Menschen, die 5 Stunden und länger im Bad brauchen um sich rauszuputzen, die teuersten Klamotten tragen, etc. „Du bist kein echter Gothic“ ist da nur das allerharmloseste was ich mir in den letzten 15 Jahren anhören durfte. Häufig werde ich richig extrem beleidigt und weil mich das ziemlich kalt lässt, werden auch gerne Lügen und Gerüchte verbreitet.
Ich finde das sehr paradox wenn dann genau dieselben Leute was von „Toleranz“ und solche Dinge faseln. Es ist heuchlerisch, ja heuchlerisch!
Ich attackiere nicht diese Klamotten, sondern diese Heuchelei die mir bis oben steht!
Ich trage bpw. keinen Körperschmuck. Mag ich an mir nicht. Auch aufwendige Frisuren trage ich seit nun 10 Jahren nicht mehr. Ist mir bei meinen Naturlocken auch echt viel zu viel Arbeit, also lasse ich der Natur mal freien lauf. Bin ich deswegen jetzt weniger „Gothic“?
Zudem stelle ich Charakter und Gedanken generell über das Auftreten einer Person. Egal ob extrem gothmäßig rausgeputzt, egal ob in pink gekleidet, egal ob mit ner Sonnenblume im Haar: mir kommt es, wenn ich jemanden kennenlerne, immer auf die Gedanken eines Menschen an, was ihn bewegt, was ihn umtreibt. Für mich ist DAS das wirklich spannende. Alles andere ist Maskerade und interessiert mich nicht wirklich.
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Mir scheint es fast so, also würde man mit äußerlichen Understatements in dieser von Aussehen und Styling durchtränkten Gesellschaft richtiggehend provozieren. Ich muss sgen: gefällt mir! :D
@robertianjim: Danke für den Buchtipp, hast du es schon gelesen? Werde es mal in meine „To-Read-Liste“ aufnehmen. Ich bin gespannt, was da noch „mehr“ kommt :)
@Madame Pipistrelle: Bitteschön :)
@kara ben nemsi: Genau so sehe ich das auch, die Bekleidung – so oberflächlich das auch erscheinen mag – ist ein wichtiges Abgrenzungs- und Szenemerkmal. Die einzige Kritik, die ich diesbezüglich äußern möchte ist – wie bereits im Beitrag geschrieben – die gewollt provokative Selbstdarstellung außerhalb der eigene Szene. Wie zum beispiel vor der Moritzbastei in Leipzig im Rahme des WGT, damit man versteht was ich meine. Genauso wie das exhibitionistische Gehabe in manchen Magazinen, die zwar als „Gothic-Magazine“ betitelt werden, jedoch von einem Fetisch- oder Pornomagazin nicht mehr zu unterscheiden sind. Nicht das ich das nicht aufregend finden würde, es geht eher darum, seine Leidenschaft und sein Ästhetisches Empfinden plakativ in die Öffentlichkeit zu tragen. So etwas widerspricht dem Sinn (meinem Sinn) des Ganzen. Für mich findet das alles nämlich in meinem Schutzraum statt.
immer gerne.
Nein, habe es selbst noch nicht gelesen, aber es gibt auch einige wissenschaftliche Artikel zu dem Thema, in die ich reingeschaut habe. Verlinken macht da aber wenig Sinn, da man da Logins braucht etc…wen es interessiert, hier mal 2 Quellen:
Davis, J. (2006). ‘Growing Up Punk‘: Negotiating. Aging identity in a local music scene. Symbolic Interaction 29(1): 63–69.
Hodkinson, P. (2011). Ageing in a spectacular ‘youth culture’: continuity, change and community amongst older goths. The British Journal of Sociology 62(2): 262–282.
„mehr“ kommt, weil Mr. Hodkinson da gerade ein weiteres Buch zu dem Thema vorbereitet soweit ich gelesen hab…
Oh Mann… immer diese Rechtfertigungen nach dem Motte „bin ich jetzt Goth oder nicht?“ – Ja, verdammt! Jeder ist hier Goth, ganz auf seine Weise. Egal ob Urgestein oder Neubau :-) Vor allem, hört doch nicht immer drauf, was andere über euch sagen, seid einfach so, wie ihr sein wollt und Punkt :-)
Ich bin Gruftie und ich bin stolz darauf.
P.S.: Ich liebe farbige Klamotten. Aber nicht an mir! ;-)
Axel:
hmm kam mir halt so vor, weil du das in den letzten statements häufig erwähntest, ich schreibe hier auch noch nicht allzulange mit..
mit kapitalismus hab ich als alter ddr-grufti auch kein problem, nein ich bin sogar froh das dieses sozialistische gleichmachersystem, was uns hinten und vorne unterdrückt hat auf dem müllhaufen der geschichte gelandet ist. ich kann mir auch für gruftis nichts besseres vorstellen als diese art demokratie wie wir sie hier haben. ich reise öfters nach ägypten und auch dort gibts es gothics. du glaubst gar nicht wie die uns um unsere freiheit beneiden. das system hier lernt man erst zu schätzen wenn man mal in unfreiheit gelebt hat.
individualität in sachen mode muss auch nicht unbedingt teuer sein, bisschen kreativität langt doch. klar es gibt sachen die sind teuer, wer schicke pikes oder extravagante einzelstücke trägt und sie nicht selber machen kann, muss da schon geld hinlegen. aber ich kenne auch keinen der den preis der garderobe in den vordergrund stellen würde und das man sein erworbenes dann auch gern präsentiert gehört doch dazu. und von einer richtigen modeindustrie für gruftis zu sprechen ist doch ganz schön weit her geholt. das bisschen xtra gehört doch auch dazu, die macher sind szeneleute und den versand gibt es seit anfang der 90ziger. früher musste man gewisse sachen in london holen weil es hier einfach nix gab, es gehört viel mut dazu so eine firma aus dem boden zu stampfen und sich 20 jahre lang zu halten. ich gönne den xtralern ihren erfolg.
ich bewege mich gern in clubs oder konzerten mit gut gekleideten gothen..dass ist leider ja nicht mehr überall so..ich sehe heute eher eine stylingfaulheit.. gerade bei den jungs. tshirt und jeans usw. zu wem weggehen gab es früher kaum und wenn wurden die nicht für voll genommen. das gleiche bei den frisuren, wer damals kurze haare hatte gehörte einfach nicht dazu..die frisur war das hauptärgernis unserer lehrer,eltern, polizei und stasi, wer dieses wagnis nicht einging war in unseren augen ein pseudo.
die ganze stylinggeschichte hat natürlich nichts mit dem charakter eines einzelnen zu tun, aber sie gehört oder besser gehörte zum charakter der szene.
du stammst ja aus der gleichen ecke wie ich, ich kann mir nicht vorstellen das du von irgendwem wegen deiner klamotten gemobbt wirst.. bestimmt nicht in meinem stammclub b-plan. wie läuft den so ein mobbing da ab?
@robert: vollste zustimmung..die szenen vor dem mb locken genau das falsche publikum an.
Wer wie ich die Bravo kultig findet, sollte diesen Link nutzen: https://www.krone.at/2120929
Ja, stimmt. Das ist voll cool :) Das Bravo-Archiv hat von den Jahren zwischen 1954 und 1994 je eine Ausgabe online gestellt. Sollte man sich unbedingt sichern: https://bravo-archiv-shop.com/ein-wenig-licht-in-dunklen-zeiten/page/2?swoof=1