„Leipzig, den 11. Juni 2000 – 13:20: Mit Wirkung des heutigen Tages hat der Veranstalter des 9. Wave-Gotik-Treffens […] seine Zahlungsunfähigkeit erklärt.“ Das als Chaos-WGT bekanntgewordene 9. Treffen hätte wohl eine Reihe von Überschriften verdient, je nach Auslegung der Ereignisse, die negativ als auch positiv gewesen sind. Um die Umstände, die zur Pleite und letztendlich zum Abbruch der Veranstaltung führten, ranken sich auch heute, 15 Jahre später, noch zahlreiche Geschichten, Gerüchte und widersprüchliche Aussagen.
Der Anfang vom Ende vor historischer Kulisse
Rund 10.000 Gothics warten am Samstag vor dem Völkerschlachtdenkmal auf den Konzertbeginn von Phillip Boa und And One. Doch die Bühne bleibt leer. Ein Sprecher betritt die Bühne und verkündet, das die Auftritte nicht stattfinden werden, da die Gagen der Bands nicht bezahlt werden konnten. Spätestens jetzt wird allen klar, dass etwas nicht stimmt.
Bereits den ganzen Samstag kocht es unter der Oberfläche des Treffens. Künstler und Bands, die ihre Gage fordern, werden vertröstet, Geschäftsführerin Christiane Kuz und der künstlerische Leiter Michael Brunner scheinen wie vom Erdboden verschluckt. Im Laufe des Sonntag Morgens verschwindet zunächst das Sicherheitspersonal, später beginnt man auch damit, Bühnen und Equipment abzubauen. Man überlässt 20.000 Gruftis ihrem Schicksal. Keine Organisation, keine Einlasskontrollen, keine Konzerte – düstere Aussichten für die schwarze Gemeinde.
Doch inmitten des Chaos regt sich erstaunliches, denn die Gruftis beginnen damit, sich selbst zu organisieren. Schnell finden sich Leute, die bereit sind Fäden in die Hand zu nehmen. Es finden sich auch genügend Bands die bereit sind, ohne Gage zu spielen, Technik-Firmen stellen ihr Equipment zur Verfügung und auch eine freiwillige „Gothic-Security“ findet sich. Die Polizei Leipzig hilft mit und auch das Ordnungsamt ist zur Stelle um noch größeres Chaos zu vermeiden. Doch das scheint überhaupt nicht notwendig, denn mit der erstaunlicher Ruhe und Gelassenheit der Besucher hätte niemand gerechnet. Die Atmosphäre war von einem Zusammengehörigkeitsgefühl geprägt, dass vielen Besucher von damals auch heute noch in Erinnerung geblieben ist. „Selbstorganisierter Live-Betrieb ohne finanziellen Background gab es auch auf einer Bühne in Messehalle 16 und in der Moritzbastei.“ Wie sich Peter Matzke in seinem Buch „Gothic!“ erinnert.
Die Gerüchteküche brodelt, Michael Brunner, so hieß es, habe sich mit den Einnahmen des Treffens abgesetzt, das Unternehmen „Wave Gotik Treffen Veranstaltungs GmbH“ würde Insolvenz anmelden und sowieso sei dies das letzte WGT überhaupt. Nichts davon entsprach der Wahrheit. Vielmehr war das Chaos-WGT ein gemeinschaftliches Versagen eines über die Jahre aufgebauschten Organisationsteams, das gegeneinander statt miteinander arbeitete.
Ein Konzept, dass WGT aus Einzelverantstaltungen zusammenzubauen, scheiterte, wie Michael Brunner in einem Interview mit Peter Matzke erzählt: „Falk (Falk Johne, damaliger Veranstaltungsleiter) war ohnehin der Ansicht, daß sich das Treffen weniger über Dauerkarten, sondern mehr über die Tickets zu den einzelnen Festivals im Festival wie „Pfingstrose“ oder „Black Withsun“ rechnen würde. Wir haben also weniger ein Gesamtereignis, sondern ein Bündel von Einzelkonzerten verkauft. Das ging ziemlich in die Hose. Kein einziges der Einzelevents hat die Abendkassenerwartungen auch nur annähernd erfüllt. Das hat uns das Genick gebrochen.“ Bereits ein paar Jahre zuvor war Brunner mit „Sol et Luna“, der ursprünglichen Veranstaltungsfirma, Pleite gegangen und konnte viele der Beteiligten nicht bezahlen. Die im Anschluss an die Pleite gegründete WGT GmbH wurde von seiner damaligen Freundin Christian Kuz-Hollborn geführt, bei der Brunner offiziell nur als Angestellter geführt wurde. Letztendlich haben jedoch alle diese Entscheidung mitgetragen und so ihren Beitrag zum Zusammenbruch beigesteuert. Auch Dienstleister und Lieferanten, die zwar von der Vergangenheit wussten, sie aber offensichtlich ignorierten und Vorkasse forderten, sind nicht ganz unschuldig.
Lange Rede kurzer Sinn. Bereits im Juli 2000 wurden bekannt, dass es weitergeht. Sven Borger und Mike Schorler (von der Agentur „in Move“ die bereits einige andere Festivals veranstaltete) gründen zusammen mit Namensinhaber Thomas Görnert die „Treffen & Festspielgesellschaft mbH“ und beschäftigen Michael Brunner als Berater. Und das machen sie mittlerweile seit 15 Jahren offensichtlich ohne weitere Probleme. Wer ein bisschen was zum lesen möchte, besucht The Gothicworld oder auch das Amboss Mag.
Doppelt skandiert hält besser!
Als wäre das nicht schon Skandal genug, kommt es durch den geplanten Auftritt von Josef Klumb mit seiner Band „von Thronstahl“ bereits im Vorfeld zum Eklat. Auf drängen vieler lokaler Vertreter und verschiedener Organisationen spricht der damalige Bürgermeister Holger Tschense ein Auftrittsverbot aus. Zum Konzert im Rahmen der Veranstaltung „Lichttaufe“ betritt dann die Band ohne den Sänger die Bühne, hält die Sonnenradflagge hoch, während Lieder der Band von CD gespielt werden. In einem Artikel auf seiner Internetseite feiert Klumb die Aktion: „Ich genoss das Licht der SCHWARZEN SONNE und den Applaus des Publikums, wie ein Bad an Genugtuung. Zu früh hatten sich unsere Gegner gefreut. Ihr schmutziger Lorbeer musste nun welken,-in meiner vergleichsweisen Sonne von Austerlitz.“ Pfui Spinne. Ich kann diesen Klumb nicht leiden. Glücklicherweise ist die Band „von Thronstahl“ seit 2010 Geschichte und Klumb in der Versenkung verschwunden. Ich vermisse ihn nicht.
Letztendlich findet 2001 das 10. Wave-Gotik-Treffen statt und die Meisten derer, die 2000 unkten: „Das war mein letztes WGT!“ stehen wieder in der Schlange derer, die auf ihr Bändchen warten. Es sollte jedoch nicht der letzte Skandal bleiben der das Treffen begleitet. Die Organisation des Treffens scheint jedoch zu funktionieren, auch wenn einige der blauäugigen immer noch irgendwo die Fäden ziehen. Aber immerhin klappt es jetzt mit der Buchhaltung. Hoffentlich.
War dieses WGT nicht auch das größte überhaupt, sowohl von der Anzahl der Besucher als auch der Bands? Ich meine, mal irgendwo etwas über mehr als 300 Bands gelesen zu haben. In dem Zeitungsartikel, den du als Bild drin hast, steht ja auch was von 25.000 Besuchern. Ich habe allerdings die verlinkten Seiten noch nicht durch.
Wer weiß, vielleicht war dieses Chaos-Treffen für alle Folgenden ja gar nicht so schlecht, sonst hätte man sich vielleicht später noch mehr und dann ziemlich endgültig übernommen… Und zumindest gefühlt wuchsen andere große Musikfestivals (oh, Entschuldigung, sagte ich „andere“? Das Treffen ist ja bekanntermaßen keines ;)) seit dem Zeitpunkt, seit dem ich mich für so etwas interessiere, mindestens um das Doppelte, wenn nicht deutlich mehr. Das muss ja auch nicht sein.
Wie man auf die Idee mit von Thronstahl gekommen ist, verstehe ich auch nicht so wirklich. Dass dann die Band auch noch unbehelligt (nur eben ohne Herrn Klumb) auftreten konnte, wundert mich umso mehr. Aber ja, Robert, du hast völlig recht: Um den Stilblütenkönig (dieses Zitat von ihm… was genau ist eigentlich eine „vergleichsweise Sonne von Austerlitz“?) ist es glücklicherweise ruhig geworden.
Nachtrag: Das mit den „Festivals im Festival“ klingt ebenfalls nach einer sehr seltsamen Idee. Und ist wohl eines der besten Argumente gegen das ja immer wieder auftauchende Thema „Tageskarten“.
Nachtrag 2: Diese verlinkten Seiten von der Gothicworld und dem Amboss Mag sind ja großartig nostalgisch. Mailinglisten! Und Gästebucheinträge! Herrlich :) Schade nur, dass das Internet eben doch schnell vergisst und die weiterführenden Links oft schon im digitalen Orkus gelandet sind.
Außerdem… das WGT im Jahr 2000 ist zeitlich fast doppelt so nah am 1. WGT wie am diesjährigen. Wie schön, wenn einem immer mal wieder das eigene Alter vor Augen geführt wird…
Sehr später dritter Nachtrag: Die allererste Frage hätte ich mir auch selbst beantworten können, nur auf den Rückblick-Seiten des WGT war ich aus einem mir unerfindlichen Grund noch nie…
Es waren also tatsächlich noch weit mehr als 300 Bands, ganze 350. Oder 349, wenn man der offiziellen Seite glauben darf. Wer da wohl fehlt… ;)
Wie groß doch damals die Vorfreude zu unserem ersten Wave Gotik Treffen war, so groß war dann auch die Überraschung und Enttäuschung über die erwähnten Umstände – zumal wir von der kurzfristig aufgestellten Gothic-Security nicht profitieren konnten und unser Zelt-Inhalt während eines sonntäglichen Besuchs der Leipziger Innenstand vollständig geraubt wurde…
…und dennoch: Zumindest der Beginn des „Chaos-WGT” war großartig und wir durften legendären Bandauftritten (u.a. Limbonic Art) beiwohnen. Versöhnlich stimmte auch Versuch Nummero Zwei im letzten Jahr (nach immerhin 14 Jahren), bei dem alles glatt lief, sodass wir uns auch in diesem Jahr wieder zu den Besuchern zählen werden.
Der nächste „Skandal“* wirft dräuend seine Schatten voraus… Dieses Jahr wird wohl der Transport der Besucher mit den öffentlichen Verkehrsmitteln nicht so glatt laufen und für Ärger sorgen: https://www.l.de/verkehrsbetriebe/kundenservice
*“Skandal“, weil das wohl eher ein Skandälchen, vielleicht auch nur ein Ärgernis werden wird. Ich bin in Leipzig geboren und aufgewachsen, ich komm klar, aber die von weither angereisten….? Ich setze hier ein weiteres Mal auf gegenseitiges Helfen der Besucher untereinander.**
** Satz geändert. Grammatik kann ich nach 0.00 Uhr offenbar nicht mehr. Und Rechtschreibung auch nicht. Entschuldigt bitte.
Als Besucher des IX. Treffens kann man, wenn auch nur subjektiv, viele Berichte über das Chaos-Treffen relativieren.
Natürlich machten an dem Samstag Gerüchte die Runde, v.a. auf dem Zeltplatz verbreiteten sie sich wie ein Lauffeuer (Brunner sei mit den Einnahmen verschwunden, die Orga wurde überfallen), doch letztlich (wenn man von den abgesagten Auftritten absieht) lief das große Ganze reibungslos. Ich denke ohne die brodelnde Gerüchteküche hätte man kaum einen Unterschied – den freiwilligen Helfern galt hier der Dank! – zum normalen Betrieb gemerkt (v.a. war der Sound nicht schlechter als in den Jahren danach ;)).
Was die abgesagten Auftritte betrifft, so muss unbedingt Wolfsheim lobend erwähnt werden, die einen großartigen Auftritt absolvierten.
Auch And One nimmt hier eine Sonderrolle ein, wenn auch eine Negative: Obwohl die Herren, mit dem im Vorfeld erschienen Album 9.9.99 9 Uhr, ihren ersten großen kommerziellen Erfolg hatten, betonte Naghavi, in den zahlreichen Interviews, dass sie Musik für die Fans und nicht für die eigene Kasse machen. Mit solchen Aussagen im Hinterkopf war es natürlich für viele Fans umso trauriger, dass And One eine der ersten waren, die ihren Auftritt absagten und sich viele Fans eine neue Meinung über die Glaubwürdigkeit Naghavis bilden konnten.
Was die Sache mit JMK betrifft, so habe ich sie nicht ganz so skandalös in Erinnerung: einzig die Kahlköpfe, die sich unter das Schwarzvolk mischten, verursachten mir ein flaues Gefühl.
Dem ganzen voraus ging ein großartiger Auftritt von Days of the Trumpet Call und das Programm sah vor, dass im Anschluss JMK zu ihnen stößt und ein Von Thronstahl-Auftritt folgt.
Kurzum ertönte VT aus der Konserve und es wurden „Es lebe Von Thronstahl“-Rufe laut, was in Verbindung mit der Parkbühne in diesem Moment eine unbeschreibliche Atmosphäre erzeugte.
Anzumerken ist noch, dass man diesen „Skandal“ auf der Parkbühne nur verurteilen kann, wenn man selbst vor Ort war, denn im Nachhinein wurde diese Aktion arg verklärt.
Dieses Treffen blieb, zumindest für mich, positiv in der Erinnerung, da ich als Besucher in dem Jahr ein nie wieder dagewesenes WGT-Feeling erlebte, viele Dinge (trotz der widrigen Umstände) super reibungslos liefen, Pearce auf im HeiDo trommelte und sich das Treffen für die Folgejahre gesundete.
@Irmin: Es war jedenfalls eins der größten, ich weiß freilich nicht, wieviel Glauben man den Zahlen schenken darf. Das Jubiläums-WGT 2011 steht jedenfalls mit 23.000 Besuchern auch unter den ersten Plätzen, auch bei der Anzahl der Bands. Wie dem auch sei, so glaube ich in der Tat, dass das Scheitern des damaligen Konzeptes mit dafür verantwortlich ist, dass es keine Tageskarten gibt. Darüber hinaus würde das auch den Charakter des Festivals ruinieren – meine Meinung. Zu Nachtrag 2: In der Tat. Ich sichere zwar schon wie der
TeufelNSA, aber einige Fundstücke scheinen auf immer verloren.@Stef: Das ist natürlich prägend, wenn gleich das erste WGT so unglücklich verläuft. Bei mir war es ähnlich mit dem Mera Luna. Ich war von doofen Leuten umgeben, mein Zelt war undicht und dann hat mir Nachts noch ein Betrunkener vor der Schlafsack gekotzt. Glaub mir. So schnell fahre ich da nicht mehr hin ;)
@Animus: Rückblickend war es dann doch nicht ganz so schlimm mit den öffentlichen Verkehrsmitteln, so jedenfalls mein empfinden. Die große Zerissenheit der Veranstaltungsorte empfand ich persönlich als problematischer und daher kann ich mich – wegen erhötem Einsatz des eigenen Autos – nur über den schlechten Zustand der Straßen beschweren ;)
@Narziß: In der Tat haben sich And One nicht mit Ruhm beckleckert, so mein Eindruck aus den Recherchierten Artikeln denn ich war selber nicht dabei. Für mich die erstaunlichste Tatsache waren jedoch die Besucher selbst, die ruhig, gesittet und selbstorganisiert für ein besonderes Festivalgefühl gesorgt haben. Ob das auch heute noch so möglich wäre?
„wegen erhötem Einsatz des eigenen Autos — nur über den schlechten Zustand der Straßen beschweren ;)“
Sollst schon noch merken, dass de im Osten bist und das nicht nur daran, dass die Leute so komisch sprechen. ;-D *feixt*
Daran merke ich nicht, dass ich im Osten bin ;-) Bei uns ist es auch nicht wesentlich besser. Ich merke immer das ich im Osten bin, wenn der Tankwart nicht über meine Witze lachte und die Kassiererin meinem niederrheinischen Charme nicht erliegt. *hihi*
@Robert:
Unwahrscheinlich; zumindest was meine Eindrücke betrifft.
Gerade der Zeltplatz wirkt – in den Stunden, die ich dort verbracht habe! – mehr wie beim Full Force in den 90ern. Allein das Fehlen der brennenden Zelt am Dienstag macht hier wohl den feinen Unterschied. Dennoch wirken so manche Zeltnachbarn deplatziert und repräsentieren mit ihrem Proll-Gehabe (hoffentlich!) nicht einen Teil der Szene. Ich für meinen Teil habe das Gefühl, dass Gruftis nicht mehr Zelten, sondern ihre Nächte im Hotel verbringen; ich bin da seit 14 Jahren keine Ausnahme.
Aber wie hieß es damals so schön im Wortlaut: Wäre es ein Matalfestival gewesen, hätte Leipzig gebrannt.
Ich denke, dass wir dem heute näher stehen als jemals zuvor. Die Szene hat sich so stark gewandelt, wie zuletzt Mitte der 1990er Jahre.
Was schon beinahe 15 Jahre ist es her, war aber ein genialer Zusammenhalt der damaligen besucher und auch an die Organisatoren (nicht die WGT GmbH), sonder wir!!!
Auch fand ich es in Ordnung das sich viele Musikgruppen dennoch damit einverstanden fanden für ihre Fans zu spielen.
War einfach toll obwohl alles schief lief ! ;)
Meine Schwester war damals beim WGT (ich bin schon nach 1999 nicht mehr hingefahren, 2000 war ich verhindert) und berichtete anschließend ganz aufgeregt von den Vorkommnissen.
Das war wirklich eine einmalige Sache – sowohl im negativen als auch im positiven Sinn. Positiv deshalb, weil es nicht eskalierte und so viele improvisisert haben.
Schade, dass es überhaupt dazu kam, ich habe das WGT seitdem gemieden, weil ich weil mir die Allüren der neuen WGT-Betreiber missfallen (schon allein dass man kein Essen und Getränke mehr mitbringen durfte). Freunde von mir, die 2001 hinfuhren, berichteten allesamt eher negativ. Tja, das war’s dann für mich mit dem WGT, zumal es ja immer kommerzieller wurde. Zu groß, unüberschaubar, anonym, teuer.