1994 hat der RTL seinen Reporter „Theo auf Touren“ auf die Kölner Domplatte geschickt, um die Gothics, die sich dort zum jährlichen Domplattentreffen versammelt haben, näher kennenzulernen.
Domplatte 1994
Der Kölner Stadtführer verrät: „Auf der Domplatte und dem Roncalliplatz ist immer etwas los…“ Seit 1970 ist die große Fläche im Schatten der eindrucksvollen gotischen Kathedrale Versammlungsort für die Menschen der Stadt. Auch das „Schwarzentreffen“ oder auch „Waver-Treffen“ für die gruftige Subkultur findet dort seit den frühen 90er Jahren zu Pfingsten statt und lockt mitunter hunderte schwarze Gestalten aus ihren heimischen Särgen.
1994 landet der Aufmarsch der Gruftis dann auch bei RTL, als der damals 26-jährige Theo West das Treffen für das Format „Theo auf Touren“ besucht. Auf gewohnt flapsig-komische Art versucht der Reporter die Gruftis zu interviewen, was aber erfreulicherweise an den meisten Gruftis abprallt. Die Ersten beiden, die West vor die Kamera zerren möchte, ergreifen spontan die Flucht. Ein Verhalten, das ich schmerzlich vermisse! Der Grufti von Heute ist dann doch etwas „offener“, was den Umgang mit Kameras angeht.
Auch die Antworten auf die ziemlich platten Fragen des Reporters werden ungewöhnlich souverän von den angesprochenen Wavern und Gruftis gemeistert. „Wie hält diese Teller-Frisur?“ – „Mit Haarspray!“ oder auch „Kann man mit einer solchen Frisur Sex haben?“ beantwortet der Grufti wie gekonnt mit „Kann man gut Sex mit haben. Ich mein: Kannst du mit SO einer Frisur gut Sex haben?“
Gut, okay. Der Wut-Grufti von Minute 2:40. Die Lady mit dem aparten Pony-Sidecut lebt bei ihren Großeltern und entgegnet auf die Frage, was diese zu ihrem Outfit sagen würden: „Die finden das okay. Die finden das voll okay, dass Leute endlich mal was gegen dieses scheiß Gesellschaft tun. […] Durch mein Outfit sage ich: Ich finde das Scheiße, was ihr hier macht. Ich finde es Scheiße, dass ihr hier alle Leute diskriminiert, alle die anders sind. Und ich bin stolz darauf, anders auszusehen!“
So ganz Unrecht hat sich ja nicht, wenn ich ehrlich bin. Ich wäre schon froh, wenn auch nur ein Bruchteil der Gruftis, die heutzutage vor der Kamera landen, diese Einstellung äußern würden. Und weil sie cool aussieht und tolle Pikes trägt, verzeihe ich ihr auch den Pony.
Die Lady im knappen Outfit gehört dann tatsächlich zum Zeitgeist der frühen 90er Jahre und spiegelt durch ihre Kleidung die schleichende Sexualisierung der Szene. Das ist noch nicht mal persönlich gegen die junge Dame gerichtet, sondern vielmehr gegen den Trend, den auch Bands wie Umbra et Imago lostraten.
Zurück zu unseren sympathischen Kölner Gruftis: „Möchten Sie ihr Mutter grüßen?“ – „Nee, bloß nicht!“ dicht gefolgt von „Das ist ein Handtäschen in Form ein Sarges, ja?“ – „Ja, eindeutig.“ Sind sie nicht zum gern haben?
Den finalen Todeshieb bekommt das Trauerspiel „Theo auf Touren“ zum Schluss. Ein Passantin wird gefragt, wie sie reagieren würde, wenn ihre Tochter so herumläuft wie der Grufti mit der Kamera. „Ich wäre geschockt, würde aber nicht gegenreagieren„. Die Gegenseite kommt ebenfalls zu Wort: „Wären sie auch geschockt, wenn ihr Mutter so herumlaufen würde?“ – „Nö, meine Mutter tut das ja.“ – „Ach, sie leben auch ganz tolerant damit?“ – „Ja.“ – „Wozu berichtet man dann darüber?“ Mit diesen Worten können wir den Bericht dann einfach mal ausklingen lassen.
Natürlich. Medien müssen berichten. Und zwar über das, was stattfindet, was passiert, was interessiert. Das ist ihre Aufgabe. Wenn die dann bei solchen Befragungen immer auf gotischen Granit beißen, wie in diesem Beispiel, hätten wir vermutlich heute unsere Ruhe, weil keiner mit uns reden wollen würde :-)
(Danke an Frank für das Video!)
„Gothic“ wurde sogar richtig ausgesprochen! Und schon damals gab es Grüppchen. Trotzdem sympathischer als heute. Vor allem die „Szene“ mit dem Sargkoffer. „Einzelstück aus Amerika“ – 1994 bestimmt noch teuer und was besonderes. Heute im Internet überall zu bekommen. Den Typ hab ich übrigens erkannt. Laut Google Unterhaltungskünstler. :D Fand den penetrant, aber soll wohl lustig sein. Auch die Szene mit den bierbäuchigen Männern, die sie anglotzen. Heute sicher auch Standard auf dem WGT.
Hat da ganz zu Anfang einer gerülpst? Ich hab jetzt drei Mal extra hingehört. Die junge Dame die bei ihren Großeltern wohnt/ wohnte ist echt cool…. unterstreicht meine Meinung daß es keine unpolitische Kultur gibt… top. Zeitlose Einstellung, immer aktuell. „Aber ich bin kein Gothic. Ich bin schwarz.“ auch eine gute Antwort. Eigentlich hat sich bei Fragen, Gegenfragen, und Reaktionen wenig geändert. Das Wort bieder habe ich aber lange nicht mehr gehört…. dabei fallen Teile der Gesellschaft ja wieder ins Biedermeier…. bzw haben nie das Biedermeier verlassen. Das geschockt über „Normalos“ hätte man aber besser beantworten können. Also ich bin schon manchmal geschockt wie „Normalos“ in der „Öffentlichkeit“ rumlaufen. Das mit dem Stolz finde ich schwierig. Zufrieden ja… evtl auch ewtas selbstzufrieden (auch ein bisschen dickfällig) über die Jahre/Jahrzehnte… aber den Stolz Schuh lasse ich stehen. Interessant wäre Anno 2019 zu sehen, wer noch dabei ist, und wenn ja wie der Stand jetzt ist, und wer äußerlich und/oder innerlich „die Kultur“ verlassen hat.
Wiener Blut : In der Tat. Da hat jemand lautstark in die Kamera gerülpst. Dieser Opener ließ mich ja „böses“ ahnen, doch glücklicherweise zog sich dieser Stil der Kommunikation nicht fort. :-) Insgesamt bin ich aber bei Dir. Ich finde es auch sehr angenehm, wie man sich und die Szene darstellt. Nicht so bierernst, mit richtiger Meinung und einem hohen Maß an Schlagfertigkeit. Natürlich würde es 2019 völlig anders aussehen, denn „Gofficks“ ecken schon lange nicht mehr an und müssen nicht toleriert werden, weil sie schon längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Leider, möchte ich meinen, denn damit hat das Outfit und die verbundene Abgrenzung an Gewicht verloren. Darüber hinaus ist auch vielen „Gofficks“ die Attitüde flöten gegangen, die die Pony-Lady so eindrucksvoll nach außen gekehrt hat. Vielleicht erinnert uns das Video daran, wo wir wieder hin sollten.
Dawina : Ja, den selben Gedanken hatte ich auch bei dem Sargkoffer. Was man in diesem Fernsehbericht so belächelt, weil man sich eben so etwas einfach bestellt, war damals schon was besonderes. Irgendwie war das damals total abenteuerlich sich etwas aus dem Ausland zu bestellen. Da hast du erst Mailorder Listen bestellt, die dann ausgefüllt und Geld auf schwindelerregende Art und Weise angewiesen, um dann nach gefühlten Monaten ein mit Aufklebern übersähtes Paket zu bekommen. Und wehe, du warst nicht zu Hause!
Ja, der Glatzen-Theo. *gähn* Den hat RTL immer dann losgebunden und ausgeschickt, wenn es darum ging, unter dem Vorwand von „Information gepaart mit Lustigkeit“ aus der Reserve zu locken, vorzuführen, zu diffamieren, lächerlich und Stimmung zu machen und zu brüskieren. Deshalb auch seine implizierenden Fragestellungen, die als Köder ausgeworfen wurden, in der Hoffnung, der Befragte zieht sich den Schuh an, den Theo ihm hinstellt. RTL nannte und nennt das „Journalismus“. Und arbeitet 2019 noch mit diesem Konzept – man schaue nur auf preiswert zu produzierendes Tatsachen- und Hintergrund-Entertainment, in dem es u.a. um zukünftige Schwiegertöchter, einsame Landwirte, verzweifelte Langzeitarbeitslose und dramatische Justizgeschichten geht.
Was mich mehr erstaunt, ist die Tatsache, daß man 1994 noch Schwarze mit Frisuren auf der Domplatte sah…Anfang der 1990er Jahre kam doch diese Mode mit ungestyltem Deathhawk auf: Schläfen kahl, Pferdeschwanz, Haargummi. Schon bei den ersten beiden Domplattentreffen hatte die Frisurenkreativität im direkten Vergleich zu den 80ern merklich nachgelassen.
Robert: „Natürlich würde es 2019 völlig anders aussehen, denn “Gofficks” ecken schon lange nicht mehr an und müssen nicht toleriert werden, weil sie schon längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Leider, möchte ich meinen, denn damit hat das Outfit und die verbundene Abgrenzung an Gewicht verloren.“
So ganz unterstreichen möchte ich das nicht. Man kann auch heute noch als Goth oder Schwarzer gut anecken. Nur eben nicht mehr bei Onkel Eckhardt und Tante Mechthild aus den Ruhrpott-Reihenhaussiedlung, die sich in den 80er und 90er Jahren selbstgerecht in ihrer Schrankwandeinrichtung Stil Eiche brutal ihren Herrschaftsbereich gesichert hatten und bemüht waren, sich dort das Leben gegenseitig zur Hölle machten.
Verunsicherte Neugier, Ablehnung bis hin zu Furcht und Haß habe ich in der zweiten Dekade des neuen Jahrtausends während 5 Jahren Aufenthalt in einer deutschen Großstadt und trotz gemäßigtem, schwarzem Outfit vor allem von Mitbürgern mit Migrationshintergrund erlebt, die wohl in der Regel Kulturkreisen angehörten, in denen Religion noch ernst genommen wird. Und die deshalb offenbar meinten, ultimativ Weisheit, Anspruch auf Beurteilung und Recht auf Gewalt gepachtet zu haben.
Vielleicht hat auch einfach eine Art gesellschaftlicher „Aufklärungswandel“ stattgefunden: Während man in den 1980er Jahren mit schwarzem Outfit schnell mal in der Schublade „nicht an gesellschaftlicher Integration interessierter Jugendrebell mit satanistischem Fundament“ landete, dürfte man aktuell wohl eher als „unglücklicher Jugendlicher mit schwierigem Elternhaus und dadurch psychosomatisch bedingter Neigung zu bipolarer Störung“ kategorisiert werden. Letzteres schockiert heute wohl nicht mehr, läßt sich aber immer noch gut im Werbefernsehen einsetzen. Dank RTL und ausreichender Falschinformation durch Generationen von Theo West’s in allen Sparten von Boulevardmedien und Privatsendern. Schade, daß nicht jeder Schwarze beim Auftauchen einer Kamera unmittelbar das Weite gesucht hat und sucht – Gothic/ PostPunk/ Wave, wie immer man es nennen will, läßt sich drittklassigen Privatsendern nicht erklären. In der Regel wollen die auch keine Erklärung. Die wollen Quote.
PS: Natürlich gab es schon immer „Grüppchen“ in der schwarzen Szene. Zu den Domplattentreffen reisten damals Besucher aus ganz Deutschland an und niemand hatte das Geld, allein – z.B. per Bahn – dorthin zu fahren. Die Anreise erfolgte üblicherweise als Fahrgemeinschaft in alten, klapprigen Autos, zumindest wenn man von außerhalb kam. Spritkosten wurden geteilt. Und es versteht sich, daß man sich dann an seine Mitfahrgelegenheit heftete, um auch wieder nach Hause zu kommen. Einen soziokulturellen Hintergrund hatten die „Grüppchen“ damit eher nicht. Vielleicht für die, die sich aus den einschlägigen regionalen Clubs sowieso schon kannten.
Markus : Guter Kommentar! Ich jedenfalls ecke nirgendwo mehr an, es sei denn, ich habe mir die Haare gestellt, dann ernte ich schon mal einen belustigten oder skeptischen Blick. Aber Schmuck, Symbolik, schwarze Klamotten, Kajal, Schminke und Piercings ziehen einfach nicht mehr, weil das selbst die christliche Hausfrau für sich entdeckt hat. Heute sind Mechthild und Eckhard selbst tätowiert, baden in merkwürdiger Symbolik und zaubern sich ihre vermeintliche Individualität auf ihr äußeres.
Heute musst du doch immer extremer rumlaufen, um den „Effekt“ der Abgrenzung aufrecht zu erhalten. Bodymodifcation ist in der Szene allgegenwärtig. Ein wechselnder Aggregatzustand der Geschlechtsidentität. Oder eben Pomp und Gloria in der achten Potenz. Abgrenzung funktioniert doch heutzutage nur noch über Weltanschauung und Meinung. Das lehrt uns Facebook. Hier nimmst du dann einfach mal eine gegensätzliche Meinung zu dem ein, was andere denken, sei sie auch noch soweit entfernt von dem, was du wirklich denkst. Fertig ist die Abgrenzung.
Ich bin der Meinung, dass Abgrenzung nur noch durch eine Kombination stattfinden kann. Eine ablehnende Haltung gegenüber jeder Kamera zum Beispiel oder eine Verweigerung sämtlicher Erklärversuche. Wenn daneben wieder alte Traditionen aufgewärmt werden, wie ausgedehnte Friedhofsbesuche, traurige Gedichte und gelebte Melancholie, könnte es noch was werden. Aber da müssen wir uns anstrengen, oder?
lol ich hätte ja nie gedacht dass ich mit dem Sch..ß noch Jahrzehnte danach mal irgendwo auf nem Titelbild rumlümmle^^
Die Tasche gabs im Scarface in Köln limitiert auf 5 Stück war also kleines bisschen geschwindelt… aber die einzige mit lila Samtfutter… Handanfertigung in Amerika stimmt. Hat glaub ich 80 DM gekostet bin aber nicht sicher denke Goldie wüsste das noch XD
Danke fürs Video
Dank deines Kommentars bin ich auf dieses Video aufmerksam geworden. Ich hoffe sehr das du die Tasche noch hast oder sie mittlerweile in neuen gruftigen Händen ist, wäre ja schade um dieses kultige Teil : )
Besonders zauberhaft, die Stelle, als die ältere Dame ganz entzückt von der Umarmung mit dem jungen Mann ist! Ein weiteres Highlight ist der „Wut-Grufti“. Mag ihren Idealismus.
ja die habe ich noch^^ allerdings ist sie recht wenig zum Einsatz gekommen da kein Schultergurt dran ist. Spätestens mit Getränk und Zigarette in den Fingern hat Frau ne Hand zuwenig und beim Tanzen auch eher unpraktisch. Dient daher seit geraumer Zeit als Schmuckschatulle und wenn dann ginge sie im Zweifel an die 2. Generation Grufti in der Familie da meine Tochter die gleiche Richtung einschlägt.
„der junge Mann“ is ja nu auch ma knuffig (zumindest war ers früher)