1987: BBC-Radiosendung über die englische Gothic-Szene

Auf YouTube und artverwandten Plattformen kann man ja immer wieder mal über interessante Berichte über die Szene stolpern – nie wirklich gut, selten informativ, aber immer irgendwie unterhaltsam, wenn auch manchmal nur durch interessante Bilder. Dieser Punkt fällt bei einer Radioreportage natürlich weg, aber auf der anderen Seite kann gerade das interessant sein, da hier nun wirklich einmal auf Inhalte Wert gelegt werden muss.

Und so war ich dann fasziniert, als ich über eine mit einem einfachen Infotext-Bildchen hinterlegte Doku der BBC gestolpert bin, die 1987 aufgenommen und im Radio über den Äther geschickt wurde. Der Moderator führt dabei Interviews mit Menschen aus allen Bereichen der Londoner Szene – eine verkleidete Clubgängerin, reichlich auf Posen gebürstete Musiker, ein Szenefriseur sowie eine etwas schräge Shop-Besitzerin.

Ich kann nicht behaupten, dass ich mich mit den Aussagen einer der Personen vollauf identifizieren könnte, aber es ist doch sehr interessant zu sehen, wie unterschiedlich die Haltung zur Szene auch vor über 20 Jahren schon war. Reporter Chris Nicholson und zuweilen auch Sean Cronin, Sänger der Marionettes und damals Poser par excellence, überraschen z.B. stellenweise durch historisch fundiertes Wissen, aber mein persönlicher Lichtblick ist der Friseur Simon Forbes, der in meinen Augen die realistischste und entspannteste Haltung einnimmt, dabei aber auch mit der größten Ahnung und Ernsthaftigkeit auffällt.

Lange Rede, kurzer Sinn – macht euch ein eigenes Urteil über diese dunkelbunte Zeit. Wer des Englischen nicht so mächtig ist, der mag einfach unter dem Video mein deutsches Transkript lesen (sei aber gewarnt, dass besonders der Herr Cronin teils mehr als unverständlich war und ich manche großen Fragezeichen einfach versucht habe nach bestem Wissen und Gewissen auszubügeln).

Gothic – Eine BBC World Service Radiodokumentation zu Gothic-Rock und Kultur 1987

Chris Nicholson erkundet Musik, Kleidung und Lifestyle der Gothics. Donnerstag Nacht in der Londoner Innenstadt, halb eins, und der führende Gothic-Club der Stadt – das Kit Kat – erwacht gerade erst. Im Kit Kat ist es sehr dunkel und sehr sehr laut. Das mag auf viele Nachtclubs zutreffen, doch die Leute im Kit Kat sind nach jedem nur erdenklichen Standard extrem gekleidet. Die dominierende Farbe ist schwarz – schwarzes Satin, schwarzes Gummi, schwarzes Haar. Männer wie Frauen tragen Make-up, sie haben weiß-geschminkte Gesichter, dunklen Lidschatten, purpurnen Lippenstift. Der Effekt ist düster und glamourös. Tod, Sex und Schönheit vereinen sich im Gothic-Look.

Gast: „Ich versuche so sehr ich kann, daraus einen Lebensstil zu machen. Ich laufe meistens so gekleidet herum. Ich meine: Gothic ist nur ein Style, sich einfach rausputzen und unsere Perücken aufsetzen und sowas. Wir versuchen, wie Dracula auszusehen.

Der Begriff Gothic 1 wurde ursprünglich benutzt um einen Stil der Kirchenarchitektur im mittelalterlichen Europa zu beschreiben, doch im späten 18. Jahrhundert verband man damit Romantik und gänsehauterregende Mysterien mit Geistern, Werwölfen und anderen abscheulichen Erscheinungen. Doch im heutigen Großbritannien ziehen die meisten Gothics (oder Goths, wie sie meist genannt werden) ihre Inspiration größtenteils aus den Horrorfilmen der Hammer-Studios aus den 1930er und -40er Jahren: Frankenstein, Dracula.

Der 22 Jahre alte Sean Cronin aus West-London gestaltet seinen Kleidungsstil tatsächlich nach Graf Dracula. Sein normales Outfit beinhaltet ein Schnürhemd und einen schwarzen Gummi-Gehrock, sein Kopf ist größtenteils rasiert, bis auf einen Samurai-Knoten, und er trägt ein Paar Reißzähne – stylt sich als Gentleman-Vampir. Er ist auch der Sänger einer Gothic-Rock Band namens „The Screaming Marionettes.

Sean Cronin: „Eines unserer Lieder, Screaming Master, ist fast wie ein Gedicht. Der Refrain lautet:

I am the screaming master
I scream louder, I scream faster
I scream laced with Belladonna
No hero can save you or set you free
I’m affraid, my dear, you belong to me

So in diese Richtung – ziemlich gespenstisch, ziemlich gruselig, doch die Melodie ist so lieblich, dass man eine derartige Message nicht dahinter vermuten würde.

Simon Forbes ist der Gründer von Antenna, Londons Top-Friseur für Goths. Er hat keine Zweifel, dass Gothic seinen Ursprung vor mehr als einem Jahrzehnt in der Punk-Subkultur hat.

Simon Forbes: „Ich denke es hat alles eigentlich mit der Punk-Bewegung 1976 angefangen – das war die Wurzel. Es waren diese Leute, diese Kids, die ihren Style und ihr Image änderten, aber dabei nicht die Wirkung verlieren wollten, die sie mit ihrem Punk-Image erzielt hatten. Sie wollten sich also zu etwas verändern, das völlig anders ist, aber gleichzeitig eine gewisse Boshaftigkeit 2 bewahrt (wenn man so will), von der sie dachten, dass das Gothic-Image sie bieten würde.

Nicholson: „Ist Gothic heute völlig vom Punk losgelöst?

Simon Forbes: „Ja, völlig losgelöst, ja.

Auch wenn sich Gothic aus dem Punk entwickelt hat, so ist es doch zu etwas völlig Anderem geworden. Die Punks von ’76 und ’77 stammten aus der Arbeiterschicht und waren wütend. Goths sind mehr wie die Hippies der 60er: Eher Mittelschicht, friedlicher, relaxter. Sie haben zwar keine eigenständige Philosophie, sehen sich aber als künstlerisch und individualistisch. Sean sagt, dass die meisten von ihnen (im Gegensatz zu den Punks) Jobs haben.

Sean Cronin: „Neben der Band habe ich noch ein eigenes Mode-Unternehmen. Wir machen unsere eigene Kleidung und so. Viele Leute gehen sehr sehr kreativ mit Gothic um und machen alle möglichen Dinge. Einige von ihnen arbeiten in ziemlich normalen Jobs und bewahren doch ihr eigenes Image. Manche von ihnen machen ihre eigene Kleidung, gründen eine Band oder machen etwas mit Theater oder so. Ich denke, solche Leute sind oft bei weitem kreativer. Es macht viel mehr Spaß, Leute zu sehen, die sich aufstylen und eine gute Zeit damit haben, einfach so herumzulaufen, ohne grauen Tweed und sowas – weißt Du was ich meine? Bringt einfach mehr Farbe ins Leben, weißt Du?

Nicholson: „Was denken die Leute, wenn Du die Straße runter gehst?

Sean Cronin: „Ich bringe die Leute zum Lachen: Manchmal über mich – manchmal mit mir. Sie wissen, dass immer ein Augenzwinkern dabei ist. Es ist natürlich kein Witz, aber man macht es doch aus Spaß. Ich mag es, den Leuten den Tag zu erhellen, so trübsinnig und niedergeschlagen oder was auch immer sie sind. Das macht Spaß.“

Und warum sollte man sich auch nicht wie ein Vampir kleiden, wenn es das ist, was man tun möchte? Doch während manche Goths es als Spiel betrachten und sich Wochenends aufstylen ist es doch faszinierend, dass die meisten ihr Gothictum mit großem Ernst behandeln. Wie Simon Forbes es ausdrückt: „Es ist kein Posieren, es ist ein Vollzeit-Lebensstil.“

Simon Forbes: „Es ist ganz egal, ob man seit einem Jahr dabei ist oder seit 20. Es heißt alles oder nichts. Und das ist meiner Meinung nach der wichtigste Unterschied zwischen London und… auf jedem Fall Amerika aber auch einigen europäischen Ländern. In London ist es nicht nur oberflächlich. Man kann es nicht einfach wie eine extravagante Ausgehuniform anlegen, ausgehen und einfach Spaß Spaß Spaß haben – darum geht es nicht.

Gothic richtig zu leben beinhaltet auch, sein Zuhause auf eine bestimmte Weise zu gestalten. In West-London gibt es einen Laden namens „Artificial Eye“, wo Goths Accessoires wie etwa menschliche Totenköpfe kaufen können. Die Besitzerin, Flea, die selbst eine Goth ist, bot mir folgende Auswahl an:

Flea: „Wir haben da einen der besten aus Gips aus Paris. Einer besteht nur aus dem oberen Teil des Schädels ohne Unterkiefer und der andere ist mit Unterkiefer und einem Latex-Überzug auf dem oberen Teil. Und dann haben wir noch die mit einem oder zwei Glasaugen.

Nicholson: „Sie haben auch Haare?

Flea: „Ja, Kunsthaar, das ist kein echtes.

Nicholson: „Warum sollte jemand sowas kaufen wollen?

Flea: „Um ihre Wohnungen zu dekorieren. Macht das Zuhause ein bisschen schöner, heimeliger.

Nicholson: „Hast Du einen in Deiner Wohnung?

Flea: „Ja, habe ich [lacht].“

Sean von den Screaming Marionettes wohnt zur Miete, doch er freut sich darauf, eines Tages ein eigenes Zuhause im Gothic-Stil zu haben.

Sean Cronin: „Es wird nicht ganz schwarz sein, sondern etwas freundlicher. Es wird da viel mehr… also vielleicht einen offenen Kamin und viel weichen Samt und sowas, denn ich stehe auf diesen richtigen Gothic-Look des 18. Jahrhunderts. Ich werde also vielleicht irgendwie eine große Kirche in meinem Wohnzimmer nachempfinden – ich weiß noch nicht genau, ich muss noch das richtige Grundstück finden.

Der Bassist der Screaming Marionettes, Baz, lebt den Gothic-Lebensstil bereits voll aus. Er hat eine Katze um sie auf der Schulter zu tragen und trägt sein Haar über sein Gesicht, da er (wie er sagt) eine Aversion gegen Tageslicht hat, wie ein Vampir. In seinem Zuhause hat er bis vor kurzem einige Ratten gehalten.

Baz Downes: „Ich habe noch eine Ratte, ein sehr süßes kleines Ding.

Nicholson: „Hältst Du Deine Ratten in einem Käfig?

Baz Downes: „Nein. Nein, ich mag es nicht, irgendwas in Käfige zu sperren. Ich lasse sie einfach in der Wohnung herumlaufen. Es ist absolut in Ordnung so, an einigen Stellen ist es etwas angenagt.

Nicholson: „Haben Gothics manchmal tote Tiere, tote Vögel in ihrer Wohnung?

Baz Downes: „Ja. Ich persönlich mag es nicht, etwas verrotten zu lassen. Und tote Tiere neigen nunmal dazu zu verrotten, also… [lacht]. Ich weiß aber, dass manche Leute aus irgendwelchen Gründen Sammlungen von toten Tieren haben. Ich bräuchte das selbst nicht.

Nicholson: „Tragen sie die?

Baz Downes: „Ich habe schon Leute mit toten Dingen rumlaufen sehen… verschiedenes Zeug, interessante Sachen. Aber das ist sicherlich eine Modeerscheinung, es ist für sie nur eine Art Schmuck.

Es mag nur Schmuck sein, doch für viele Leute schmeckt das Tragen von toten Tieren verdächtig nach Satanismus. In seiner Hammer-Horror-Tradition ist Gothic sicherlich eng mit schwarzer Magie verknüpft, und Flea zufolge versuchen sich nicht wenige Goths an den schwarzen Künsten.

Flea: „Es gibt da eine recht starke Strömung – ich würde nicht sagen, dass es alle sind. Ich interessiere mich nicht für schwarze Magie. Aber einige Leute beschäftigen sich damit – manche sind Hexen oder haben sich okkulten Gesellschaften angeschlossen. Ich würde sagen, sowas findet man recht häufig.

Ich konnte keinen Goth dazu bringen, sich auf Tonband zu schwarzer Magie zu bekennen, doch das Tragen von schwarzen Kruzifixen ist auf jeden Fall recht verbreitet. Doch ist die Verbindung zum Satanismus wirklich so ernst zu nehmen? Simon Forbes dazu:

Forbes: „Nein, nicht wirklich, das glaube ich nicht. Ich denke, dass es da vielleicht eine gewisse Verbindung hinsichtlich Spiritualität gibt – auf die selbe Weise, wie sich die Hippie-Bewegung mit Zen verbunden gefühlt hat.

Besonders interessant an Gothic ist momentan, dass es Anzeichen dafür gibt, dass es sich selbst exportiert. Flea hat in ihrem Laden Kunden aus West-Deutschland, Spanien, Italien und sogar von weiter weg aus Australien, den Vereinigten Staaten und Japan.

Flea: „Ich würde sagen, dass es schon seit vier Jahren unter der Oberfläche gebrodelt hat, und jetzt fängt es wirklich an, den Durchbruch zu schaffen. Mehr Leute, die gothic sind werden wohlhabender, einflussreicher. Es hat sich wirklich herumgesprochen. Vorher war es nur eine Underground-Sache, aber jetzt ist es erwachsen. Mehr Leute sind wirklich erwachsen geworden. Es ist eigentlich sowas wie positiv-denkender Punk.

Dieser Beitrag wurde 2011 bereits in den ehemaligen Otranto-Archiven veröffentlicht und wurde nur marginal überarbeitet und wieder veröffentlicht.

Bild: Photo by Abe B. Ryokan on Unsplash

Einzelnachweise

  1. der Deutsche sollte in diesem Fall natürlich eher gotisch lesen, doch im Englischen sind die Begriffe natürlich identisch[]
  2. im Original „vicious edge“… wem eine bessere Übersetzung einfällt, darf sich gern melden…[]
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