Die 80er sind vorbei. 15 Jahre nachdem die Bravo die schwarze Subkultur erstmals als Jugendmode der Grufties und Waver wahrgenommen hat, betritt eine zweite Generation die Bildfläche. Die Gothics. „Sie tragen schwarze Gewänder, spitze, schwarze „Pickers“-Schuhe, alten Silberschmuck und schminken sich dick mit lila und kalkweißem Make-Up. Sie sammeln Kreuze, alte Hexenbücher, schreiben Gedichte und feiern bizarre Partys…“ Zugegeben, verschwunden waren sie nie, mit mehr oder weniger vielen Berichten bleibt die Bravo den schwarzen Gestalten immer auf den Fersen. Der Artikel „Wir sind Gothics!“ versteht sich daher auch eher als Einblick in einen Trend, als in eine Subkultur. Die hier vorgestellten Gothics geben sich angepasster als ihre Prototypen und wirken braver als eine gewissen „Ratte“, die in einem Foto-Love-Roman London unsicher machte.
Doch eins nach dem Anderen. Im Dezember 2012 veröffentlichte Guldhan dieses Video, in dem er einen bei sich „gefundenen“ Bravo-Artikel in einer Art Video-Beitrag rezensiert und droht, ihn mir zuzuschicken. Er hat den Worten Taten folgen lassen und so landete der Ausschnitt letztendlich in meiner Sammlung. Aller höchste Zeit, die Sache abzurunden und den Artikel in die Spontis-Sammlung einzureihen. Es galt jedoch noch herauszufinden, von wann der Artikel stammen könnte, denn die fehlende Quelle ermöglichte lediglich Mutmaßungen. Im Artikel heißt es: „Einmal im Jahr, zu Pfingsten, pilgern Gothics aus ganz Europa nach Leipzig zum mittlerweile traditionellen, zweitägigen Wave-Gothic-Treff. Diesmal werden rund 10.000 Gothic erwartet.“ Das legt den Schluss nahe, der Artikel stammt aus dem Jahr 1995, denn das war das letzte Treffen und der alten Bezeichnung „Wave-Gothic-Treffen“, bevor es fortan „Wave-Gotik-Treffen“ genannt wurde.
Doch irgendetwas stimmte nicht. So war in einem kleinen Beitext von einer Ecstasy-Studie aus dem Jahr 1997 die Rede und ein Infokasten kündigt an, dass deutsche Jugendliche ab dem 1. Januar 1999 ihr Taschengeld in Euro ausbezahlt bekommen. Bleibt also nur 1998 als Jahr dieses Artikels und die Bravo hat sich beim Titel des WGT schlichtweg verhauen.
Zurück zum Artikel. „Gothics sehen aus, wie die Gruftis aus den frühen 80er Jahre, wollen aber mit ihnen auf keinen Fall verglichen werden. „Wir wollen nicht schocken, wir sind auch nicht cool.“, sagt die 17jährige Julia aus München. Gothics sind romantisch und religiös. Wir interessieren uns fürs Jenseits und diskutieren deshalb viel über den Tod und was danach kommt. Manchmal sitzen wir auf dem Friedhof vor alten Gräbern, zünden Kerzen an und denken einfach an die Toten! Aber wir sind keine Satanisten, denn wir lesen die Bibel!““ Kurios. Heute – so erscheint es mir – fühlt man sich eher gebauchpinselt, wenn man „Gruftie“ genannt wird und seinem Style eine waschechte 80er-Attitüde anzusehen ist. Wie die Zeiten sich ändern. Der Rest des Artikels besteht, wie gewohnt, aus Merkwürdigkeiten, Klischees und Wunschvorstellungen die hart an der Realität vorbeigehen.
Und sowieso hat Guldhan in seinem Artikel „Bravo-Goths und coole Sprüche“ den Artikel aus köstliche Art und Weise auseinandergenommen, dass jeder Versuch meinerseits eine gut gemeinte Kopie des Originals wäre.
Ich möchte in diesem Artikel auf etwas anderes hinaus. Gothic, soviel steht fest, gibt es bereits seit den frühen 80ern als lebendige Szene, der tausend Tode angedichtet wurden und die allen Unkenrufen zum Trotz immer noch sehr lebendig ist. Erst neulich unterhielt ich mich mit einer „Veteranin“ die nach 20 Jahren die Szene besuchte um kreischend davon zu rennen. So, nein so hatte sie das nicht in Erinnerung. Dabei ist meiner Ansicht nach alles beim alten. Es gibt ihn noch, den echten Kern der Andersartigkeit. Überall und unsichtbar. Manchmal hinter biederen Fassaden, manchmal als einsamer Turm auf einem Festival.
Jede Generation hat ihren eigenen Kern. Jedes Jahrzehnt brachte einen neue „Untergrund“ hervor, der in den Folgejahren vereinnahmt wurde und zur Massenveranstaltung für Freizeit-Gothics verkam. Die Plätze von damals gibt es nicht mehr oder mussten sich massenkompatibel geben um zu überleben. Kein Wunder also, dass „Veteranen“ an alten Orten nur noch Ruinen entdecken. In jedem Jahrzehnt müssen wir uns neue Plätze suchen, an denen wir die Leute treffen, mit denen wir trotz eines mittlerweile gravierenden Altersunterschiedes auf einer merkwürdig gleichen Wellenlänge liegen. Wir treffen Menschen die uns an uns selbst erinnern und finde Plätze die sich improvisiert und authentisch anfühlen.
In jedem Artikel der Bravo, die „Gothic“ seit Jahren begleitet, findet man ein winzig kleines Stück von der Nostalgie, an der wir uns festhalten. Manchmal tut es gut, das Vertraute loszulassen, neues zu Entdecken und Vorurteile zu zerschlagen. Denn das haben wir alle einmal gemacht, damals, als wir zum ersten mal ganz in Schwarz aus dem Haus gegangen sind. Und bevor ich mich jetzt in Nostalgie verliere, möchte ich dem gruftigsten Nicht-Gruftie noch einmal die Bühne überlassen:
Oh Elend… wenn ich geahnt hätte, dass der Overlord diesen (nicht einmal öffentlich zugänglichen) Kamera-Testlauf nun ein zweites mal an die große gothische Totenglocke hängt, dann hätte ich mir wirklich die Frisur gerichtet und zumindest so etwas ähnliches wie Mühe gegeben.
Guldhan:
Also ich finde das Video echt gelungen!:)
Mach bitte weiter!
Bei 2:40, wie du die Augenbraue hochziehst, einfach genial! *lach*
Ergebenen Dank. Ich hatte durchaus weiteres geplant. So kann der Suchende auf der Tube beispielsweise ein paar bedachtere Videos zur „Lesung von Axolotl Roadkill“ finden (um einmal ganz unverholen ein paar Leser durch unsachlich platzierte Eigenwerbung zu entrüsten) allerdings, wie üblich bei mir, verlief auch das wieder im Sande.
Mir egal, wie un- oder angepasst die jeweiligen „schwarzen Szenen“ in ihren Jahrzehnten sind. Ich bin froh, dass es sie als Plattform gibt. Ohne „schwarze“ Bekanntschaften wäre das Leben (zumindest für mich) ziemlich ernüchternd. Und da kann einer auch gerne den poppigsten Blutengel oder die oldschooligste 80er Wave-Band hören. Wenn die Chemie stimmt, dann passt’s.
Ja das stimmt wohl, Erkennungszeichen schwarz. Ohne dies währe das Leben doch manchesmal ganz schön Einsam.
Das Video von Guldhan ist echt sehr unterhaltsam, wenn auch teilweise etwas schleppend vorgetragen. :D Auf jeden Fall wird der Bravo-Artikel von ihn ja aufs Genüßlichste zerlegt und filetiert. ;)
Dunkle Grüße! :)
Melle
Ich finde den Herrn Guldhan entgegen seiner eigenen Einschätzung sehr „fotogen“ und bin guter Dinge, dass er sich bei soviel positivem Feedback zu einem weiteren Erguss hinreißen lässt. Und ja, du solltest dein Video der Öffentlichkeit zeigen, denn auch ein Guldhan braucht Anerkennung. Die möglichen Trolle, die Dir unreflektierten Unsinn unter deine Videos schreiben, wird die Spontis-Family verbal vernichten. (Ich schicke dann Orphi).
Ich musste aber Deine Beiträge dazu hier mit reinnehmen, denn schließlich hast Du den Artikel „gefunden“ und zuerst „analysiert“. Ehre, dem Ehre gebührt ;)