Vorurteile sind da, um ausgeräumt zu werden. Als ich das Video „Menschen 93“ aus der Sendung Schaufenster entdeckte, bin ich grundsätzlich vom schlechten ausgegangen, denn die Medien dieser Zeit nicht gerade berühmt für eine differenzierte und objektive Berichterstattung. Meine negative Herangehensweise zeugt zwar nicht von grundsätzlichem Optimismus, den sonst immer nach Außen trage, schützt aber davor enttäuscht zu werden und lässt die Freude beim Gegenteil wachsen.
In der Anmoderation heißt es: „[…] Wir bleiben unter Menschen. Menschen 93. Gestern waren wir noch zu Gast beim Grafen und sahen die Buchenscheite im Kamin brennen, heute tauchen wir in eine ganz andere Szenerie. Junge Leute, die nicht so aussehen, als hätten sie den Tag zum Freund: Gruftis, dunkle Gestalten. Alles Quatsch, ganz normale Jugendliche die sagen was ihnen wichtig ist im Leben und was nicht.“
Los geht es mit einer kurzen Vorstellung der Szene-Discothek Exit in Solingen, in der Menschen mit „wilden Frisuren und schwarzer Kleidung“ ihrer Musik lauschen. Es geht aber nicht darum, was Gruftis sind oder was ihnen die Szene oder ihr Aussehen bedeutet, sondern eigentlich und angenehmer Weise um den Menschen hinter der für viele immer noch abschreckenden schwarzen Fassade. Ganz normale Jugendliche, die sich den Fragen des Redakteurs über Ausländerfeindlichkeit (vor dem Hintergrund des Mordanschlags in Solingen), Wahlen, Zukunftsvisionen, Konsum und Kapitalismus stellen. Ganz interessant, was Sascha, Christian und Tassilo dazu zu sagen haben – Weltschmerz? Depression? Engstirnigkeit? Meinungslos? Mitnichten. Eigentlich nur Jugendliche die anders aussehen.
In der Abmoderation flachst der Moderator: „Ich wette, die bieten alten Frauen in der Straßenbahn sogar ihren Sitzplatz an und vielleicht setzen sie sich demnächst mal neben so einen jungen Mann.“ Ja, das taten wir, tun wir und werden wir tun, großes Grufti-Ehrenwort. Schaut euch selbst an, was die 3 zu sagen haben und erinnert euch vielleicht an eure Einstellung in diesem Alter. 1993 war ich 19 Jahre alt, gerade mit der Lehre fertig und muss zu meiner Schande gestehen, das ich ein Jahr später nicht zur Wahl gegangen bin.
Wirklich ein toller Beitrag – den kannte ich noch nicht.
Ich denke, solche Reportagen funktionieren nur dann halbwegs wenn man sich nicht auf die Szene versteift sondern auf die Menschen. Szene ist so ne Sache – da gibt es zu viele individuelle Beweggründe sich „dazu“ zu zählen, auch wenn die (ernsthaften) Grufties immer eine gewisse gemeinsame Basis haben mögen.
Man denke auch an den tollen Beitrag vom WDR „Menschen Hautnah“ (zwei der Protagonisten sind Bekannte von mir – rate welche beiden ;) ) – für mich ebenfalls einer der wenigen Dokus die recht gelungen sind, gerade weil sie sich auf die Menschen konzentrieren und nicht auf eine Szene die heutzutage so viele Facetten hat daß man sie nicht subjektiv darstellen kann in einem kurzen Beitrag.
Witz am Rande, bzw Nähtanten-Krankheit das zu bemerken: alle drei Jungs tragen das gleiche Hosenmodell *g*
Und zum Schluss noch nen Programmtip: morgen (Sonntag) ist auf 3Sat 80er Thementag. Nichts speziell szenebezogenes aber sicher ganz interessant. Ich werd den Sonntag jedenfalls mal aufm Sofa verbringen und nebenher bissl Sticken.
@Rosa: Also gibt es keine Szene? Sondern nur eine Gruppe von Individuen, die sich um Gemeinsamkeiten bemühen? Und was sind dann ernsthafte Grufties? Die, die sich besonders besonders bemühen? Ich verstehe es gerade nicht.
Ich werfe mal eben kurz ein, weil ich schon eine Weile mitlese:
Natürlich GIBT es eine Szene. Aber keine, die man in irgendwelchen Dokumentationen oder auch in anderen Medien wirklich fassen kann. Die Versuche, sie zu erklären, enden meist mit einem Schuss in den Ofen.
Die erwähnte Doku aus der Reihe „Menschen hautnah“ macht da eine recht angenehme Ausnahme.
@Rosa: Stimmt, letztendlich halte ich Szene und Mensch für zwei unterschiedliche Dinge, die gerade in dem von dir erwähnten Beitrag eindeutige Bedeutung finden. Ich finde das Menschen 93 noch etwas mehr auf den Mensch selbst eingeht, während „Menschen Hautnah“ zumindestens am Rande mit der Szene als solches zu tun hat. Vielen Dank für deinen Programmtip, den ich mir trotz meines späten Kommentars voll zu Herzen genommen habe und mehr oder weniger den ganzen Tag zur Aufnahme programmiert habe. Zur Zeit arbeite ich alle Aufnahmen ab. Herrlich!
@Luc: Willkommen im Blog. Ich denke auch das Berichte über die Szene, also die Bewegung als solches im Grunde zum scheitern verurteilt sind. Im Prinzip muss ja auch nichts erklärt werden, sondern eine Mischung wie aus Menschen Hautnah kann von allen Zuschauern auf die eigene Weise interpretiert werden.
Das nenn ich mal nen tollen Report schön sachlich und an der Meinung der Befragten orientiert :)
Der Erzähler erinnert mich lustigerweise von der Stimme her an den Erzähler auf einer alten Dracula Kassette :D
@Schatten: Du hast Dracula-Kassetten gehört? Jetzt erklärt sich einiges :) Vielleicht meinst du diese hier.
@Luc und Robert: Warum sollen Medien die Szene nicht erfassen können? Und wer kann es erfassen? Wie will man den eine Szene definieren, wenn es keine Grenzen gibt? Daraus folgt: Die Szene macht „ihre“ Grenzen. Und diese Grenzen sind auch für Medien erkennbar. Oder gibt es da etwas übernatürliches?
In dem Augenblick, in dem du eine „Bewegung“ beschreibst, steht sie still. Ein Szenebild der Medien kann also immer nur eine Momentaufnahme sein und wird die Szene selbst nie ganz erfassen können. Definition hat nichts mit Grenzen zu tun, die helfen lediglich das ganze als Konstrukt mit Rändern darzustellen – sagen wir als geometrische Form. Die Grenzen einer Szene sind aber fließend und ändern sich ständig. Erkennbar wären die Grenzen des Moments, doch kaum jemand in den Medien macht sich die Mühe danach zu suchen.
Und da glaube ich, daß Du total falsch liegst. Die Definition und die Grenzen machen die Szene aus. Denn sonst wäre die gesamte Gesellschaft aller Menschen „eins“, da es überall fließende Übergänge gibt.
Da läuft The Klinik mit „Sick in Your Mind“ im Hintergrund. So so, Black Wave ist das also. Man lernt nie aus. :D
@Vizioon: Du nimmst es zu wörtlich. Sicher gibt es Grenzen, doch die sind ausgefranst und überlappen sich immer mit dem Nachbargenre wie ich meine. Musikalisch und vom Style her. Darüber hinaus gibt es auch gesellschaftliche Grenzen, wie du schon richtig anmerkst, doch dich hatte ich nicht gemeint.
@Death Disco: Vielen Dank für die musikalische Aufklärung, den Titel habe ich in der Tat gesucht! :)
@Robert: sry, dann nehme ich o.g. zurück. Mir fällt es schwer, „es“ nicht wörtlich zu nehmen, deswegen verstehe ich auch Gedichte nicht. Zwischentöne erschliessen sich mir nur schwer.
@Vizioon: Und deswegen kommentieren wir, damit wir Missverständnisse aus dem Weg räumen können. Ich bin auch nicht mit einem Schreibstil gesegnet der universal und unmissverständlich ist.