„Ghouls waren die bösen Geister im alten Arabien, deren Vorliebe es war, Leichen zu fressen und Menschen zu erschrecken. Diese Dämonen waren so heidnisch, so böse, das Prophet Mohammed beschloss, sie aus seinem Koran zu verbannen.“ Mittwoch Nacht, wenn der brave Bürger das Londoner Westend längst verlassen hat, tauchen sie auf. Finstere Gestalten, die Ghouls genannt werden, belagern den Eingang zum Batcave, dem Tempel der einer kultisch-mystischen Jugendbewegung der frühen 80er Jahre. Was sich in diesem Londoner Club wächst, sind die Wurzeln unserer Szene. Den Fernsehbericht, auf den mich Andreas in einer E-Mail aufmerksam machte, darf man schon als unglaublich bezeichnen. Unglaublich gut.
Vor ziemlich genau 50 Jahren wurde die Ursprungssendung des heutigen Formats ttt – titel, thesen, temperamente, der Kulturweltspiegel, aus der Taufe gehoben. Ziel der Sendung war die Darstellung kultureller Strömungen innerhalb unserer Gesellschaft. Mal abseitig, mal bizarr, mal faszinierend. Und genau so hat man die Goths im London der 80er Jahre verstanden, die in „Londons heißester Discothek“, dem Batcave darauf warten, eingelassen zu werden. Neben den ziemlich einmaligen Aufnahmen aus den frühen Jahren des Clubs, darf auch die Art und Weise der Darstellung als legendär bezeichnet werden. Die ersten ernsthaften Bericht über die Szene kenne ich erst aus den späten 80ern. Dieses 8-minütige Video erfasst die Szene besser, als die meisten späteren Berichte und Artikel, die nicht selten von blinden Satanismus-Vorwürfen und anderen hanebüchenen Klischees durchtränkt waren.
„In London nun feiern die Ghouls fröhliche Wiederauferstehung. Einmal die Woche, Mittwoch Nacht.“ Der im Video zu sehende Nachtclub „Foubert’s“ am gleichnamigen Fourbert’s Place war nur eine Zwischenstation, denn die Popularität, die der Club Ende 1982 erreicht hatte, zwang die Betreiber zu häufigen Umzügen innerhalb Londons. Das hatten die Ghouls auch der Hausband, den Specimen, zu verdanken, die durch ein Tournee und eine Club-Eigene Compilation („Batcave: Young Limbs and Numb Hymns“) für Aufmerksamkeit sorgte.
„Der nächtliche Tanzabend der Ghoulischen Subkultur beginnt mit herkömmlicher Disko-Musik, erst in fortgerückter Stunde werden die Specimen, die Hausband im Batcave, ihren satanischen Gothic-Rock Live zelebrieren.“ Offensichtlich wurde das auch für spätere Vorwürfe zum Anlass genommen, denn man hat die Band, die in damaligen Ohren durchaus „teuflisch“ geklungen haben dürfte, gleich als Blaupause für ihre Anhänger genommen. Klar, wer „teuflische“ Musik hörte, musste Satanist sein. Doch der Bericht ist lange nicht so oberflächlich, wie man ihn an dieser Wahrnehmung aufhängen könnte:
„Die Ghouls, die Mittwochnacht aus ihren Löchern kommen, sehen sich als eine Geheimgesellschaft, die kein modisches Aufsehen sucht, sondern mit ihrem bizarren Narzismus, ihrer schwankenden, sexuellen Zugehörigkeit allein gelassen sein will.“
Dieser treffende Einschätzung kann man eigentlich nichts hinzufügen, vielleicht sollte man das als Leitmotiv in sämtliche Abhandlungen stellen und für sich sprechen lassen. Überhaupt überzeugt der Bericht durch seine lustvolle und wortreiche Moderation, die irgendwo zwischen unterschwelligem Humor und respektvollem Anerkennen stets interessant bleibt.
„Die Bar des Batcave, die aussieht wie jede andere im Westend, wirkt wie ein Fremdkörper in der sanft-satanischen Dämonenwelt dieser Mittwochs-Maskerade, zu der sich der Stamm-Ghoul Ian Jones wöchentlich einfindet. Eine tätowierte Fledermaus weißt diesen vermutlich weiblich Ghoul als zünftiges Mitglieder des verrockt-verrückten Dracula-Clubs aus.“
Ein erstaunter Schlusskommentar
Nicht nur eine glucksig-überschwängliche Freude durchströmt mich beim Anblick dieser alten Bilder, sondern auch eine wohlig-warme Erkenntnis, die ich schon lange unter den Teppich der oberflächlichen, aktuellen Berichterstattung vermutet hatte. Die Erkenntnis, dass uns dann doch mehr eint, als ein gemeinsamer Musikgeschmack: „Diese Mittwochs-Dämonin meint, in 3-4 Wochen werde sie die Höhle verlassen und sich einen neuen Rastplatz suchen. Sie will im Untergrund bleiben, ihre Privatsphäre erhalten. Es mag wunderlich klingen, aber sie will das kultisch-geheime der Bewegung bewahren.“
Und das ist dann auch der große Unterschied zum „Kostümfest“ oder dem „Karneval“, mit dem die Szene seit einiger Zeit verglichen wird und für dessen Darstellung willige Motive finster in die Kamera schauen. Wir wollen unsere Narzissmus ausleben, die Vielfältigkeit des Daseins zelebrieren und losgelöst von jeglichen gesellschaftlichen Konventionen unter unseresgleichen feiern. Daran kann man eben nicht mit einem anderen Outfit partizipieren, sondern auch durch eine grundlegend andere Sichtweise auf den Menschen und seine Erscheinungsform als Individuum.
Vielleicht klingt das jetzt zu hochtrabend, aber genauso sehe ich das. Ich lasse euch mit diesen tollen und sehr seltenen Aufnahmen allein und bin gespannt, wieviel „Ghoul“ in Euch schlummert. Vielen Dank nochmal an Andreas für diesen tollen Hinweis.
Was mir an dem Video nicht gefällt, ist der ständige Hinweis auf angeblich satanisches treiben. Und die Komponente der sexuellen Variabilität dürfte auch nur einen Teil der Besucher betroffen haben.
Ich glaube, da hast du den Beitrag missverstanden. (Oder ich) Ich sehe zwar durchaus Hinweise, aber die sollen nicht implizieren, wir wären Satanisten. Im Gegenteil. Ich sehe eine sehr angenehme und für dieses Zeit vorbildliche Herangehensweise. „Satanischer Gothic Rock“ ist dann meiner Ansicht nach auch eher auf die Art der musikalischen Darbietung gemünzt und nicht auf die vermeintlichen Lebensweisen der Musiker.
Die sexuelle Variabilität war aber meine Ansicht nach damals angesagt, wenn wir die Ausläufer der New-Romantics (BlitzKids) mit einbeziehen. Damals haben sich diese Szene in London wild vermischt. Punks, New Waver, New Romantics und eben Ghouls oder Gruftis. Diese sexuelle Variabilität war (ist) in London nunmal wichtiger gewesen als anderswo.
Und irgendwie finde ich genau diese Passage sehr wichtig. Denn etwas „neues“ sind die Geschlechteverwischenden Kreaturen der Nacht nun wirklich nicht. Daher finde ich es auch nicht weiter schlimm, dass diese Begebenheit hier besonders herausgestellt wird. Und für 1983 – ich erwähne es gerne nochmal – finde ich das schon fast sensationell :)
Auf mich wirkt der Beitrag auch erstaunlich objektiv. Die Wortwahl empfinde ich nicht wertend sondern als einen Versuch, dem außenstehenden Betrachter anschaulich zu beschreiben, was sonst im Verborgenen liegt. Wunderbare Gedanken: „…kein modisches Aufsehen sucht“, „im Untergrund bleiben“, „kultisch-geheime Bewegung“.
Das sehe ich genau wie du. Obwohl der Szene im Beitrag auch vorgeworfen wird, sich darzustellen „Was dem einen der Jaguar sind dem anderen seine Kleidung.“ Dennoch, das Batcave ist gewandert und hat sich versteckt. Die Tatsache, dass heute einige Veranstaltungen eine große mediale Aufmerksamkeit genießen und für jedermann zugänglich sind, erhöht natürlich den Anteil der „Ghouls für eine Nacht“. Dennoch finden sind auch heute noch „Höhlen“, die irgendwie „kultisch und geheim“ wirken, weil man sie von der Oberfläche aus nicht sehen kann.
Ich finde den Beitrag sehr spannend! Nicht unbedingt wegen seiner Inhalte in Gänze, auch nicht wegen der dargestellten Menschen, sondern eher wegen des Diskussionsanstoßes. Die Gegensätzlichkeit zwischen ausgelebten bzw. dargestellten Narzissmus und geheimem Untergrundtreiben finde ich sehr reizvoll! Das geht mir heute tatsächlich nicht anders als den Ghouls von damals. Erst kürzlich war ich zum Tanzen aus und auf einmal kam in das schwarze Treiben eine Schar blonder Püppchen, die einen 30. Geburtstag feierten. Nicht nur, dass dieses Thema breit für alle sichtbar mit einer rosafarbenen Schärpe zu Schau gestellt wurde. Nein, die Mädchen standen die ganze Zeit auf der (vollen) Tanzfläche und blockierten diese gelichzeitig für die ich sag mal ernsthaften Tänzerinnen und Tänzer. Sie waren zwar schwarz gekleidet aber völlig, naja unangepasst. Es war sehr störend. Grundsätzlich finde ich es immer wieder unangenehm, wenn Stinos in einer Gruppe die Feten „unterwandern“. ich fühle mich dann einfach unwohl und andere empfinden auch so. Zurück zum Kern: Narzissmus unter seines Gleichen ja, aber in den eigenen Gefilden für andere wie eine Kuriosität aus dem Zirkus der Absurditäten dargestellt zu werden- nein, Danke!
Le_lys_noire : Grundsätzlich würde ich Dir recht geben, hinsichtlich der „Stinos“ auf einer solchen Party, ich scheue mich aber davor, hier die gleichen gesellschaftlichen Regeln anzuwenden, gegen die wir uns zu stellen versuchen. Auch mich stören manche Gäste auf dunklen Partys und je größer und populärer eine solche Party ist, umso mehr unangenehmes Volk treibt sich dort herum. Dagegen steht, dass der Erfolg dieser Partys für eine Konstanz sorgt, die sonst kaum noch zu finden ist in der schwarzen Szene.
Darüber hinaus würde ich den Begriff „Stino“ auch eher Verhaltensbedingt anwenden. Die Szene ist durchsetzt von unzähligen Stilen und Spielarten, dass man nach dem Äußeren kaum noch gehen kann – was ich persönlich manchmal ein wenig anstrengend finde, aber nicht weiter schlimm.
Auf der Tanzfläche rumstehen, besoffen durch die Gegend torkeln, lautstark mitgröhlen, antanzen, anbaggern, angraben oder einfach daneben benehmen sind für mich Dinge, die „unangenehme“ Menschen tun. Die gibt es aber auch innerhalb der Subkulturen ;) Für mich ist das „ungeschriebene Gesetz“ der Zurückhaltung, der Höflichkeit und der Achtsamkeit innerhalb der Szene sehr wichtig.
Auf guten schwarzen Partys wird auch getanzt oder gefeiert. Aber hier brauchst du keine Aufpasser, keine Rausschmeißer, siehst kaum unangenhme Menschen der aufdringlichen Art und getanz wird für sich allein. Das finde ich schön ;)