Die bewegte Berichterstattung über die Szene war in den 90ern sehr durchwachsen und geprägt von haltlosen Anschuldigungen und Vorurteilen. Auffällig war, das stets von „Oben“ nach „Unten“ berichtet wurde, also von der „Erwachsenen Gesellschaft“ auf die Lebenswelten der undurchsichtigehn Jugend. Das Schülerfernsehen Kitzscher (SFK) aus der gleichnamigen Stadt in Sachsen wollte 1996 einen anderen Weg gehen und schickte Schüler der Oberschule zum 5. Wave-Gotik-Treffen nach Leipzig. Die sollten in ihrem „Randgruppenreport“ herausfinden, was gleichaltrige und ältere Jugendliche dazu veranlasste, sich schwarz zu kleiden und sich zum WGT zu versammeln. Ein schönes Video, auf das uns Andreas aufmerksam gemacht hat, mit vielen Eindrücken von einem sehr frühen WGT, einem noch recht unkommerziellen Treffen und Interviews auf Augenhöhe.
1996 scheint das WGT in Leipzig noch recht unbemerkt stattzufinden, obwohl sich bereits einige tausend Gruftis in der Stadt herumtreiben müssen. Die Leipziger zeigen sich zwar hier und da skeptisch, scheinen aber sonst offen und neugierig zu sein, was da in ihrer Stadt geschieht.
(5:14) „Fühlen Sie sich von solchen Jugendlichen belästigt? Ach überhaupt nicht! Gestern waren wir noch ein bisschen im Mühlholz, ich mein wir sehen jetzt nicht so aus wie die, mein Freund und ich, aber war ein total schöner Abend. Es war irgendwie so der Eindruck, als wäre ich gar nicht in Leipzig.“
(12:50) „Wissen Sie was Gruftis sind? – Das hängt mit dem Tod zusammen, nicht? Den Tod nicht scheuen. Sind meistens Jugendlichen. Aber man soll die Leute ja nicht vom ersten Eindruck her gleich verurteilen.“ – „Vorurteile? Auf keinen Fall! Mein Enkel könnten das ja auch noch werden.“
Die Einzigen, die die Gruftis für „balla balla“ halten sind zwei kleine Jungs (14:31). Einer trägt eine Schirmmütze mit eingebautem Ventilator, der von einer Solarzelle auf der Oberseite gespeist wird. Was hier gekühlt werden soll, entzieht sich jedoch meiner Kenntnis. Diese Kritik kann ich dann nun wirklich nicht ernst nehmen.
Wir sind mit unserer Musik eben nicht Top-10 tauglich, meint der junge Mann von der Band Dorsetshire. Müssen wir auch gar nicht, denke ich so bei mir, während er ausführt, warum dem so ist. Zum Schluss kommt die sogenannte „Selbstauskunft“, ein Interview mit 3 jungen Besuchern des Treffens, die ehrlich und authentisch erzählen, warum sie in der Szene sind, wie sie diese für sich Interpretieren und was sie darin finden.
Das Interessante am Tod ist doch, das keiner was darüber weiß […] Das Leben muss irgendwo hingehen, es kann nicht einfach aufhören. Die Seele in einem Menschen stirbt ja nicht. Mit der muss ja auch irgendwas passieren.
Im Grunde spricht das Interview für sich selbst. Es fühlt einfach richtig an, wenn die Jugendliche nicht in Erklärungsnot geraten, weil übereifrige Interviewer versuchen, die Crux der Gothic-Szene aus ihnen zu quetschen. Es fühlt sich schön an, wenn man von Gewaltfreiheit erzählt, von Romantik, von Gefühlen und Gedanken – die thematisch das spiegeln, was die Szene auf der Bühne zu vermitteln versucht. Es ist diese naive und leidenschaftliche Welt der Jugendlichen, zu denen Älteren oftmals der Zugang fehlt.
Möglicherweise geht es dem ein oder anderen von Euch genau so. Ihr belächelt die 3 Gruftis im Gras, schüttelt voller Weisheit den Kopf und resümiert, was für einen Quatsch die da erzählen. Und drei Gedankengänge später findet ihr Euch dann im Trauergesang über das „früher“ in der Szene, wie toll das alles damals war und wie kommerziell alles heute geworden ist. Ihr sehnt Euch nach den „echten“ Gruftis von 1996 zurück und lästert insgeheim über die heutzutage verkleideten Elfen, Ritter, Zombies und Pferde.
Vielleicht hat sich nicht die Szene verändert, sondern wir. Mein Spiegelbild stimmt mir jedenfalls zu. Während ich daran vorbeischlendere nehme ich mir vor, nicht wie der vermeintliche Sokrates über die Jugend zu schimpfen, sondern sie als den lebendigen Teil unserer Szene zu verstehen. Mit all den „Au weias“ und den „Wows!“, die das so mit sich bringt.
Ein schöner Beitrag, Danke! Ich werde sicherlich das ein oder andere Mal darüber nachdenken, wenn ich in ein paar Wochen durch Leipzig schlendere.
Ist das Interview im Gras süüüüß… tja, ich finde die Zeit heute im Vergleich nicht wirklich besser oder schlechter… anders halt. Was wohl aus den „Kindern“ im Gras geworden ist?… hach, da denkt man selber Jahre zurück… würde man das was man damals gedacht und gesagt hat heute noch denken und sagen… ja und nein… Altersmilde?… aber froh ist man schon irgendwie… wie die „Kinder“ im Gras.