1986: Endstation Schlesien – Eine Reise mit der Berliner U-Bahn Linie 1

Berlin, 1986. In Ost-Berlin weckt der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow Hoffnungen zu einer Reform, während im Westteil der Stadt ein Bombenanschlag auf den Club „La Belle“ viele Hoffnungen auf Frieden zunichtemacht. Als dann in Tschernobyl der Reaktor explodiert, sehen viele das Ende der Menschheit in bedrohlicher Nähe.

Die Berliner U-Bahn Linie 1 dient einer Dokumentation von Peter Adler als Bühne für die Geschichten der Menschen aus dieser Zeit, die das Verkehrsmittel für ihre täglichen Routinen benutzen. Ein mobiles Vakuum, dass das Leben an den Bahnhöfen entlang der Ost-West Route aufsaugt, um es an anderen Stellen wieder auszuspucken. Dazwischen finden sich Momentaufnahmen aus einem multikulturellen Schmelztiegel, der durch seine erzwungene Teilung ständig droht, überzukochen. Trotzdem zieht es die Menschen nach Berlin. Sie wollen sich verwirklichen, sich entfalten, aufblühen. Sie suchen Identifikation, Arbeit, Inspiration oder Liebe.

Eine möglicherweise langweilige Fahrt mit der Berliner U-Bahn vor 33 Jahren ist für einen Nostalgiker wie mich pures Gold. Etwas Lehrreiches können wir auch noch mitnehmen, wenn man so möchte: ein guter Teil der Menschheit ist in wirklich jedem Jahrzehnt zum Kotzen.

Und ja, das Video ist stellenweise langatmig. Kuriose und schöne Dinge gibt es zum Beispiel bei 13:40 oder bei 1:00:54 zu sehen. „Wir gucken Gräber an und wenn da ’ne Gruft ist, steigen wir natürlich rein und da wird dann irgendwie ein bisschen getrauert.“ Verdammte Wessi-Poser! :D

(Danke an Markus!)

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das H.Gen
das H.Gen(@hagen)
Vor 4 Jahre

Jaja, geht nix über eine gute Hexenbeschwörung bei Nacht :-D

Tanzfledermaus
Tanzfledermaus (@guest_58529)
Vor 4 Jahre

Na, die Gruftine am Schluss wirkt aber ein bisschen blauäugig bzw. treu-doof: wildfremden Kameraleuten zu erzählen, dass sie von zu Hause abgehauen ist, ihren Eltern eine teure Uhr geklaut hat, um sie vor allem für Klamotten zu verticken, und dann auch noch von nächtlichen Séancen auf Friedhöfen zu berichten… und wenn’s nicht mehr läuft, geht sie zurück zu den Eltern (die sie sicher mit „offenen Armen“ empfangen werden nachdem sie sie beklaut hat) – au Backe.
Wenn’s jemand zu Hause nicht mehr aushält, ist das natürlich tragisch, aber hier frage ich mich doch, ob Madame mit ihrer Einstellung sich nicht letztlich selbst eine Grube gegraben hat.

Markus
Markus (@guest_58552)
Vor 4 Jahre

Ich war im Winter 1986 im Rahmen einer Klassenfahrt in Westberlin und kann sagen, daß der Bericht von Peter Adler absolut authentisch ist. Langatmig ist diese Doku vielleicht, wenn man prioritär Wert auf Erscheinen und Anblick Schwarzer legt; in erster Linie ist diese Doku für mich eine sehr realistische, zeitgenössiche Momentaufnahme in für die 80er Jahre herausragendender Filmqualität. Bemerkenswert finde ich ansonsten die damalige und heute verschwundene Gelassenheit vieler im Film auftauchenden Protagonisten, egal, ob Putzkolonne auf dem Weg zur Arbeit, schnorrendes Punk-Pärchen oder erwischte Schwarzfahrerin. Wie schon im Film bezeichnet, war auch für uns Wessi-Touristen die Linie 1 der Shuttle in völlig unbekanntes Terrain dieses Mythos von Weltstadt. Ich erinnere, daß man damals auf dem Kudamm in ganz gewöhnlichen Schuhgeschäften Pikes in jeglicher Ausführung kaufen konnte, daß mich ein Ostdeutscher Grenzer am Übergang Friedrichstraße aufgrund meines Aussehens nicht zum schulischen Pflichtbesuch mit Zwangsumtausch von 25,– D-Mark in den Ostteil einreisen ließ und an Frauke, die Waverin aus Stuttgart, ebenfalls mit ihrer Schulklasse in Berlin, die das gleiche Problem hatte und die den Tag mit mir in Kreuzberg verbummelte. Im Erdgeschoß des Europa-Centers war ein Schallplattenshop; der Inhaber kramte nach unserem Eintritt unmittelbar in einigen dicken Fotoalben, um uns nicht ohne Stolz Konzertfotos eines Berlin-Gigs der Sisters of Mercy zu präsentieren. Die ganze Stadt war irgendwie Underground und sollte mit Mauerfall und Wiedervereinigung diese beklemmende Atmosphäre der zwangsweise geteilten Stadt mit einem Hauch von Postapokalypse vollkommen verlieren. Vor allem damals im Winter, bei grauem Himmel und Eis und Schnee konnte ich verstehen, warum Bowie sich von Westberlin zu seinem düster-poetischen „Heroes“ inspiriert fühlte. Fasziniert war ich von Berlin und seiner beinahe schon romantischen Zwanglosigkeit schon nach Erscheinen von Roman und Film „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“.

Blauäugig und naiv finde ich übrigens die Report erstattende „Gruftine“ im Beitrag keineswegs; eine ganze Menge minderjährige, westdeutsche Jugendliche ließen sich damals sorglos und abenteuerlustig vom Mythos Westberlin locken, sind von Zuhause ausgerissen und im Untergrund der Stadt verschwunden. Es ging dabei wohl vor allem um das von Berlin vermittelte Lebensgefühl, um die aufregende Teilhabe am Kultstatus dieser Stadt, die wie keine andere deutsche Stadt Subkultur und Szene nicht nur beherbergte, sondern gestaltete und hervorbrachte. Bekannte Größen wie „Ideal“, Martin Gore, Nick Cave lebten dort und nicht wenige männliche Jugendliche aus dem Westen wurden Wahlberliner, weil hier nicht die westdeutsche Wehrpflicht drohte. Mit dem Wissen von heute wünschte ich mir beinahe, Zeitreisen wären möglich – um es genau so zu machen und entscheidende Weichen anders zu stellen. Nicht zuletzt war in Berlin in den 1970er und 80er Jahren praktisch alles an Drogen zu bekommen, auch das mag vielfacher Grund für die Anziehungskraft und Faszination der Stadt gewesen sein. Dort passierte live und in Farbe jeden Tag das, was unsere westdeutschen Eltern damals von uns Jugendlichen so gut als möglich fern zu halten suchten: Knallhartes, abenteuerliches, bittersüßes Leben in der Großstadt, wenn nicht sogar in DER Großstadt – mit all seinen Konsequenzen. Es wundert mich nicht, wenn sich da gerade Punks, Waver und Grufties versprachen, mehr zuhause zu sein und freier leben zu können als in irgendeiner piefigen westdeutschen Kleinstadt, in der man sich noch Mitte der 80er Jahre nicht selten für sein Outfit rechtfertigen oder gar zusammenschlagen lassen mußte.
Danke für den Upload, Robert.

Sylvia_Plath
Sylvia_Plath (@guest_58553)
Vor 4 Jahre

@Markus: Ich habe deinen Kommentar gerne gelesen. Kannst du als Zeitzeuge noch mehr über das geteilte Berlin der 80er (und vielleicht sogar der 90er, falls du dabei warst) berichten? Ich habe mir von Bekannten sagen lassen, Berlin sei nach der Wiedervereinigung ein idealer Ort zum Feiern gewesen. Kannst du das bestätigen?
Grüße, Anna

Tanzfledermaus
Tanzfledermaus (@guest_58554)
Vor 4 Jahre

@ Sylvia Plath:
Ich habe vor einigen Jahren auf Spontis mal einen Bericht über die frühen bis späten 90er in Berlin verfasst: https://www.spontis.de/schwarze-szene/dunkle-vergangenheit/gothic-berlin-teil-2-zurueck-zur-hauptstadt/
Um die Szene der 80er aktiv miterlebt zu haben, bin ich leider zu jung (Jahrgang ’74) und ich habe, obwohl ich gebürtige Berlinerin bin, auch nicht so viel vom innenstädtischen Treiben mitbekommen, weil ich zum einen am Stadtrand aufwuchs und zum anderen von 1987-1992 nicht in Berlin lebte, aber zumindest war ich in jenen Jahren in den Ferien öfter hier, leider ohne das Nachtleben kennen lernen zu dürfen (mein Vater achtete penibel auf die Jugendschutzgesetze, erst 1991 durfte ich ins Linientreu). Markus kann bestimmt mehr berichten, aber vielleicht ist mein Beitrag (Siehe Link) ja auch brauchbar.

Graphiel
Graphiel(@michael)
Vor 4 Jahre

@Markus
Auch ich möchte dir für deinen lesenswerten Kommentar danken.

Im übrigen fand auch ich die Reportage alles andere als langatmig. Sie hat für mich wunderbar einen unverfälschten Blick in den damaligen örtlichen Zeitgeist gewährt. Etwas, was ich bei heutigen Reportagen und Berichten manchmal vermisse, da ich mich dort dann des Eindruckes nicht erwehren kann, dass das verwendete Film- und Tonmaterial nur dazu diente, um eine bereits vordefinierte Geschichte zu untermauern.

Auch von mir nochmal ein großes Dankeschön für den upload. Diese Reportage wäre sonst komplett an mir vorbei gegangen.

Tanzfledermaus
Tanzfledermaus (@guest_58556)
Vor 4 Jahre

Was ich an älteren Aufnahmen – sofern sie nicht neu geschnitten wurden – auch als wohltuend gegenüber neuen Dokus empfinde ist, dass man nicht diese neumodischen furchtbar schnellen Schnittfolgen hat, bei denen man kaum was erkennen kann, weil dann gleich schon wieder die nächste Szene gezeigt wird. Ich möchte das was ich sehe auch eingehender betrachten können anstatt im Sekunden(bruchteil)takt neue Szenen eingeblendet zu bekommen.

Sylvia_Plath
Sylvia_Plath (@guest_58557)
Vor 4 Jahre

@Tanzfledermaus: Deinen dreiteiligen Bericht kenne ich schon, aber nochmals vielen Dank auf das Hinweisen. :) Ich lese diesen Bericht manchmal, wenn ich mich abends zum Tanzengehen fertig mache. Und nebenbei höre ich auch noch Musik.

Sylvia_Plath
Sylvia_Plath (@guest_58572)
Vor 4 Jahre

@Robert: Naja, ich lese die Artikel nicht während des Ankleidens oder mich Schminkens, aber gerne dazwischen und danach, wenn noch ein Weilchen Zeit zum Innehalten bleibt. ;-)

Georg
Georg (@guest_58585)
Vor 4 Jahre

Genau so war es. 1984 mit vier Mann nach West-Berlin gereist. Achzehn Jahre jung, jetzt aber los. Ein unvergessliches drei Tage Abenteuer.
Als Grufti nach Ost-Berlin? Warum nicht. Drei sind gleich durch die Schleuse gekommen, nur einer nicht. Ich. Eine halbe Stunde, kleiner Raum und nichts passiert. Dann mit Schwung eine Luke sich öffnet. Ein böser Blick „Gehen Sie weiter“. Andere Tür öffnet sich. Entlich ein Devisenaustausch, oh Blechgeld. Jetzt bin ich in Ost-Berlin mit meinen Kumpels. Nicht gut. Stasiverfolgung. Wollten gerne das Blechgeld los werden. Keine Chance. Mit dieser Hintergrundleibwache im Rücken, kein Einlass egal wo.
Zurück in West-Berlin, ein Aufatmen. Ich schmunzelne mit einem Lächeln im Gesicht, schaue im dunkelm U-Bahnschacht in Richtung Osten, nehme das Blechgeld und warf es weit weg von mir.
Komme wieder. Hat lange gedauert. 2013 diesmal ohne Blechgeld. Bin alt geworden, immer noch ein lächeln im Gesicht.

Georg
Georg (@guest_58594)
Vor 4 Jahre

@Robert : Denke es war für die meisten zu teuer. Technische Gerätschaften mussten immer weiter hergestellt werden.

So. Du möchest gerne noch mehr über uns lesen, aus dieser Zeit!
Verrückt wie es klingt. Kurzgeschichte.
Überschrift: 1984 Einreise von BRD nach West-Berlin über die Transitautobahn.
VW Golf I Diesel (50 PS). Gepäck wenig. Musik für die Überfahrt ein Kassettenrekorder und im Mantel ein Sony Walkmann. Über uns: ( keine Namen, nur die Anfangsbuchstaben )
R: C64 mit Floppy Disk Liebhaber. Kassette: Möterhead, AC/DC. Raucher (Zigaretten).
J: Edgar Allan Poe Leser. Kassette: U2, Duran Duran. Gelegenheitsraucher (Alkohleinfluss).
M: Blechbläser. Kassette: Kirchen- und Domglocken. Nichtraucher.
und Ich: Grufti. Kassette: Post-Punk. Und jetzt kommt´s: Pfeifenraucher. Sich mal vorstellen. Langer schwarzer Mantel, Stiefeln und geschminkt.
Autobahn Hannover / Potsdam. Grenzstelle Marienborn. Stau. Kontrolle langatmig. Gefragt wurde über diese Zigarettenschachtelnansammlung. R: „Ich bin Kettenraucher.“ Kofferraum öffnen. Wenig Gepäck. Stempel.
Transitautobahn Betonplatten. Rhythmische nervige Klänge. Diesel laut. Magdeburg kein Ende. Zur Beruhigung vieleicht Kirchenglocken? Kassette gespielt. Blickkontakt.
R:“Moment!“. Kassettenwechsel. Alle sangen lautstark, AC/DC `Highway to Hell´. Endlich Ortsschild Berlin.

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